Erinnern heißt überleben: Warum wir Hiroshima auch 71 Jahre danach nicht vergessen dürfen.

Gerald Hensel
Neue Bellona
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7 min readAug 6, 2016
Bild von Christopher Balaskas (balaskas.deviantart.com)

Heute ist der 6. August 2016: Hiroshima Tag.

Vor genau 71 Jahren zerstörte ein amerikanischer Bomber namens “Enola Gay” die japanische Großstadt Hiroshima und unfassbares Leiden folgte für Hunderttausende. Wer sich ein Bild von den Effekten auf die Stadt machen will: auf meinem Blog davaidavai.com habe ich vor einiger Zeit ein 360° Panorama aus den Tagen danach gepostet.

Das Schicksal dieser Stadt leitete das Atomzeitalter ein. Und auch wenn es, wie in Tokio oder Stalingrad, Bombenangriffe und Schlachten mit mehr Toten gab, lautete die Botschaft des Untergangs der japanischen Hafenstadt für die Menschheit: Ab jetzt können wir unseren kompletten, unwiderruflichen Untergang selbst herbeiführen. Gnadenlos, in Minuten, unerbittlich.

Trauma Hiroshima

Die Geschichte von Hiroshima hat mich immer abgestoßen und fasziniert zugleich. Die allgegenwärtige Angst, die in meiner Kindheit, den Achtzigern, vor einem Dritten Weltkrieg spürbar war, hat mich mittelbar zu meinem Politik-Studium getrieben. Und dass ich mich seit jeher mit Sicherheitspolitik intensiv beschäftige, ist sicher auch ein Teil einer Traumatherapie, die “The Day After”, das “Fulda Gap” und “Die letzten Kinder von Schewenborn” bewirkt haben. Von Anton Andreas Guhas Roman “Ende” gar nicht zu reden.

Reforger-Übung 1985: Relativ gängig in meiner Kindkheit in Südhessen

Hiroshima hat Generationen beschäftigt und das Grauen der Überlebenden war Ursprung vieler Mythen — die einen anklagend, die anderen beschönigend.

Während Donald Trump in den USA derzeit so tut, als ob das atomare Tabu des Nichteinsatzes von Atomwaffen ein reines linkes Hirngespinst sei (“if we have them, why don’t we use them?”), versteigt sich der historische amerikanische Mainstream auf die bereits weitgehend widerlegte These, nach der, die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki alternativlos gewesen seien, um das fanatische japanische Kaiserreich nach einem entmenschlichenden Pazifikkrieg und vor einer noch blutigeren Invasion zur Kapitulation zu bomben. Ein technischer Prozess, den jeder amerikanische Schüler als gerechte Strafe und einzig mögliche Option für ein schnelles Kriegsende heute kennenlernt.

Wie Foreign Policy lakonisch zusammenfasst, ist diese — in Amerika fast schon automatisch geäußerte Replik jedes auch nur halbwegs historisch gebildeten Menschen-falsch. Nicht die Atombomben brachten Japan zur Kapitulation sondern der Einmarsch der UdSSR, der einen Tag vor Nagasaki losbrach: “The Bomb didn’t beat Japan…Stalin did.”

Japan, die Bombe und die Sache mit der eigenen Geschichte

Noch schwieriger verhielt sich nach dem Krieg das Verhältnis der Japaner zu den in der Weltgeschichte zwei einzigen Atombombeneinsätzen.

Die japanische Geschichtsschreibung in Sachen eigener Schuld ist mit nichts mit der deutschen Historien-Reflexion zu vergleichen. Leitende japanische Politiker pilgern nach wie vor zum Yasukuni-Schrein, wo auch japanische Kriegsverbrecher bestattet sind. Und Japans Premierminister Shinzo Abe hat sich erst 2015 zu einer halbherzigen Entschuldigung für die japanischen Verbrechen in China, Korea und anderen Orten Ostasiens während des Zweiten Weltkriegs hinreißen lassen. Wer mal nachlesen möchte, was ein durchschnittlicher japanischer Schüler über die Verbrechen seines eigenen Landes lernt, dem sei dieser Reddit-Thread ans Herz gelegt.

