„Pop Model“ — Prostituierte oder Traumfrau? Ein Beruf im Wandel der Zeit

Gerlind Hector
Fashion Images the Book
11 min readJul 11, 2018

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Auf ARTE läuft derzeit eine sehenswerte Doku, die den erstaunlichen Imagewandel des Modelberufes beleuchtet: von Bettina über Twiggy bis hin zum Supermodel-Hype mit Cindy, Naomi & Co. Nebenbei wird klar, wie schnell sich Schönheitsideale wandeln können und warum sich eben nicht jede Frau als Topmodel eignet — auch wenn sie sich noch so sehr anstrengt.

(For the English version, please scroll down!)

„Pop Models“ nennt sich die ARTE-Dokumentation, die sich einem merkwürdigen Beruf widmet.

Model sein, ist der einzige Beruf, den man sich nicht aussuchen kann“, findet Ines de la Fressange, Topmodel der 80er Jahre und Ex-Muse von Karl Lagerfeld. Im Klartext: Wer nicht die passenden Voraussetzungen mitbringt, kann sich noch so sehr abmühen, ein gefragtes Supermodel wird er oder sie nicht. Erstaunliche Tatsache am Rande: Der Beruf des Topmodels ist wohl der Einzige, bei dem Frauen besser bezahlt werden als Männer.

Die 1,81 Meter große, gertenschlanke Frau aus französischem Adel hat jedenfalls gut reden; schließlich brachte sie neben höchst apartem Äußeren, das perfekt in die 80er Jahre passte — androgyn, kaum Busen und Po, dafür kurzes dunkles Haar — auch jede Menge Esprit und Wortgewandtheit mit.
Ines de la Fressange wusste eben, wovon sie sprach und ihre geistreichen O-Töne beleben, neben vielen anderen, die Dokumentation „Pop Models“, die noch bis zum 7. August 2018 in der Mediathek des deutsch/französischen Kultursenders ARTE zu sehen ist.

Für das Cover der Vogue/Italia fotografierte Steven Meisel im Jahr 1988 drei Generationen Topmodels: Veruschka von Lehndorff, Lauren Hutton, Isabella Rossellini.

Von den vielen namenlosen Mannequins bis zum Supermodel-Hype Anfang der 90er Jahre, war es ein weiter Weg, der zumindest teilweise in der ARTE-Doku nachvollzogen wird. Wie sich einer der peinlichsten Berufe der Welt zum ultimativen Traumjob junger Mädchen wandeln konnte, lässt sich zumindest erahnen. Gesellschaftlicher Normenwandel, wachsende Popularität der Modepresse und somit der Modefotografie bis hin zur Emanzipation der Frau — alles ist erklärbar, auch das merkwürdige Phänomen des Supermodel-Wahns. Ebenso der hochaktuelle Ruf nach mehr „Diversity” im Modelbusiness bis hin zur #MeToo-Debatte, die einige prominente Modefotografen, darunter Terry Richardson, Mario Testino und Bruce Weber, jüngst ihre hochdotierten Aufträge gekostet hat.

Die erste Modelagentur der Welt wird kein Erfolg

Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts sahen die Dinge noch ganz anders aus. Damals war die Modefotografie (zu verschwommen, nur schwarzweiss, keine Kunst) noch kein anerkanntes Genre zur Vermittlung von Mode, und der Modelberuf selbst war quasi unbekannt. Stattdessen mussten junge Damen aus den USA eingeschifft werden, weil sich in der Modemetropole Paris die Desmoiselles zu fein waren, um wie lebendige Kleiderständer vor Publikum auf und ab zu stolzieren, sich begaffen und womöglich anfassen zu lassen. Viel Geld ließ sich mit dieser unpopulären Tätigkeit schon gar nicht verdienen. Zwar hatte der arbeitslose Schauspieler John Robert Powers bereits im Jahr 1915 die erste Modelagentur der Welt in New York gegründet, erfolgreich wurde er damit aber nicht. Ein kleines Hoch erlebte der Beruf des Fotomodells erst nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 als plötzlich junge Mädchen aus ehemals reichen Familien nach einer eigenen Verdienstmöglichkeit suchen mussten. Aus der Not wurde eine Art Tugend, wie so oft im Leben und irgendwann war der Beruf des Models nicht mehr ganz so unseriös wie zuvor.

