The village of Novoselivka, near Chernihiv. Photo: Oleksandr Ratushniak / UNDP Ukraine CC BY 2.0

Ukraine Bookmarks 275

#3Links3Tweets am 275. Tag des Ukraine Kriegs

Gerald Hensel
Published in
5 min readNov 25, 2022

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#3Links3Tweets ist eine regelmäßige Rubrik, in der ich alle paar Tage drei lesenswerte Long-Reads und drei Twitter Snippets zum Ukraine-Krieg aufliste. Ein Art kuratierter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgrenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu.

Übrigens: Wer meinem Blog Neue Bellona auf Medium folgt, bekommt alle Updates zu Sicherheitspolitik und Ukraine. Alternativ kann man mir auch auf twitter folgen. Sorry. Oder am besten gleich auf Mastodon.

Der Ukrainekrieg am 25. November 2022

Mein letztes Update liegt zwei Wochen zurück — das war kurz nach der Eroberung von Kherson Stadt. Seitdem ist scheinbar nicht viel passiert und dann doch. Denn gestorben und gelitten wird in diesem abartigen Krieg, den Russland verantwortet, überall. Trotz aller Technisierung des Abschlachtens stellt aktuell die Ankunft des ukrainischen Winters alle Parteien vor große Herausforderungen. Schlamm, Kälte, Materialverschleiß: bei bis zu Minus 20 Grad ist ein Wintereinbruch in der Ukraine die zentrale Herausforderung für die ukrainische wie die russische Armee.

Traditionellerweise war es ja immer die russische Armee, die historisch von ihrer Verbundenheit mit “General Frost” profitierte. Oder war es die sowjetische Armee? Ist das das Gleiche im Kampf gegen die Ex-Sowjetrepublik Ukraine?

Anyway.

Dauernde russische Raketenangriffe auf ukrainische Energieverteiler sollen die ukrainische Bevölkerung zermürben. Laut Reuters waren heute, am Freitag, den 25. November, knapp 30% aller ukrainischen Haushalte ohne Strom. Heißt: Wahrscheinlich kein Wasser, keine Wäsche, kein Kühlschrank, kein Handy und auch keine lebenswichtigen Geräte wie Inhalatoren für kleine Mädchen…

Operationen am offenen Herzen werden in Kiew bei Taschenlampenschein durchgeführt.

Aber: auf einer zynischen Meta-Ebene ist der Terror eben auch ein Wettrennen um Ressourcen. Die Ukraine ist erstaunlich effektiv und schnell beim Wiederherstellen der Energie-Infrastruktur, dafür sind Russlands Vorräte an Präzisionslenkwaffen und fortgeschrittenen Marschflugkörpern endlich und die Depots sind zunehmend leer. Jeder einzelne Ch-101 Cruise Missile kostet, je nach Variante, 6–13 Millionen Dollar. Und das kann eben unter Druck westlicher Sanktionen nicht so einfach nachgebaut werden. Die Marschflugkörper gehen aus. Westliche Luftabwehr hilft bei Abschussraten von bis zu 75% definitiv.

Was auch hilft, sind sehr konkrete Dinge, die den ukrainischen SoldatInnen und der Zivilbevölkerung beim Überleben helfen. HIMARS braucht es aktuell weniger als Öfen, Generatoren und Winteruninformen. Hier hat die Ukraine einen klaren Vorteil. Während sich die russischen mobilisierten Familien-Papas tatsächlich jedes halbwegs warm haltende Uniformteil aufgrund der heftigen Korruption von zu Hause schicken lassen müssen (man achte auf die Buntheit der “Uniformen”)…

…kämpft Ukraines Armee in handgestickten Fjällräven Uniformen.

Okay…es ist nicht unbedingt Fjällräven. Aber Uniformen sind “Low Cost” Equipment und im Gegensatz zu Russland in großen Massen in sehr hoher Qualität verfügbar. Bei Minus 20 Grad ein wichtiger Beitrag für eine erfolgreiche Reconquista.

Ein sehr interessantes Bild zur Qualität von (bald) NATO Winter Uniformen postete Petri, auf dem das finnische M05 Winter-Tarn gezeigt wird. Ja, auf dem Bild sind drei Personen.

Oder, um es mit diesem Artikel zu sagen: “Russland ist kein Alliierter mehr von General Winter”.

Bei allem Rechnen, Abwägen und Taktieren ist es zentral, nicht zu vergessen, dass täglich in großem Stil auf beiden Seiten gestorben wird. Ein Account, dem ich gerade folge, das Front-Tote mittrackt, geht aktuell von knapp 400 toten Russen pro Tag aus. Multipliziert man das mit dem Faktor drei an Verletzten (das ist etwa die russische Quote in der Ukraine) reden wir über 1.600 Menschen, als Verluste alleine auf der russischen Seite. Täglich.

