Transzendenziös

Ja, der Mensch neigt zur Spiritualität — aber unsere transzendenten Impulse sind rein weltlicher Natur

Leon Holly
Krater Magazine
6 min readNov 9, 2021

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Raphel Mengs — L’Immaculée Conception, Wikimedia Commons, Public Domain

Vor einigen Tagen erschien hier auf Krater ein Essay von Leon Gordobil, mit dem ich nicht nur meinen Vornamen, sondern auch ein Interesse an Religion teile. In dem Text stellt er die These auf, dass die Religion — allen Säkularisierungstendenzen zum Trotz — keineswegs verschwinden wird, da dem Menschen ein transzendentes oder spirituelles Bedürfnis innewohnt. So weit, so gut. Das zwanzigste Jahrhundert hat uns schließlich gezeigt, wie totalitäre Bewegungen sich die religiösen Impulse der Menschen zu eigen gemacht haben: Die Ekstase in der Masse, das Opfer für ein höheres Prinzip, die Unterwerfung unter ein unfehlbares Wesen, den Führer. Und offenbart nicht auch die post-christliche Generation dieser Tage, wie sich religiöse Motive in der apokalyptischen Furcht vor dem Klimawandel und den puritanischen Reinheitsvorstellungen politischer Sekten wiederfinden lassen?

Keine Frage, viele Menschen begnügen sich nicht mit ihrer profanen Existenz. Sie suchen vielmehr, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sei er individueller Art (“Ich kämpfe für Freiheit/Gerechtigkeit”) oder transzendenter (“Ich spüre, dass es einen höheren Sinn gibt”). Die beste Definition, die ich in Leons Essay für letztere Haltung finden konnte, ist die folgende: Transzendenz sei ein „Gefühl, dass es ein zugrundeliegendes Prinzip gebe, das schon aufgrund der Beschaffenheit unseres menschlichen Bewusstseins niemals greif- und verstehbar sein wird“. Allein für diese Anwandlung möchte ich die Begriffe “spirituell” und “transzendent” reservieren.

Allerdings scheint Leon die Begriffe “religiös” und “Gott” nicht trennscharf von seinem Transzendenzbegriff abzugrenzen. Sicherlich, jeder Mensch der religiös ist, ist auch transzendent veranlagt. Aber nicht jeder, der transzendente Impulse verspürt, ist deshalb auch gleich religiös. Es ist nämlich schlicht eine ahistorische Verwendung des Religionsbegriffs, jedem transzendenten Kitzeln direkt das Prädikat “religiös” anzuheften. Religion ist in meinen Augen ein kodifiziertes System, das einen Glauben an einen Gott impliziert. Letzterer ist eine übernatürliche Entität oder Macht, die sich den Menschen offenbart. Während der transzendente Impuls in meinen Augen nicht zwangsläufig mit dem aufklärerisch-wissenschaftlichen Weltbild kollidiert, muss die Religion das allemal. Leon, freilich, ist anderer Meinung:

“Denn die Wissenschaft kann und will keine Antworten auf den transzendenten Sinn der Existenz liefern, sondern sich mit der Erklärung und Erforschung der materiellen Welt bzw. den Phänomenen der Natur beschäftigen. Religion befindet sich deshalb auch nicht im Konflikt mit der Wissenschaft und die Annahme, dass sich religiöse und wissenschaftliche Weltbilder gegenseitig ausschließen, ist ein Trugschluss.”

Historisch betrachtet ist die Religion keineswegs nur ein vages Synonym für spirituelle Inspiration. Sie äußert sich vielmehr in Glaubenssystemen, die sehr wohl auch ontologische Wahrheitsansprüche anmelden und genau deshalb mit dem Erklärungseifer der Wissenschaft kollidierten — und immer noch kollidieren.

In gewisser Weise kann man die Trennlinie zwischen Religion und bloßem transzendenten Gefühl (nach einem Zwischenstopp beim Deismus) wohl beim Pantheismus ziehen. Denn an dem Punkt, wo Gott alles ist, ist Gott ins Wahrheit nichts mehr. Haben wir Gott also aus der Gleichung getilgt, bleibt nur noch das transzendente Gefühl übrig, das sich aber nicht mehr auf ein prädikatbehaftetes Objekt — wie ephemer auch immer geartet — bezieht. Es ist kein Gott mehr da, der sich den Gläubigen offenbart oder gar in ihrem Leben interveniert. Dieser gottesbereinigte, postreligiöse spirituelle Impuls muss freilich auch nicht mit dem wissenschaftlichen Weltbild über Kreuz liegen — genauso wenig, wie ein verwässerter christlicher Glaube, der die komplette biblische Erzählung ins Reich des Metaphorischen und Symbolischen verbannt und die vormals heilige Schrift nur noch als eine Inspirationsquelle von vielen ansieht. Ein solch säkularisierter Drang nach Wissen und Erkenntnis kann der Wissenschaft im Gegenteil sogar ein Antrieb sein.