Charles Frederick Worth hat als einer der ersten Pariser Couturiers Modenschauen abgehalten, hier 1910.

Nur wenige junge Mannequins schafften allerdings den Weg aus der Namenlosigkeit. Die Amerikanerin Dovima, die Schwedin Lisa Fonssagrive, oder die beiden Französinnen Carmen dell’Orefice und Bettina Graziani gehörten zweifelsohne dazu. Doch wirklich lukrativ wurde der Model-Beruf erst in den 60ern für Twiggy, die auf die Frage eines Reporters, ob sie wisse, dass sie mehr Geld verdiene als der britische Premierminister, nur nervös kicherte. Noch immer sollten Jahrzehnte vergehen, bis es zu Linda Evangelistas legendärem Zitat kommen sollte, in dem sie erklärte, dass sie und ihre Kolleginnen unter 10.000 Dollar Tagesgage gar nicht erst aus dem Bett steigen würden.

Das erste Mannequin wird Muse und Markenzeichen

Marisa Berenson, Lauren Hutton und Jerry Hall prägten die Dekade der 70er Jahre, während Ines de la Fressange im Jahr 1983 die große Ehre zuteil wurde, als Allererste einen Exklusiv-Vertrag mit einem Pariser Couture-Haus zu unterzeichnen, der sie zum Aushängeschild der gesamten Marke machte. Ines de la Fressange lief infolgedessen für Chanel als Mannequin über den Laufsteg, ihr Gesicht wurde Markenzeichen für die Kosmetiklinie, inklusive der edlen Parfums von Chanel und stets war sie als Muse am Arm von Chefdesigner Karl Lagerfeld zu sehen. Bis zum Jahr 1989, als Karl Lagerfeld sich erzürnt von ihr trennte, weil sie Modell gestanden hatte für die Büste der französischen Nationalfigur Marianne, ihm also im übertragenen Sinne „untreu“ geworden war.

Karl Lagerfeld und Ines de la Fressange gemeinsam auf dem Laufsteg.

Der deutsche Modefotograf Peter Lindbergh schließlich gab die Initialzündung für den Supermodel-Hype, weil er im Januar 1990 auf einem Cover der britischen Vogue die Models Cindy Crawford, Naomi Campbell, Christy Turlington, Tatjana Patitz und Linda Evangelista platzierte. Sie sollten die gerade angebrochenen 90er Jahre symbolisieren — was sie auch prompt taten, denn für viele Jahre waren die perfekten Schönheiten omnipräsent. Im Gegensatz zu Ines de la Fressange, die ausschließlich für Chanel gearbeitet hatte, liefen die eben genannten Models nun für beinah jedes Modehaus über den Catwalk: bei jeder Show, in jeder Modemetropole — und natürlich stets gemeinsam. Denn vor allem in der Gruppe wurde ihre Übermacht sichtbar.

Der Supermodel-Hype und seine Folgen

Im Zenith ihrer Popularität, als man annahm, die Supermodels nun wirklich in all ihren Facetten gesehen zu haben — und ihrer langsam überdrüssig wurde — kam Jürgen Teller und fotografierte im Jahr 1993 Linda Evangelista: ungeschminkt, mit fettigem Haar und vermeintlich völlig spontan und un-inszeniert. Dies müsse nun wirklich und wahrhaftig die echte, authentische Linda Evangelista sein, befand man. In Wahrheit ein genialer Coup des deutschstämmigen Fotografen, der die Lust auf die Model-Persönlichkeiten damit nur weiter befeuerte.

Jürgen Teller fotografierte Supermodel Linda Evangelista 1993 ungeschminkt und scheinbar völlig natürlich.

