Gründer*innen, Innovator*innen, Botschafter*innen — welche Rolle hat Führung in einer Wellbeing Organisation?

Franziska Winterling
Leadership und Organisation
7 min readMar 20, 2021
Abbildung 1: Wie sieht Führung aus, wenn sie von Kontrolle und Macht entkoppelt wird? (Quelle: Eigene Darstellung)

Das Ziel vieler Wellbeing Organisationen ist es, ein Ort der Entfaltung, Kontribution und Kollaboration für ihre Mitarbeitenden zu werden. Dazu gehört es auch für Führungskräfte, einen Schritt zurück zu gehen, Macht abzugeben oder sogar auf komplette Selbstorganisation kleiner Teams zu setzen. Doch was bedeutet das für die Rolle der Führenden in einer Wellbeing-orientierten Organisation? Heißt das Anstoßen eines Transformationsprozesses in diese Richtung auch die Abschaffung der eigenen Rolle?

In diesem Beitrag schauen wir etwas genauer auf diesen Konflikt und stellen Leadership Formen vor, die für eine Wellbeing Organisation geeignet sein könnten.

Verantwortungseigentum und Selbstorganisation — wo stehen die Gründer*innen?

Zunächst haben wir uns der Frage der Leadership über Unternehmen genähert, die bereits stark werteorientiert aufgestellt sind und sich nach Prinzipien wie Selbstorganisation und Verantwortungseigentum strukturieren. Was hier klar wird ist, dass der erste Schritt der Veränderung in nahezu allen Fällen von den Gründenden ausgeht.

So ist es unter anderem auch beim nach Holacracy aufgestellten Unternehmen soulbottles: “Seit 2018 gehört soulbottles außerdem sich selbst im Verantwortungseigentum. Diese Veränderung wurde angestoßen von unseren Gründern, die eigentlich nie Chefs sein, sondern im Team etwas Gemeinsames schaffen wollten,” teilt Laura Zuckschwerdt, Head of Marketing bei soulbottles, im Magazin Neue Narrative.¹ “Das führte auch die Veränderung herbei, dass nicht mehr nur die beiden Gründer auf Veranstaltungen zu sehen sind, sondern wir alle. Ich finde es toll, dass wir alle soulbottles nach außen präsentieren können und denke, es kommt weniger auf ein bekanntes Gesicht an, sondern vielmehr auf Überzeugung, Herz und soul.”

Diese Beschreibung suggeriert, dass es nach der erfolgreichen Transformation hin zu Holakratie und Verantwortungseigentum auch in der externen Wahrnehmung keine einzelnen Leadership Persönlichkeiten mehr zu geben scheint. Ist das ein konsistentes Bild in vergleichbar strukturierten Unternehmen? Christian Kroll, Gründer der nachhaltigen Suchmaschine Ecosia, die sich ebenfalls in Verantwortungseigentum befindet, teilt dazu im selben Artikel: “Ecosia so zu führen, bedeutet natürlich auch, dass Mitarbeiter*innen sehr viel Verantwortung übernehmen. Obwohl wir als Gründer immer die letzte Verantwortung tragen, bin ich bei 99 Prozent der Entscheidungen nicht einbezogen. Das liegt daran, dass wir sehr viel Wert auf die Autonomie der Mitarbeiter*innen legen und ihnen und ihren Entscheidungen vertrauen.”

Auch wenn Kroll weitgehend selbstorganisierte Prozesse beschreibt, scheint sein Selbstverständnis als Unternehmensgründer doch klar definiert und vom Rest der Mitarbeitenden getrennt zu sein: bei ihm und seinem Mitgründer liegt einerseits die größte Verantwortung, gleichzeitig sind die Gründer auch die Personen, die ihren Mitarbeitenden Vertrauen entgegenbringen und den autonomen Prozess so erst ermöglichen und am Leben halten. Diese Differenzierung ähnelt der, die Frederic Laloux zwischen Empowerment durch eine Führungsperson im Vergleich zu ganzheitlicher Selbstorganisation aller Mitarbeitenden macht (hier mehr).

In einem Podcast² spricht Philip Siefer, einer der Gründer des Berliner Kondom und Periodenprodukte Herstellers Einhorn, ebenfalls über dieses Dilemma. Auch Einhorn befindet sich in Verantwortungseigentum und ist selbstorganisiert aufgestellt. Er beschreibt im Gespräch mit Matze Hielscher sein Bedürfnis, strategische Richtung oder innovative, disruptive Ideen ins Team zu geben, da er in der Selbstorganisation das Gefühl bekommt, dass Teams sich eher auf ihre eigenen Bereiche und Aufgaben konzentrieren und in denen entfalten, das große Ganze jedoch aus den Augen verlieren können.

