Vom Befehlshaber zum Servant Lead

Marcus Bindseil
elbstack
Published in
5 min readJul 15, 2020

Am 01.10.1990 trat ich als Offizieranwärter in der Panzergrenadierbrigade 16 Herzogtum Lauenburg meinen Dienst an. Ich sollte die nächsten 4 Jahre als Soldat dienen und mein Land gegen die mögliche Gefahr aus dem Osten verteidigen (die Grenzöffnung war später). Der Auftrag der Bundeswehr war seinerzeit noch ein anderer. Reine Landesverteidigung. So durchlief ich in den nächsten Monaten und Jahren die typischen Ausbildungen zum Panzerfahrer, Richtschütze, Truppführer, Kommandant eines Schützenpanzers, Schießlehrer und Zugführer. Eine intensive Ausbildung die es ermöglichte, mit 21 Jahren als Stellvertreter des Kompaniechefs vor 120 Soldaten im Alter von 18–60 Jahren zu stehen und ihnen Befehle zu erteilen. Rückblickend betrachtet: krass!

Quelle: Panzergrenadierbrigade 16, mittlerweile aufgelöst

Ich lernte eine ganze Menge während meiner Dienstzeit:

  • Disziplin — klar, wenn nicht in der Armee, wo dann?
  • Menschen einzuschätzen — ich bin in 4 Jahren mit über 1000 Kameraden mehr oder weniger durch Dick und Dünn gegangen
  • “Wenn Scheiße, dann Scheiße mit Schwung” — der Leitsatz eines unerfahrenen Offiziers
  • “Wenn Du denkst es geht nicht mehr, geht es noch verdammt weit!”- der Motivationsversuch eines Ausbilders in der Einzelkämpfervorbereitung beim 60km Nachtmarsch
  • früh Verantwortung zu übernehmen- als Zugführer hatte ich Befehlsgewalt und Verantwortung für ca. 30 Mann und 4 Schützenpanzer (das waren ein paar Millionen im Gesamtwert)
  • unterschiedliche Führungskonzepte — vom klassischen “Führen durch Dienstgrad” über “Führen durch angeborene Autorität” zum “Führen durch Vorbild”
  • und natürlich ein paar unvergessliche Erinnerungen an Menschen, Übungsplatzaufenthalte, harte Ausbildung und trotzdem viel Spaß, die man nur in so einem Verein mit derartiger Kameradschaft erhalten kann

Das Bild eines Offiziers war immer klar: Eine clevere, geschickt agierende Führungspersönlichkeit, die alles ein bisschen kann (aber nichts wirklich richtig) und der es verstehen muß, seine ihm fachlich überlegenen Kameraden effektiv einzusetzen um seine Befehle zu befolgen und dabei immer so kompetent und sicher in allem zu wirken.

Ein sehr anspruchsvolles Profil, dass für junge Männer von 19–22 Jahren wie mich damals schon ein hartes Brett waren. Heutzutage würde man es “simulierte angewandte Kompetenzanmaßung” nennen. Aber zum Glück gab es “Leitsätze für Vorgesetzte”, die helfen sollten:

Quelle: Bundeswehr

Cool oder? Wer hätte gedacht, dass es bei der Tradition der Bundeswehr so moderne Führungsansätze gibt?

  • jederzeit ein Vorbild sein (Punkt 3)
  • Angemessenheit der Befehlsgewalt (Punkt 4)
  • Vertrauen (Punkt 5)
  • Partnerschaftliches Führen auf Augenhöhe (Punkt 7)
  • Sharing is Caring (Punkt 8)
  • Transparenz (Punkt 9)
  • Offenheit (Punkt 10)

Guckt man da genauer hin, dann fallen dem vertrauten Lesen gleich viele Parallelen zu modernen Grundsätzen beim Aufbau von “high performance teams” auf, die in der Teamperformance-Pyramide sichtbar sind:

Quelle: Teamworks GmbH

Also ist der Weg von einem Leader bei der Bundeswehr in den 90ern zu einem Servant-Lead in einem modernen Unternehmen der Jetztzeit doch gar nicht so weit. Die Konzepte sind so ziemlich die gleichen, die Art der Umsetzung unterscheidet sich jedoch.