Irgendwann war es aber doch soweit und die unerreichbare Perfektion von Cindy, Christy & Co sowie der deutschen Claudia Schiffer ermüdete die Modepresse und ihre Konsumenten. Mit vermeintlichen Makeln behaftete Mädchen wie Kate Moss und Kristen McMenamy gewannen nun an Popularität und entsprachen damit wunderbar der neuen Liebe zum Tabubruch und dem Infragestellen von althergebrachten Schönheitsidealen. Der „Heroin Chic“, als Begriff geprägt vom damaligen US-Präsident Bill Clinton, war auf dem Vormarsch und nun, ab Mitte der 90er Jahre, galt exakt das als attraktiv und sexy, was kurz vorher noch als hässlich angesehen worden war.

Ohne das „gewisse Etwas“ geht’s nicht

Inzwischen sind sowohl Claudia Schiffer als auch die meisten ihrer ehemaligen Mitstreiterinnen wieder gut im Geschäft. Zwar mittlerweile weit über Vierzig, erinnern sie die gleichaltrige, nun kaufkräftige weibliche Klientel an die eigene Jugend, verbunden mit dem Wissen, immer noch schön und begehrenswert sein zu können. Cindy Crawford toppt das Ganze, indem sie es geschafft hat, ihre Tochter Kaia Gerber ebenfalls zu einem gut bezahlten Model zu machen.
Jung oder älter bis alt, gertenschlank oder curvy, klassisch schön oder mit Makel behaftet, genderfree. Einer bestimmten Norm muss heute kein Model mehr entsprechen. Das „gewisse Etwas“ sollte natürlich vorhanden sein — was das exakt bedeutet, variiert allerdings von Saison zu Saison …

“Pop Model” — prostitute or dream woman? A profession through the ages

On ARTE is currently running a worth seeing documentary, which sheds light on the astonishing image change of the modeling profession: from Bettina to Twiggy to supermodel hype with Cindy, Naomi & Co. By the way, it becomes clear how quickly beauty ideals can change and why not every woman can change as a top model — even if she tries so hard.

Fashion Illustration by ARTE “Pop Models”

“To be a model is the only profession you cannot choose,” says Ines de la Fressange, top model of the 80s and ex-muse of Karl Lagerfeld in plain language: If you do not have the right qualifications, you will not become a famous supermodel. Interesting fact on edge: The job of the top model is probably the only one in which women are better paid than men.

The 1.81-meter-tall, slender woman of French nobility, has at least a good talk; finally, she brought next to highly distinctive appearance that fits perfectly into the 80s — androgynous, bareback and buttocks, but short dark hair — also with a lot of wit and eloquence.
Ines de la Fressange just knew what she was talking about and enlivened her witty o-tones, among many others, the documentary “Pop Models,” which can still be seen in the media library of the German / French cultural channel ARTE until 7 August 2018.

Dovima by Richard Avedon in 1955. She was one of the first known muses of a fashion photographer.

From the many nameless mannequins to the supermodel hype in the early 90s, it was a long way, which is at least partially reflected in the ARTE documentary. At least one can guess how one of the most embarrassing professions in the world could transform into the ultimate dream job of young girls. Social norm change, the growing popularity of the fashion press and thus the fashion photography up to the emancipation of the woman — everything is explainable, also the strange phenomenon of the supermodel delusion. Likewise, the high current call for more diversity in the model business to the #MeToo debate, which has cost some celebrity fashion photographers, including Terry Richardson, Mario Testino, and Bruce Weber, recently their highly endowed orders.

