„GovTech gewinnt immer mehr an Fahrt“

Der Staat könnte ein riesiger Markt für Start-ups sein. Doch von den Milliarden, die er ausgibt, kam lange nur wenig bei ihnen an. Nun bewegt sich das Feld. Manuel Kilian von GovMind und Oliver Schoppe von UVC Partners haben sich das Ökosystem GovTech genauer angeschaut und in einer Map visualisiert. Warum sie überzeugt sind, dass die Bedeutung von GovTech für die Modernisierung von Staat und Verwaltung immer wichtiger wird, welche Fehler das Ökosystem vermeiden sollte — und warum es so schwer zu fassen ist.

Manuel Kilian
GovMind
6 min readApr 12, 2022

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Oliver und Manuel, ihr habt Euch das europäische GovTech-Ökosystem genauer angeschaut und daraus eine Map erstellt. Warum macht Ihr das gerade jetzt?

Oliver: Uns ist aufgefallen, dass fünf der knapp 30 Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten, bereits signifikantes Geschäft mit öffentlichen Auftraggebern machen. Das ist weit mehr, als noch vor wenigen Jahren denkbar war. Damals hätte die Map noch viel leerer ausgesehen. Gleichzeitig gibt es viel mehr Menschen, die sich mit dem Thema GovTech beschäftigen und wir sehen, wie erste große Erfolgsstories heranwachsen.

Manuel: Das können wir mit unserer Datenbank bestätigen. Seit 2010 wurden in Europa 1.447 GovTech-Start-ups gegründet, die heute über ein marktfähiges Produkt verfügen. Gleichzeitig sind etwa 20,7 Milliarden Dollar Wagniskapital in das europäische GovTech-Universum geflossen. Auffällig ist, dass sich die Anzahl der Gründungen von 2015 bis 2019 im Vergleich zu 2010 bis 2014 sogar noch einmal um 73% erhöht hat. Angebotsseitig gewinnt GovTech also immer mehr an Fahrt.

Wer sich etwas näher mit GovTech beschäftigt, stellt fest, dass der Begriff gar nicht so klar umrissen ist. Wie habt ihr das Feld definiert?

Oliver: Das ist in der Tat gar nicht so einfach, weil der Begriff GovTech eher ein Spektrum beschreibt. Auf der einen Seite gibt es Start-ups, die ausschließlich an die öffentliche Hand verkaufen. Auf der anderen stehen Unternehmen, bei denen der Staat gar kein unmittelbarer Kunde ist, die mit ihren Produkten aber trotzdem die Verwaltung und das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen. Der größte Anteil liegt in der Mitte: Start-ups, die Ihre Produkte in der Vergangenheit vor allem B2B verkauft haben und die öffentliche Hand erst in den letzten Jahren als Kunden entdeckt und gewonnen haben. In unserer Map stellen wir diese Diversität in Kreisen dar. Je weiter wir uns vom Zentrum entfernen, desto indirekter ist die Verbindung zum Staat.

Manuel: Hinzu kommt, dass es viele thematische Schwerpunkte innerhalb von GovTech gibt, sozusagen unterschiedliche Tortenstücke der kreisförmigen Map. GovTech ist daher enorm vielfältig und je nach Tortenstück sehen wir ganz unterschiedliche Geschäftsmodelle und Technologien, die zum Einsatz kommen. Die Map zeigt daher auch: GovTech ist überall dort, wo Staat und Verwaltung aktiv sind.

An wen verkaufen die Start-ups beim Staat konkret?

Manuel: Auch das ist sehr vielfältig. Es gibt etliche Ebenen, mit denen B2G-Start-ups interagieren: Kommunen, Länder, Bundesministerien, große Behörden und Anstalten des öffentlichen Rechts. Allein in Deutschland existieren ca. 30.000 Vergabestellen, die eigenständig GovTech-Lösungen beziehen könnten. Es geht also beileibe nicht immer nur um die Bundesregierung. Wir haben in unserer Analyse immer wieder festgestellt: Es gibt nicht die eine Charakteristika des öffentlichen Sektors. Während man mit einem Produkt, das sich an die Verwaltung richtet, auf kommunaler Ebene Tausende potenzielle Käufer hat, kann ein Start-up wie Isar Aerospace, das Raketen entwickelt und produziert, mit nur sehr wenigen staatlichen Institutionen zusammenarbeiten.

Inwiefern unterscheidet sich das Geschäft mit dem Staat von dem mit Unternehmen?

Manuel: Ein grundlegender Unterschied ist der Sales-Mechanismus. Als GovTech Start-up kann man nicht einfach so auf den Staat zugehen und ihm das eigene Produkt anbieten. Stattdessen muss ich die jeweilige staatliche Stelle erst einmal auf das Problem aufmerksam machen, dass mein Start-up lösen kann. Wenn es dann eine öffentliche Ausschreibung gibt, kann ich daran teilnehmen. Außerdem existiert schon ein gewisser Kulturunterschied zwischen Start-ups und dem Staat. Das muss bei der Zusammenarbeit mit großen Konzernen allerdings auch nicht viel anders sein.

