Mural des Minenspürhundes “Patron” im Kyiver Park Vidradny. Foto von Paul Bagmut. Link hier.

Ukraine Bookmarks 315

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
8 min readJan 6, 2023

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#3Links3Tweets am 315. Tag des Ukraine Kriegs

#3Links3Tweets ist eine kuratierte und kommentierte Liste an Links zum Ukraine Krieg, die ich gerade lesenswert finde. Ein Art bewerteter Mini-Presse-Reader zum schlimmsten und wahrscheinlich folgenreichsten Krieg in Europa seit 1945 mit den subjektiv lesenswertesten Posts dazu.

Übrigens: Wer meinem Blog Neue Bellona auf Medium folgt, bekommt alle Updates zu Sicherheitspolitik und Ukraine. Alternativ kann man mir auch auf twitter folgen. Sorry. Oder am besten gleich auf Mastodon.

Der Ukrainekrieg am 6. Januar 2023

Frohes Neues Jahr, wünsche ich. Ich hoffe, ihr seid alle gut reingekommen und konntet die Feiertage etwas genießen und ausspannen.

Seit meinem letzten Update im Dezember haben sich die Hotspots an den ukrainischen Frontlinien geografisch kaum geändert, wenn sich auch die sicherheitspolitischen Themen zunehmend in eine neue Richtung bewegen. Man merkt beiden Seiten förmlich den Zwang an, mit dem Jahreswechsel 2023 zum Jahr des Sieges zu deklarieren. Offensichtlich basiert diese Idee nicht nur auf militärischen Ressourcen sondern vor allem auf einem psychologischen Momentum. Denn um “siegreich” zu sein, müssen sich beide Seiten ihre Sicherheit bestätigen, dass es überhaupt nur eine Frage der Zeit ist, bis das geschafft ist. Nationen,die nicht daran glauben, dass die Opfer, die sie bringen, zum Erfolg führen können, werden das auch nicht versuchen. Also bietet sich gerade ein Jahreswechsel für psychologische Mobilisierungsversuche auf beiden Seiten an — gleich wie die Realität aussieht.

Mobilisierung ist weit mehr als ein Mix aus Logistik, Propaganda und Ressourcen. Es ist auch ein Wettbewerb der Führungsstile zweier Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Anders als Putin, der tatsächlich mit einer kleinen Entourage an Schauspieler:innen Nähe an erfundenen frontnahen Orten simuliert und Orden verteilt an Soldat:innen, die keine sind, ist das Engagement der Familie Selensky echt und überzeugend. Selenskys persönliches Involvement, seine dauernden, fortwährenden Frontbesuche und die Februar 2022 Entscheidung, Kiew im Zuge der russischen Invasion nicht zu verlassen, hallen nach. All diese öffentlichen Handlungen haben einen entscheidenden Effekt auf die Psyche der Ukrainer:innen sich zu verteidigen. Die extrem hohen Zustimmungswerte zu seinem Kurs und die Unterstützung in der Armee sind aktuell wahrscheinlich der wichtigste Faktor, um die kriegsgeschüttelte Gesellschaft auf Kurs zu halten:

Kein Wunder, dass AP gerade Selenskys Zitat vom 26.2.2022 zum Zitat des Jahres kürte. Unter Eindruck der russischen Invasion empfahlen westliche Geheimdienste dem Präsidenten sich und seine Familie aus Kiew zu evakuieren. Seine Antwort “I need ammunition, not a ride”, 🖕 verdient ohne Zweifel eine Auszeichnung unter den “Most-Badass”-Politiker:innen-Zitatelisten der Neuzeit.

Selenskys persönliche Rolle wird auch in Russland gesehen und durchaus neidisch kommentiert. Der unabhängige russische Medienkanal Important Stories hat mit einem russischen Frontsoldaten in der Nähe von Bakhmut gesprochen, der sagt, dass der Besuch von Zelensky eine beeindruckende Wirkung auf die Ukrainer hatte, “als ob man ihnen eine Art Weihwasser verabreicht hätte”.