The first modeling agency in the world was no success

At the beginning of the last century, things looked very different. At that time, fashion photography (too blurry, just black and white, no art) was not a recognized genre for communicating fashion, and the modeling profession itself was virtually unknown. Instead, young women from the US had to be embarked, because in the fashion metropolis of Paris the Desmoiselles were too delicate to strut like living clothes racks in front of an audience, to bark and perhaps to be touched. Much money could not be earned with this unpopular activity. Although the unemployed actor John Robert Powers had already founded the world’s first modeling agency in New York in 1915, he did not succeed. The profession of the photo model experienced a small high only after the world economic crisis of 1929 when suddenly young girls from formerly wealthy families had to search for their earning potential. The need became a kind of virtue, as so often in life and at some point, the profession of the model was not quite as dubious as before.

Henry Clarke photographed Bettina Graziani in a black fur in 1953.

However, only a few young mannequins made their way out of namelessness. The American Dovima, the Swede Lisa Fonssagrive, or the two French women Carmen dell’Orefice and Bettina Graziani undoubtedly belonged to it. But the modeling profession became lucrative only in the 60s for Twiggy, who chuckled nervously at a reporter’s question as to whether she knew she was earning more money than the British prime minister. It was still going to be decades before Linda Evangelista’s legendary quote came, declaring that she and her colleagues would not even get out of bed under $ 10,000 a day’s pay.

The first mannequin becomes muse and trademark

Marisa Berenson, Lauren Hutton, and Jerry Hall dominated the decade of the 1970s, while Ines de la Fressange in 1983 was honored to sign an exclusive contract with a Parisian couture house, making her the figurehead of the whole Brand made. Ines de la Fressange ran as a mannequin over the catwalk for Chanel, her face became a trademark for the cosmetics line, including the noble perfumes of Chanel and she was always seen as a muse on the arm of chief designer Karl Lagerfeld. Until 1989, when Karl Lagerfeld broke away from her because she had modeled herself for the bust of the French national figure Marianne, in a figurative sense, she had become “unfaithful.”

Ines de la Fressange becomes the ambassador of Chanel in 1983.

The German fashion photographer Peter Lindbergh finally gave the initial spark for the supermodel hype, because he placed the models Cindy Crawford, Naomi Campbell, Christy Turlington, Tatjana Patitz and Linda Evangelista in January 1990 on a cover of British Vogue. They were supposed to symbolize the 90s that had just begun — which they did promptly because for many years the perfect beauties were omnipresent. In contrast to Ines de la Fressange, who worked exclusively for Chanel, the models just mentioned were running across the catwalk for almost every fashion house: at every show, in every fashion metropolis — and of course always together. Because above all in the group, their superiority became visible.

The supermodel hype and its consequences

In the zenith of her popularity, when it was assumed that one had seen the supermodels in all their facets — and people were getting tired of them — Jürgen Teller came and photographed Linda Evangelista in 1993: unadorned, with greasy hair and supposedly wholly spontaneous and unstaged. This really and indeed must be the genuine, authentic Linda Evangelista, one found. In truth, an ingenious coup of the German-born photographer, who only further fueled the desire for the model personalities.

Peter Lindbergh photographed Cindy Crawford, Naomi Campbell, Tatjana Patitz, Christy Turlington and Linda Evangelista for the cover of the January 1990 issue of British Vogue.

At some point, however, it was time, and the unattainable perfection of Cindy, Christy & Co and the German Claudia Schiffer tired the fashion press and their consumers. Girls with alleged flaws such as Kate Moss and Kristen McMenamy were gaining in popularity and thus wonderfully suited their new love for breaking taboos and questioning traditional beauty ideals. The “heroin chic,” as a term coined by the then US President Bill Clinton, was on the rise and now, from the mid-90s, was considered as attractive and sexy, which had just been considered ugly just before.

Without the “certain something,” it does not work

Meanwhile, both Claudia Schiffer and most of her former comrades are back in business. Although now well over forty, they remind the same age, now affluent female clientele of their youth, combined with the knowledge to be still beautiful and desirable. Cindy Crawford tops it all by making her daughter Kaia Gerber a well-paid model as well.
Young or older to old, slender or curvy, classically beautiful or tainted, genderfree. An absolute standard no longer is needed to be a model today. The “certain something” should, of course, be present — what that means precisely, however, varies from season to season …

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