Kein Wunder, dass Japan die Atombomben nutzt, um sich gerne selbst als Opfer hochzustilisieren. Während Atombomber-Pilot Paul W. Tibbets nach eigener Aussage “nie eine schlaflose Nacht” deswegen hatte und in Amerika als Kriegsheld geführt wird, rückt in der japanischen Geschichtsschreibung das Schicksal von Hiroshima und Nagasaki in den Erinnerungsmittelpunkt. Die Massaker von Nanking? Pearl Harbor? Die abartigen Biowaffenexperimente der Einheit 731 in China? Diese Teile der japanischen Geschichte werden im offiziellen Narrativ Japans nur allzu gerne dem Gedenken an die eigenen Atomtoten geopfert. Und das, obwohl die tatsächlich zutiefst bemitleidenswerten Überlebenden der beiden Bomben es im Nachkriegsjapan alles andere als einfach hatten. “Hibakusha” (Explosionsopfer) galten im Japan der Nachkriegszeit als Unberührbare, die kaum Arbeit oder Ehepartner fanden. Oftmals ein Leben in den Leid, das neben psychischen, persönlichen und physischen Folgen viele Schmerzen im Alltag mit sich brachten.

Der barfüßige Gen

Eine der ergreifendsten Geschichten rund um den Untergang Hiroshimas hat Manga-Zeichner Keiji Nakazawa ab 1973 unter dem Titel Barfuß durch Hiroshima (jap. はだしのゲン Hadashi no Gen, dt. barfüßiger Gen) veröffentlicht. Der in Deutschland als vierteiliges Manga erschienene Manga ist ein absoluter Klassiker des japanischen Comics und gehört neben Art Spiegelmanns “Maus” zu den stilgebenden, wichtigen Büchern eines Genres, das man heute unter Graphic Novel zusammenfassen kann — also ein gezeichneter Roman, der oftmals politische Motive hat. Nakazawas Gen hat in der Comic-Welt wohl jeden Preis gewonnen, den man gewinnen kann und er ist vor allem eines: eine lose autobiografische Geschichte des Überlebens in Hiroshima und in den Jahren danach. Der Autor selbst hatte Vater, Bruder und Schwester am 6. August 1945 verloren — ebenso wie der sechsjährige Gen Nakaoka, der in “Barfuß durch Hiroshima” begleitet wird.

Gens Geschichte wurde mehrfach verfilmt (hier eine japanische Version, Teil 1 und 2). Ganz besonders möchte ich euch aber die vier auf deutsch erschienenen Mangas ans Herz legen, die Gens Leben vor, während und vor allem in den Jahren nach der Bombardierung seiner Heimatstadt erzählen. Ich weiß, das ist nicht unbedingt leichte, wenn auch sehr berührende und spannende, Lektüre. Aber in einer Welt, die unsicherer denn je scheint, und in der immer noch tausende Atomwaffen existieren, ist gerade das Erbe von Hiroshima wichtiger denn je.

Autor Nakazawa setzte sich Zeit seines Lebens gegen Atomwaffen ein und zeichnete bis 2009 weiter Mangas, ehe die Spätfolgen der Strahlung — unter anderem Diabetes und Grauer Star — ihn zum Vorruhestand zwangen. 2010 wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert. Am 19. Dezember 2014 starb er in seiner Heimatstadt Hiroshima. Er wurde 73 Jahre alt.

Es war so oft so kurz davor

Seit 1945 hat es keinen Atomeinsatz mehr gegeben. Aber mehr als einmal waren Menschen kurz davor.