So wie ich damals in Friedenszeiten gedient habe, so funktionieren moderne Führungskonzepte nämlich so lange gut, wie das Unternehmen auch einigermaßen Erfolg hat und man gemeinschaftlich ein Ziel verfolgt. Doch was passiert, wenn es mal mit den Zahlen bergab geht oder so etwas wie eine Corona-Krise aufkommt? Oder wenn es eine militärische Eskalation mit Opfern wie z.B. in Afghanistan gibt? Wie wirkt sich das auf die Führungsebene aus? Vielleicht sollte ich das mal für die Bundeswehr mit meinem ehemaligen Kompaniechef Herrn Hans-Christoph Grohmann besprechen, der in Afghanistan als Kommandeur der Quick Reaction Force stationiert war. Ich hatte damals schon den Eindruck, dass er einen sehr kameradschaftlichen, motivierenden Führungsstil hat.

Ich habe es oft erlebt, dass Firmen sich zwar einer Organisationsform mit dem Konzept der “Familie” (grün nach Laloux) verschrieben haben, im Ernstfall dann aber doch wieder auf orange oder gar rote Strategien besinnen und anfangen, Controlling einzuführen, Entscheidungen durch die Geschäftsführung durchzudrücken (“ich befehle!” “jawohl!”), die das Heft dann doch wieder in die Hand nimmt, weil die selbstverantwortlichen Teams es “nicht geschafft haben” die richtigen Maßnahmen zu treffen.

Die verschiedenen Organisationsformen und Farben nach Laloux:

Quelle: K104

Die Frage ist: Wie bekommt man es als Führungskraft hin, nicht wieder in alte Muster zu verfallen und das hart erarbeitete selbstorganisierte Denken der Teams damit zu ersetzen? Braucht es ggf. situative Organisationsformen je nach Situation am Markt. Oder bekommt man es hin, dass auch die “Familie” in einer Krise schlagkräftig genug ist und die richtigen Maßnahmen trifft?

Die Meinung der Experten ist, dass man in der komplexen Welt (blau nach Niels Pfläging) keine Probleme mit Maßnahmen aus der alten Welt (rot) lösen kann. Da hilft nur Trainieren der Robustheit von Teams und Prozessen. Wie beim Sport: Ein Golfspieler wiederholt seinen Schlag so oft, bis er ihn im Schlaf beherrscht. Egal auf welchem Untergrund, bei welchem Wetter, an welchem Ort und zu welcher Zeit.

Resiliente Teams müssen Ernstfälle demnach auch trainieren. Also auch mal vor unerwarteten Problemen stehen, die mit cleveren Ansätzen gelöst werden müssen ohne gleich das System selbst auf den Prüfstand zu stellen. Eine anspruchsvolle Aufgabe. Nicht umsonst führt die Bundeswehr daher so häufig es geht (und das Budget es hergibt - wir mussten seinerzeit “bumm, bumm” im Wald rufen, weil kein Budget für Übungsmunition da war) Manöver durch. Militärische Aktionen sind auch komplex. Kann man auch alles nicht planen und vorhersagen. Nur immer wieder üben, um Routine zu bekommen und eine gewisse Kaltschnäuzigkeit und Zuversicht zu bekommen. Hier nützt detaillierte Planung, Prozesscontrolling und Informationgathering nur bedingt, wie uns die Millennium Challenge 2002 -eine Militärübung btw.- beeindruckend gezeigt hat.

Millennium Challenge 2002

Das bedeutet allerdings Arbeit. Viel Invest in das Team. Und Zeit! Die Teammitglieder müssen sich wohlfühlen, eine klare Vision und Mission bekommen und alles das, was wir heute aus den “Leitsätzen für Vorgesetzte” bei der Bundeswehr gelernt haben, muss Tag für Tag gelebt werden. In meiner jetzigen Position als COO bei elbstack versuche ich, dem gerecht zu werden. Dafür gestalte ich zusammen mit der Geschäftsführung UND dem gesamten Team entsprechende Prozesse und Strukturen. Unsere Arbeit am System nennen wir elbwork. Sie ist fester Bestandteil und Säule unseren Unternehmens.

I find that COOs tend to be disciplined people by nature. Instil this sense of discipline when overseeing change management.(Jennifer Geary)

Zusammenfassend sei die mutige These aufgestellt, dass sich ein Befehlshaber bei der Armee und ein Servant Lead in einem modernen Unternehmen von den Arbeitsprinzipen kaum unterscheiden. Sie stehen beide vor der Herausforderung, ihre Teams unter allen Umständen zu Höchstleistungen zu motivieren und trainieren, damit sie immer die richtige Antwort auf komplexe Probleme haben.

Ich freue mich über Eure Anregungen oder eigene Erfahrungen.

--

--

Marcus Bindseil
elbstack
Writer for

Agile Professional with experience in creation of living organisations with teams, mindsets and processes to solve complex problems.