Er beschreibt sich in der Diskussion jedoch selbst als “Gründer*innen Typ, der gerne etwas vortanzt”, also eine extravertierte Persönlichkeit, der es leicht fällt, ihre Meinung zu präsentieren und zu vertreten. Eine Sorge ist für ihn daher, insbesondere auch ruhigeren Kolleg*innen den Raum zu geben, Ideen zu teilen und voranzutreiben. Einen Lösungsansatz, den er für richtungsweisende Entscheidungen vorschlägt ist ein durch die Mitarbeitenden gewählter Innovationscouncil, der gezielt am “bigger picture”, innovativen Impulsen und neuen Strategien arbeitet. Dieser Council soll auch eine anonyme Sammlung von Innovationsideen berücksichtigen, um so auch stilleren Teammitgliedern die Möglichkeit zu geben, ihre Ideen einzubringen.

Mit Markus Wörner, einem Mitarbeiter bei Einhorn, haben wir zu dieser Thematik ebenfalls gesprochen. “Auch wenn wir intern ohne feste Hierarchien und selbstorganisiert arbeiten, gibt es in der Außenwahrnehmung noch die Tendenz, zuerst die Gründer anzufragen oder nach Jobtiteln zu suchen. Deshalb darf sich bei uns im Unternehmen jeder jeden Titel geben, den er oder sie möchte. Das ist total random, macht es aber manchmal einfacher in der Kommunikation.”

Ein komplettes Abwenden von jeglichen Führungspersönlichkeiten im Unternehmen scheint also (noch) nicht möglich zu sein: “Das ‘Ich’ sollten wir deswegen aber nicht aufgeben, sondern eine neue, reflektierte Form des ‘Ichs’ kultivieren, das sich anderen zuwendet und das große Ganze mitdenkt.”³

Im nächsten Absatz möchten wir uns daher damit beschäftigen, welche Leadership Formen im Zusammenspiel mit Selbstorganisation und in Wellbeing Unternehmen funktionieren könnten.

Was für neue Leadership-Formen eignen sich?

Abbildung 2: Verschiedene Leadership Formen im Vergleich (Quelle: Eigene Darstellung)

Drei Leadership Formen haben wir näher betrachtet, die alle der Kultur eines Wellbeing Unternehmens zuträglich sind. Diese sind:

Conscious Leadership > bewusste Führung

Der Begriff bewusst bedeutet im Fall dieses Führungsstils, dass alle Personen ein Bewusstsein für Führungsverantwortung im Unternehmen entwickeln und Entscheidungen treffen können, wo sie gebraucht werden. Ein weiteres Ziel ist, dass ihr Bewusstsein sich auch nicht nur auf das eigene Unternehmen oder sogar nur das eigene Team beschränkt, sondern sie eine offene Perspektive auf den Einfluss ihrer Handlungen für sich, andere und ihre Umwelt entwickeln.

Dieses Verständnis von Führung scheint noch stärker einen Mindset zu beschreiben, der sicherlich hilfreich und notwendig für alle Mitarbeitenden in einem Wellbeing Unternehmen ist, als eine Richtlinie für das Verhältnis von Mitarbeitenden und Führungspersonen zu geben.⁴

Laterale Führung

Diese Form des Führens wird als besonders sinnvoll für selbstorganisierte Teams gesehen, da sie auf einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserungen innerhalb eines Teams beruht. Steuernde Akteure an der Seite sind in diesem Fall gleichrangige Mitarbeiter mit Fachverantwortung und definierten Zielen, denen die üblichen Steuerungsmöglichkeiten eines Vorgesetzten nicht zur Verfügung stehen.

Dieses Verständnis von Leadership ist sicherlich hilfreich im Rahmen kleiner, selbstorganisierter Teams in Wellbeing Organisationen, die sich so fachliche Unterstützung holen können. Jedoch scheint sie nicht ausreichend für Beispielsweise die Rolle eines CEOs, der*die vielleicht keine fachliche Verantwortung für einzelne Projekte trägt, aber doch einen einzigartigen Blick auf das Unternehmen mitbringt.⁵

Humble Leadership > vorurteilslose Führung

Humble Leadership baut auf einer Führungskultur des Vertrauens und der Offenheit auf. Hierbei wird davon ausgegangen, dass die Humble Leaders in dieser Funktion als Vorbilder für ihre Mitarbeitenden fungieren und so auch eine positive und wertschätzende Kultur für Lernen und Innovation schaffen.