Sowohl im Korea-Krieg als auch in Vietnam wurde mehrfach aktiv über einen Nukleareinsatz nachgedacht. Und alleine während der -ohnehin schon gefährlichen-Kuba-Krise, 1962, gab es mehrere Einzel-Fast-Unfälle, die jeweils für sich einen weltweiten Atomkrieg hätten auslösen können. So hatten sich zwei von drei sowjetischen U-Boot Offizieren während der Kuba-Blockade, die sich durch eine abgerissene Funk-Verbindung nach Moskau schon im Krieg mit den USA wähnten, unter Extrem-Stress für den Einsatz eines Atomtorpedos entschlossen.

Nur der Widerspurch des Offiziers Wassili Archipow verhinderte dies. Ein schwindelerregender Alternate History Thread, was passiert wäre, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, kann man hier lesen. Auch die ebenfalls äußerst knappe Periode im Herbst 1983, die unter “Nuclear War Scare 1983” in die Geschichtsbücher eingegangen ist, habe ich bereits vor einer Weile in dem Artikel “der Tag, an dem ich die Bombe lieben lernte”, gebloggt.

Erinnern heißt überleben

Wie man heute weiß, hat zu einer Zeit, in der der Kalte Krieg fast zu einem heißen Krieg geworden wäre, ein Film einen wesentlichen Teil zur Entspannung in einer extrem krisenhaften Zeit beigetragen.

Der Atomkriegsfilm “The Day After” wurde am 20. November 1983 im US-Fernsehen aufgeführt und hinterließ die US-Gesellschaft sprachlos. Erstmals führte ein Film den Amerikanern vor, dass ein Atomkrieg sie selbst in ihrem Herzland restlos vernichten könne. Der bis dahin als Cowboy und Kommunistenfresser verschriene US-Präsident Reagan bekam eine Kopie des Filmes ins Weiße Haus zugespielt. Laut den Memoiren von Edmund Morris war Ronald Reagan noch Tage nach der Filmvorführung schwer depressiv und nahm kurz danach Verhandlungen mit der Sowjetunion auf, die dann zum INF-Vertrag und der Abrüstung aller Mittelstreckenraketen in Europa führten. Wenig später zerfiel der Ostblock.

Eingang eines Minuteman-Atomraketensilos in den USA

Seit 1945 gab es keinen Atomeinsatz mehr. Aber anders als Klimaerwärmung oder Terror — die zunehmende und omnipräsente Themen sind-kann ein Atomeinsatz von nur wenigen der derzeit weltweit existierenden 16.300 Atomwaffen das Ende von uns allen bedeuten und kaum jemand weiß noch davon. Nicht nur durch weltweite Eskalation eines Atomkrieges sondern durch bedeutende Umweltfolgen. Selbst ein “lokaler” Atomkrieg mit “nur” 100 verhältnismäßig kleinen Atomwaffen, zum Beispiel in Kaschmir, hätte nach neuesten Studien einen wahrscheinlich zwanzig Jahre währenden weltweiten Winter mit potenziell Milliarden Toten zur Folge. Pakistan alleine hält derzeit ca. 130 Atomsprengköpfe.

Barefoot Gen, The Day After, Threads, War Day, Schewenborn — all dies sind Filme und Bücher aus einer Zeit, in der der Atomkrieg präsenter und möglicher schien. Machen wir uns nichts vor: die Wahrscheinlichkeit heute liegt dank Atomproliferation, Leuten wie Putin und der Möglichkeit, dass Irre wie Trump ins Weiße einziehen, deutlich höher als in weiten Teilen des meist eigentlich recht stabilen Kalten Krieges.

Lest diese Bücher und schaut diese Filme und zeigt sie anderen. Es könnte sein, dass diese Erinnerung unser Verhalten in Bezug auf Atomwaffen variieren könnte. Denn das nächste Hiroshima wird die Menschheit nicht überleben. Und auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: genau jetzt sitzen alleine in den USA über eintausend gefechtsbereite Atomsprengköpfe auf 449 Atomraketen, die in unter 30 Minuten jedes Ziel auf der Welt erreichen können.

Es gibt kein danach. Es gibt nur ein davor. Und das ist jetzt. Hiroshima ist aktueller denn je 71 Jahre danach.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.