Leons Ausgangsthese, dass der spirituelle Impuls dem Menschen immanent ist, möchte ich wie gesagt nicht bestreiten. Aber im Gegensatz zu Leon bin ich der Meinung, dass dieser faszinierende Zug der menschlichen Natur uns mehr über den Menschen selbst als über die Beschaffenheit der Dinge oder irgendwelche kosmischen Prinzipien verrät. Alles, was wir über fundamentale Prinzipien oder kosmische Gesetze erfahren wollen oder können, werden wir durch die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Methoden und Techniken erfahren. Drogen und Meditation können vielleicht die Synapsen zum Tanzen bringen, aber wir haben keinen Grund anzunehmen, dass wir die Signale einer höheren Macht empfangen. Die Märchen der falschen Propheten und die Halluzinationen der Mystiker waren dem logischen Prinzip und dem Teleskop noch nie gewachsen. Und wen erfüllt das christliche Weltbild heute ernsthaft noch mit mehr Ehrfurcht als die Erkenntnisse Einsteins und Hawkings?

Kommen wir kurz auf Leons Definition der Transzendenz zurück, nämlich das Gefühl, “dass es ein zugrundeliegendes Prinzip gebe, das schon aufgrund der Beschaffenheit unseres menschlichen Bewusstseins niemals greif- und verstehbar sein wird”. Liegt hierin nicht ein Widerspruch? Wieso sollte das Prinzip, wenn es existiert, nicht auch prinzipiell entdeckbar oder verstehbar sein? Ich bin der Überzeugung, dass wir jeder Erkenntnis misstrauen sollten, die sich nur erreichen lässt, sobald man Logik und Vernunft in den Ruhezustand versetzt hat. Zudem haftet diesem Postulat ein suspektes Wechselspiel aus Demut und Selbstüberhöhung an. Greifbar wird das Prinzip natürlich nie sein — aber ich fühle es sehr wohl!

Es lohnt sich ferner, die transzendente Fragestellung selbst radikal in Frage zu stellen. Nur weil man die Sinnfrage an die Existenz stellen kann, heißt das nicht, dass es auch sinnvoll ist, das zu tun. Die Frage nach dem “Warum?” birgt in der Tat Potential für ein Missverständnis. So sagt es viel über einen Menschen aus, ob er die Antwort auf die Frage: “Warum existieren wir?” beim Guru oder beim Astrophysiker sucht. In der Debatte über Sinn und Unsinn sympathisiere ich persönlich mit jenen Existenzialisten, die sich der kosmischen Absurdität und Sinnesleere bewusst geworden sind, und dennoch versucht haben, dem nihilistischen Abgrund ein individuelle Sinnsuche entgegenzusetzen.

Was also bewegt den Menschen in seiner hoffnungslosen und prekären Lage dazu, das natürlich Erlebte um eine verschwommene, höhere Sphäre ergänzen zu wollen? Die Frage zu stellen, heißt schon fast, sie zu beantworten. Viele, wenn nicht sogar alle Gefühle, die der Mensch empfindet, haben einen evolutionären Nutzen. Wahrscheinlich verhält es sich so auch mit dem ehrfürchtigen Schauder, der uns überkommt, wenn wir uns der kleinen Unbedeutsamkeit unserer Existenz gewahr werden. Man stelle sich vor, schlägt der Soziologe Nicholas Christakis in seinem Buch Blueprint vor, wie ein umherziehender nomadischer Jäger einen Berg erklimmt, auf der Spitze innehält und die weite Steppe überblickt, die sich bis zum Horizont erstreckt und die es gleich mit seinem Stamm zu durchqueren gilt. Welcher Jäger hat wohl die bessere Überlebenschance: Der, welcher — in Ehrfurcht versetzt — die Nähe der anderen sucht, oder der, den der Anblick kalt lässt?

Der Theologe Rudolf Otto nannte das transzendente Staunen im Menschen einst das “Numinose”. Dieses Gefühl hatte für ihn zwei Ausprägungen: das ehrfürchtige Schaudern des mysterium tremendum und die anziehende Erhabenheit des mysterium fascinans. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der schon ernsthaft über die Größe des Kosmos oder die Unwahrscheinlichkeit der eigenen Existenz nachgesinnt hat, sich in diesen Begriffen nicht wiederfindet. Oder, wie Kant es ausdrückt:

“Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.”

Doch was entgegnete Laplace, als Napoleon ihn über sein opus magnum befragte, und anmerkte, dass Laplace in seiner Beschreibung des Sonnensystems den Schöpfer nicht einmal erwähnt hatte? “Je n’avais pas besoin de cette hypothèse-là.” Genauso können wir den transzendenten Impuls anerkennen, ohne anzunehmen, dass er uns irgendwas über irgendwelche “höheren Prinzipien” verrät. Er zeigt uns vielmehr, dass der Mensch intelligent ist, dass er im Angesicht der kosmischen Weiten ehrfürchtig staunt, dass er empfindsam ist für Liebe und Leid und Schönheit. Man mag schnell geneigt sein, in diesen Empfindungen die Spiegelung von etwas Höherem zu sehen — aber ist es nicht eine nette und willkommene Einsicht, dass das Vermögen zum Staunen und Schaudern in Wahrheit schlicht eine Facette unserer bescheidenen Existenz auf Erden ist?

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