Hybrid City Lab
Fieldnotes – Hybrid City Lab
6 min readJul 14, 2020

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Unter den aktuellen Auswirkungen der weltweiten Covid-19 Pandemie spüren Entscheider*innen, was der Soziologe Ulrich Beck mit dem Entscheidungsparadoxon beschreibt:

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» Je größer die Gefahr des Nicht-Handelns, desto größer ist die Unsicherheit darüber, was zu tun ist, und umso wichtiger, aber auch gleichzeitig unmöglicher, sind richtige Entscheidungen. «

(Beck, Weltrisikogesellschaft, 2015, p.215)

Ein Blick auf Lösungsfindungsansätze der Zukunftsforschung.

In den letzten Wochen sind unsere Posteingänge und Social Timelines voller Lösungsideen, Checklisten und Tools im Umgang mit der Pandemie. Jedoch: Die Vielzahl an Informationen machen das Einordnen, Priorisieren, Übersetzen und Ableiten von geeigneten Maßnahmen für den eigenen Kontext schwer.

In unserer “How do we Cope”-Interviewreihe sprechen wir beim Hybrid City Lab seit mehreren Monaten mit Menschen in öffentlichen Organisationen und fragen, wie die Anpassungen an die Neue Normalität funktionieren. Dabei hören wir immer wieder, dass es in der aktuellen Krise eher zu viele Meinungen und Lösungsansätze gibt als zu wenige. Die brennendste Herausforderung ist aktuell nicht die Frage »Was soll ich umsetzen?«, sondern »Wie soll ich es umsetzen?«

Dahinter steht oft die übergeordnete Frage » wie können wir Entscheidungen treffen, ohne das Wissen darüber zu haben, was zu tun ist?«. So weiß beispielsweise aktuell niemand, welche Strategie bei der Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens die richtige ist, dennoch müssen Lösungen gefunden werden. Die Zukunftsforschung beschäftigt sich oft mit Fragestellungen dieser Art. Wir wollen heute einen Einblick geben, wie uns die Erkenntnisse der Futurologie in komplexen und unsicheren Projekten helfen. Eine Fragestellung, mit der wir uns aktuell beschäftigen: Wie ermöglichen wir das Recht auf Stadt und Beteiligung an Stadtentwicklung trotz physischer Distanz? Bei Projekten wie diesem ist zu Beginn nicht klar, wie die Ergebnisse aussehen werden — und trotzdem (oder gerade deshalb) braucht es ein Vorgehen, das dem Projektteam und den Beteiligten Sicherheit und Orientierung gibt, wo eigentlich gar keine ist. Wie kann so etwas funktionieren?

Wie Zukunftsforscher*innen denken

Warum brauchen wir überhaupt Strategien gegen Unsicherheit? Weil wir es in unseren Entscheidungen immer mit einer offenen — also unsicheren — Zukunft zu tun haben. Wie wir gerade erleben, gilt das auch dann, wenn Prognosen und Trends eigentlich keine Pandemie vorausgesagt haben. Aber die Zukunft ist immer offen, sie kann uns stets überraschen — und das ist auch gut so! Denn diese Offenheit ist die Freiheit, durch Handlungen in der Gegenwart Zukunft zu gestalten. Und gerade in der aktuellen Situation merken wir, wie stark genau dieses Handeln in der Gegenwart Zukunft verändert. Mit “flatten the curve” wurden wir sehr drastisch an unser Potential als Gesellschaft erinnert: Mit abgestimmten Handlungen der Einzelnen können wir auf ein großes Ganzes einwirken.

Das heißt: Um Zukunft zu gestalten, benötigt es Zielbilder und gemeinsame Handlungen trotz Unsicherheit und Komplexität. Je größer und indirekter die Herausforderung ist (individuelle Schutzmaßnahmen helfen dem Gesundheitssystem nicht zusammenzubrechen), umso mehr Abstimmung der ansonsten oft unsichtbaren Wirkungsketten benötigt es — und umso schwieriger wird‘s. Wie bereits eingangs erwähnt, bedeutet das laut dem Soziologen Ulrich Beck:

» Je größer die Gefahr, desto größer das Nichtwissen, desto notwendiger und unmöglicher die Entscheidung (…). «

Beck beschreibt dieses Phänomen als Symbol unserer heutigen Zeit. Er nennt sie auch reflexive Moderne. Damit grenzt er sie von der Moderne ab, in der es die bevorzugte Lösungsstrategie unserer Gesellschaft war, Unsicherheiten durch Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche unter Kontrolle zu bekommen. Die These war: Wenn wir Unsicherheiten haben, dann fehlt es uns an Wissen. Wissenschaft hilft uns dabei, Wahrheiten zu finden. Erst dadurch habe ich keine Unsicherheiten mehr und kann rational entscheiden. In der reflexiven Moderne haben wir nach Beck aber erkannt, dass die Suche nach Wahrheiten, statt Unsicherheiten zu verkleinern, sie vergrößern kann. Einfacher gesagt hat das auch schon Einstein: Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nicht weiß.

Die Gedanken im Kopf einer*s Zukunftsforscher*in könnte man so zusammenfassen

Zukunft ist kein Event, das auf uns zukommt. Wir können sie nicht berechnen. Wir können sie nur durch Handlungen in der Gegenwart gestalten. Zukunftsgestaltung benötigt abgestimmtes Handeln trotz Unsicherheit und Komplexität. Je größer die Probleme, desto mehr gesellschaftliche Abstimmung braucht es. Der Versuch, Unsicherheit durch die Suche nach Wissen und Wahrheiten aufzulösen, zeigt, dass zumindest kurzfristig noch mehr Ungewissheiten entstehen. Wissenschaftliches Arbeiten ist für Gesellschaften essentiell, aber als alleinige Strategie für Handlungsfähigkeit trotz Unsicherheit reicht sie oft nicht aus. Natürlich kennen Menschen dieses Problem nicht erst seit der Pandemie und haben einen bunten Strauß an Umgängen damit gefunden. Oft unbewusst, manchmal sehr bewusst.