Humble Leadership ist insofern ein passender Ansatz auch für Wellbeing Organisationen, als dass ein Austausch und ein Lernprozess von beiden Seiten — also zwischen Leader und Mitarbeitenden — stattfindet. Allerdings scheint in diesem Modell auch viel von der Persönlichkeit des Leaders abzuhängen, diese muss in der Lage sein ein Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeitenden aufzubauen und daher sowohl über ein starkes Charisma als auch große Authentizität verfügen.⁶

Leadership in einer Wellbeing Organisation — Entscheider*in, Botschafter*in oder Weise?

Zum Thema Leadership Persönlichkeiten in Wellbeing Unternehmen haben wir auch mit Thomas Marschall diskutiert, der als einer der Gründer von The Facilitation Partners Unternehmen zu nachhaltigeren Geschäftsmodellen und Strategien führt. Er betonte die Wichtigkeit visionärer Führungspersönlichkeiten insbesondere im Transformationsprozess: “Auf dem Weg zur Selbstorganisation ist ein klares und inspirierendes Leadership, eine Person, die immer wieder die Fäden zusammenhält und neue Impulse gibt, unabdingbar.”

Gleichzeitig betont er auch, dass bereits in diesem Prozess Mitarbeitende auf die Selbstorganisation vorbereitet werden müssen, also mentale Kompetenzen ausgebaut und trainiert werden müssen. Als eine Gefahr starker Leadership im Transformationsprozess sieht er die Entwicklung einer patriarchalen Struktur, die von einer Einzelperson an der Spitze abhängt und nicht abgelegt werden kann. “Um dies zu verhindern, sollten alte, wiederkehrende Muster dauernd reflektiert werden.”

Auch beschreibt er den Leadership Zustand selbstorganisierter Organisationen als einen voller Grautöne. Während Selbstorganisation in vielen Bereichen funktionieren kann, geht es gerade langfristig kaum ganz ohne eine Person, die den Überblick behält und richtungsweisend agieren kann. Dies muss dann allerdings in klaren Ausnahmezuständen passieren und darf die Prinzipien der Selbstorganisation nicht zerfallen lassen.

Auch zur Rolle eines*r Leaders*in als Botschafter*in haben wir mit Thomas Marschall gesprochen — also einer Person, die zwar die Vision des Unternehmens verkörpert, selbst aber keine Entscheidungen trifft. Er bevorzugt in diesem Zusammenhang eher das Bild einer Ratgebenden oder Weisen. Das wäre in diesem Fall ein Leadership Verständnis ähnlich zu Frederic Lalouxs Selbstorganisation, in der ein*e CEO in große Entscheidungen zwar für Ratschläge und seine*ihre Perspektive involviert wird, jedoch keine finalen Entscheidungen treffen kann.

In jedem Fall zeigt diese Auseinandersetzung mit dem Bild von Führung in Wellbeing Organisationen allerdings, dass dieses kein starres Konstrukt ist, welches einmal festgelegt und dann umgesetzt wird, sondern eher ein Gleichgewicht zwischen Selbstorganisation und Führung, welches immer wieder aufs Neue reflektiert und ausgerichtet werden muss. Dies unterstützt auch die Forderung an Führende in einer Wellbeing Economy nach einer tiefgehenden Selbstkenntnis und Reflektionsbereitschaft der eigenen Verhaltensmuster.

¹ Ronja Lamberty “Ego Protokolle”, Neue Narrative, NN Publishing GmbH, Mai 2020.

² Matze Hielscher und Philipp Siefer “Gut Drauf im Februar 2021 — Wie geht’s weiter?”, https://podcasts.apple.com/de/podcast/hotel-matze/id1168045239?i=1000507940844 [abgerufen am 24.02.2021]

³ Louka Goetzke & Ronja Lamberty “Das Wir in Wirtschaft”, Neue Narrative, NN Publishing GmbH, Mai 2020.

⁴ “Warum ist Conscious Leadership wichtig?”, Conscious Leadership Academy, Vaterstetten, 2017. https://www.conscious-leadership.academy/deutsch/warum-und-wie/ [abgerufen am 24.03.2021]

⁵Christof Gellweilier “Was ist Laterale Führung?”, Computerwoche, 2021. https://www.computerwoche.de/a/was-ist-laterale-fuehrung,3550558?tap=78d4032e6701fdabbdfc325ceff8ea22&utm_source=Nachrichten%20mittags&utm_medium=email&utm_campaign=newsletter&pm_cat[1]=karriere%20allgemein&r=8716174861804671&lid=1746171&pm_ln=9 [abgerufen am 24.03.2021]

⁶ Oline Hiul “Innovation durch „Humble Leadership“ fördern”, Compleneo Consulting, Februar 2021. https://www.compleneo-consulting.de/resilienz/innovation-durch-humble-leadership-foerdern/ [abgerufen am 24.03.2021]

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