Das ist die Untergrenze der Mannstärke einer Bundeswehr Brigade. Die gesamte Bundeswehr hat acht Brigaden. Und die ukrainischen Verluste werden nur wenig geringer sein. Eine Woche Krieg alleine in Russland sind eine Bundeswehr.

Worüber wird gerade geschrieben?

Über die Tatsache, dass Millionen UkrainerInnen keinen Strom mehr haben und kaum Wasser bekommen, wird zwar täglich berichtet. Die Details bleiben uns aber verborgen. Hier ist es ja warm. Insofern merkt man eine Art Meta-Betrachtungsphase in der Berichterstattung. Wo keine Atomangriffe angedroht werden, das Fest naht und auch sonst kaum Spektakuläres für Zuhause zu berichten ist, ist tatsächlich wieder Zeit für interessante Artikel über Hintergründe und zeithistorische oder diplomatische Meta-Betrachtungen.

1. Spectator: “Die Rote Linie: Bidens und Xis geheime Ukraine Diplomatie”, Owen Matthews, 25. November 2022

Die These: Xi und Biden spielen zusammen mit Putin stille Diplomatie-Post um zumindest eine nukleare Eskalation managebar zu halten. Der Spectator Artikel zitiert dabei Quellen aus dem Umfeld der chinesischen Führung, die behaupten, dass Xi eine Art Mittelsmann zwischen Putin und dem Westen ist. Obwohl China zwar Russland unterstützt, sei auch die chinesische Staatsführung von Russlands nuklearen Drohungen überrascht worden. Xis Team hält danach in beide Richtungen die Kanäle offen, um mitzusteuern, zu warnen und zu managen.

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2. War on the Rocks: “Ukraine und die Zukunft der Offensive”, Stephen Biddle, 22. November 2022

Stephen Biddle kennt sich mit Krieg aus. Der Historiker und Politanalyst ist Autor des Buchs “Military Power: Explaining Victory and Defeat in Modern Battle”. In diesem hervorragenden Text für War on the Rocks hinterfragt er, was der Ukrainekrieg für die Zukunft von Offensive und Defensive bedeutet. Die Frage ist berechtigt: Im Zuge militärischer Innovation scheint aktuell nichts mehr wie zuvor zu sein. Loitering Munitions, Stealth Schiffsdrohnen, HIMARS, Javelin — die Ukraine ist eben auch ein großes militärisches Labor, in dem gerade das Undenkbare passiert: David besiegt Goliath. Nur warum? Dieser Text macht schlauer.

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3. Politico: “Polen — die neue militärische Supermacht in Europa”, Matthew Karnitschnig und Wojciech Kosc, 22. November 2022

Bis zum Ukrainekrieg war Polen immer eine eher mittlere europäische Militärnation. Das hat sich geändert. Die relativ moderate Armee wird auf 300.000 Mann ausgebaut. Während Deutschland auch nach der Zeitenwende das NATO Ziel von 2% Verteidigungsbudget-Anteil nicht schafft, steuert Polen auf 5% zu. Und Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak gab die Losung aus, dass Polen die stärksten Streitkräfte Europas haben soll. Über ein Land, das ernst macht.

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Drei Tweets

1. ChrisO_wiki, 14.11.2022

Ein sensationell guter Thread aus mehreren Tweets, den man nur mit einem Klick auf den Tweet komplett lesen kann. Es dreht sich dabei um eine Beschreibung des so genannten Kinburn Spit, eine Halbinsel auf der noch russisch besetzten Seite des Dnjepr, die mit ziemlicher Sicherheit das Invasionsziel für die ukrainische Armee zur Befreiung von Südkherson und der Krim wird.

2. JusticeNafo, 15.10.2022

Es ist Silvesternacht 2011 in einer russischen TV-Sendung. Der junge ukrainische Comedian Volodymyr Selensky tritt mit seinem Partner in einer Talentshow auf. In der Jury: ein ebenso junger, gut gelaunter Wladimir Solowjow. Der Dude mit dem Pulp-Fiction-Dance-Move, der heute Atomschläge gegen Kiew und London fordert. Die Welt ist ein kleiner Ort.

3. Seveerity, 20.11.2022

Russischer Angriff mit Brandmunition auf ukrainische Stellungen bei Bachmut. Die kleinen Fackeln brennen bei höchster Temperatur, fressen sich durch alles durch und sind kaum löschbar.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.