Exkurs — Beispiel für den bewussten Einsatz von Nicht-Wissen in der Kommunikation der US Regierung vor Beginn des Irak-Kriegs.

Typische Strategien gegen Unsicherheiten

In der Zukunftsforschung gibt es einige Ansätze Strategien gegen Unsicherheit zu kategorisieren. Unsere favorisierte Kategorie nennt sich sich Unsicherheitsabsorbtionsstrategien. Folgende fünf Strategien helfen uns einzuordnen, welche Möglichkeiten es gibt, welche bereits genutzt werden und welche ggf. übersehen wurden.

Strategie ① Die Leugnung von Unsicherheiten

Entscheidende oder Organisationen leugnen nach außen ihre Unsicherheiten und konstruieren dadurch für andere vermeintliches Wissen und Sicherheit. Ein typisches Beispiel dieser Strategie sind Aussagen wie diese:

Strategie ② Temporäre Als-ob-Wahrheiten

Entscheidende akzeptieren Unsicherheiten und schaffen durch temporäre Wahrheiten — bis diese widerlegt wurden — vorläufige Handlungsfähigkeit. Der Lockdown und die Ausgangsbeschränkungen mit Datum sind ein typisches Beispiel dieser Strategie. Durch die Entscheidung wird eine komplexitätsreduzierende Wahrheit temporär kommuniziert. Sie schafft für Betroffene eine Einfachheit ohne im Vorhinein die Sicherheit gehabt zu haben, dass sie funktioniert und allgemein und immer richtig ist. Beispiel: Ausgangssperren oder Maskenpflichten.

Strategie ③ Lebenslanges Lernen

Entscheidende oder Organisationen geben den Anspruch auf Sicherheit über Wahrheiten auf, und der Modus der “Wissensannäherung” wird als Normalität angenommen. In lebenslangem Lernen werden alte Sicherheiten durch neue Erkenntnisse immer wieder angepasst. Im Kontext der Pandemie findet dieser Modus beispielsweise in der Erweiterung von Radwegen statt. Die davor geltenden Wahrheiten (motorisierter Individualverkehr wird priorisiert) wurden nach und nach auf die neue Situation und das gestiegene Bedürfnis nach Mobilität außerhalb des ÖPNVs angepasst.

Strategie ④ Infrastruktur für Akteure statt Lösungen für alle

Entscheidende geben den Anspruch auf, Expertisen für eine Entscheidung zu besitzen. Sie reformulieren ihre Rolle als Lernbegleitende und Infrastrukturanbietende. Sie schaffen dadurch Rahmenbedingungen, damit Akteure selbst untereinander viele kleine Lösungen aushandeln. Im deutschlandweiten Hackathon der WirvsVirus Initiative sieht man diese Strategie in Anwendung. NGOs schufen in Kooperation mit der Bundesregierung Rahmenbedingungen für die Erarbeitung und Aushandlung von gesellschaftsrelevanten Lösungen.

Ein weiteres Beispiel dieser Strategie sehen wir bei Stadtverwaltungen, die statt Lösungen selbst anzubieten, Bottom-Up Initiativen kuratieren und verstärken.

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Strategie ⑤ Aufbau von Netzwerken

In dieser Strategie gruppieren sich Organisationen, um die Unsicherheiten durch Wissensaustausch und gemeinschaftliches, statt konkurrierendes Handeln zu absorbieren. Ein Beispiel für diese Strategie ist die bereits oben erwähnte Initiative WirvsVirus der Bundesregierung.

In der Praxis findet oft eine Kombination unterschiedlicher Strategien statt. Uns helfen die Typologien, um bestehende Maßnahmen einzuordnen und gezielt unterrepräsentierte Strategien zu identifizieren.

Nicht eine Strategie, sondern der kontextabhängige Strategiemix ist entscheidend.

Oft lesen wir in den letzten Monaten, dass Agilität die Antwort auf viele bis alle Probleme liefern soll. Wir finden agile Methoden extrem wertvoll, um in chaotischen und komplexen Situationen Projektfortschritte zu erzielen. Dennoch ist auch Agilität als Kombination der Unsicherheitsabsorbtions-strategien ② und ③ kein Wundertrank. Wir empfehlen genauer hinzuschauen und die für den Kontext passende Strategie zu identifizieren. Wir glauben sogar, dass das ist die organisationale Superkraft der Zukunft sein wird. Für den Moment helfen uns oben beschriebenen Strategien in Kombination mit dem Cynefin Modell dabei, Rahmenbedingungen zu schaffen in denen trotz Unsicherheit und Komplexität Entscheidungen getroffen und Lösungen erarbeitet werden. Zum Cynefin Modell vielleicht mehr in einem nächsten Blogpost. Hier eine kleine Vorausschau.

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Wir sind gespannt zu erfahren wie ihr entscheidet, wann Agile Methoden genutzt werden. Wie geht ihr im Team, in der Organisation mit chaotischen Rahmenbedingungen um? Wie konstruiert ihr Sicherheit, sodass Handlungsfähigkeit gewährleistet ist?

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