Oliver: Wir können uns noch gut an die Zeit erinnern, in der Start-ups bei großen Unternehmen kaum durch deren komplizierte Einkaufsprozesse gekommen sind. Das ist keine zehn Jahre her. Heute sind Start-ups ein integraler Bestandteil des B2B-Geschäfts. Das Spannende ist: Die Start-ups, die bereits die komplexen Einkaufsprozesse großer Unternehmen durchlaufen und meistern konnten, sind jetzt optimal aufgestellt, um mit dem Staat ins Geschäft zu kommen. Alles, was sie im B2B-Bereich gelernt haben, können sie jetzt B2G anwenden.

Was kann der Staat tun, um den Start-ups entgegenzukommen?

Manuel: Es geht nicht darum, dass der Staat den Start-ups entgegenkommt. Es geht darum, dass wir ein Level-Playing-Field bekommen. Bei öffentlichen Ausschreibungen sollte es immer darum gehen, dass die beste Lösung gewinnt. In der Realität ist das aber oft nicht der Fall, weil zum Beispiel Projektreferenzen oder eine Unternehmensgröße vorausgesetzt werden, die viele Start-ups noch nicht vorweisen können. Das grenzt aus — oftmals ohne Grund. Ausschreibungen sollten deswegen offener für Innovationen sein und weniger Wert legen auf Erfahrungswerte und Parametern wie der Mitarbeiterzahl eines Unternehmens.

Oliver: Genau das hören wir von den Start-ups aus unserem Portfolio. Start-ups sind prinzipiell immer offen für Wettbewerb und wollen, dass die beste Lösung gewinnt. Gleichzeitig braucht die öffentliche Hand vielleicht manchmal ein wenig Risikoappetit! Wer jedes Risiko ausschließen will, stellt Sicherheit immer über Innovationen. So kommen wir nicht voran. Stattdessen sollten wir dem kalkulierten Risiko mit Gelassenheit begegnen. Auch wenn jemand in einer staatlichen Stelle mal nicht die richtige Lösung eingekauft hat, muss das ja nicht gleich der Weltuntergang sein. In so einem Fall muss man eben den Anbieter wechseln. Dadurch entsteht auch eine Wettbewerbsintensität, die dem B2G-Markt derzeit noch fehlt. Generell hilft es Start-ups ohnehin viel mehr, wenn der Staat ihr Kunde wird als wenn er sie mit Fördermillionen unterstützt.

Wo stehen wir da aktuell?

Manuel: Es gibt weiterhin großen Aufholbedarf. Wir haben vor kurzem in einer Analyse gezeigt, dass von rund 15.000 vergebenen öffentlichen Aufträgen in Deutschland im Bereich Software zwischen 2014 und 2021 nur rund ein Prozent auf GovTech-Start-ups und -KMUs entfallen sind. Das ist erschreckend wenig und entspricht sicherlich nicht dem verfügbaren Potenzial auf Anbieterseite.

Gibt es europäische Länder, von denen sich Deutschland etwas abschauen könnte?

Oliver: Estland hat beispielsweise einen hohen Digitalisierungsgrad in der Verwaltung und arbeitet intensiv mit Start-ups zusammen.

Manuel: Im Ausland, darunter in UK, gibt es oft eine höhere Transparenz bei Ausschreibungen. Sie sind schlicht leichter zu finden als in Deutschland. Auch ist der Anteil von Ausschreibungen, der auf innovative Lösungen entfällt, in anderen Ländern wie Finnland deutlich größer als in Deutschland.

Welche Fallstricke sollte ein Start-up im GovTech-Bereich auf jeden Fall vermeiden?

Manuel: Wir bekommen immer wieder mit, wie groß die kulturellen Unterschiede doch sind. Wer mit dem Staat ins Geschäft kommen will, muss die Funktionsweise von Bürokratie und Verwaltungshandeln verstehen, das ist existenziell. Nur so kann man mit seinem Gegenüber auf eine Ebene kommen und seine Beweggründe verstehen.

Oliver: Ein anderer gängiger Fehler ist, Zeitspannen zu unterschätzen. Vergabeprozesse können schon mal ein halbes bis ganzes Jahr länger dauern, als man ursprünglich angenommen hatte. Außerdem sind langfristige Geschäftsbeziehungen strukturell schwieriger zu etablieren, da Ausschreibeverfahren auf punktuelle Zusammenarbeit ausgelegt sind. Das sollte man sich bewusst machen.

Wir freuen uns jederzeit über Anmerkungen und Fragen zu dem Artikel:

Über GovMind: GovMind ist ein junges Technologieunternehmen aus Berlin, das systematisch Informationen zu GovTech-Lösungen erfasst, analysiert und interpretiert. Somit bringt GovMind innovative Lösungen in den Einsatz bei Staat und Verwaltung.

Über UVC Partners: UVC Partners ist eine in München und Berlin ansässige early-stage Venture Capital Gesellschaft, die in europäische B2B-Start-ups innerhalb der Bereiche Enterprise Software, industrielle Technologien und Mobilität investiert. Die Portfoliounternehmen profitieren von der umfangreichen Investitions- und Exit-Erfahrung des Managementteams sowie von der engen Zusammenarbeit mit UnternehmerTUM, Europas führendem Zentrum für Innovation und Unternehmensgründung.

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Manuel Kilian
GovMind
Editor for

Founder and CEO of www.govmind.tech — we bridge the gap between governments and innovation