An den Fronten der Ukraine ist seit Wintereinbruch das Wetter die zentrale Rahmenbedingung für militärische Aktionen beider Seiten. Das umfasst strategische Maßnahmen der Russen (Zerstörung der Energieversorgung) ebenso wie die Frage, ob und wie viel Bewegung für Offensiven derzeit möglich ist. Da geht nämlich derzeit immer noch nicht viel. Mit Ankunft der großen Kälte in den nächsten Tagen verändert sich das möglicherweise noch einmal stark: auf zugefrorenem Boden können mechanisierte Kräfte sich wieder bewegen.

Wesentliche militärische Themen seit Dezember daher:

  • Dauernde russische Angriffe mit Drohnen und Raketen auf das ukrainische Energienetz halten an. Klar wird, dass nach mehreren tausend Schlägen mit Raketen und Marschflugkörpern Russland kaum noch Vorräte dieser komplexen Lenkwaffen hat und die Produktion neuer Raketen den Bedarf nicht ansatzweise decken kann. Dieses Netto-Minus muss nun vor allem durch iranische Drohnen ausgeglichen werden. Die sind zwar deutlich weniger leistungsfähig als die großen Iskander und Kalibr Raketen aus russischer Produktion. Aber sie sind billig und verfügbar. Wer sich hier für Detail-Einschätzungen interessiert, sollte diesem Link folgen.
  • Die Schlacht von Bakhmut ist und bleibt der Fokuspunkt des Krieges. Die Schlacht von Bakhmut hält nun schon seit Mai 2022 als eine Serie von ineinandergreifenden Schlachten an. Die Bedeutung des mittlerweile weithin zerstörten Städtchens ist zunehmend psychologisch und rechtfertigt kaum noch den militärischen Wert. Dennoch versuchen russische Truppen die Stadt einzuschließen, was ihnen trotz massiven Einsatzes von Menschen, die einfach ins Feuer geschickt werden, kaum gelingt. Die Stadt Bakhmut selbst wird von der Ukraine gehalten. Bewegung findet aktuell primär nördlich von Bakhmut statt. Russisches Ziel: Die Stadt zu umschließen.
  • Ukrainische Störaktionen gegen russische Mobilisierung. Die Ukraine versucht derzeit erfolgreich, gegen den Austausch russischer Soldaten vorzugehen. Heißt: Russische Truppenansammlungen meist mit mobilisierten Männern, die die russischen Trenches verstärken sollten, werden mit HIMARS angegriffen und zerstört. Die Tage rund um Neujahr waren mit die blutigsten Tage aus russischer Sicht. Alleine der HIMARS Schlag gegen eine requirierte Schule in Markiivka tötete zwischen (mittlerweile auch in Russland offziell gemachten) 80 bis hin zu 700 Soldaten. Die Tage danach waren für Putin nicht besser.

Und dann gibt es da noch dieses subjektiv von mir so empfundene Summen, dass sich die Dinge bald wieder verändern und noch größer werden könnten als bisher schon. Einige Dinge sprechen dafür:

  • Putins “Waffenruhe” übers orthodoxe Weihnachtsfest: Eine offensichtliche Propaganda-Aktion, die aber dennoch auch bedeuten kann, dass restrukturiert und reorganisiert wird. Bakhmut hätte laut Planung ja bereits seit Jahreswechsel genommen sein sollen. Da ist Druck auf der Düse.
  • Gerüchte rund um neue Mobilisierungsrunden: Offiziell ist die “Teil”mobilisierung in Russland für den Moment abgeschlossen. Das bedeutet nicht, dass nicht trotzdem mobilisiert und mit allen möglichen Tricks gearbeitet wird, um Männer in die Ukraine zu treiben. Dass möglicherweise auch eine neue, wirklich große Welle an offiziellen Mobilisierungen unmittelbar bevorsteht, kündigte Ukraines Verteidigungsnminister Oleksii Reznikow in seiner Neujahrsbotschaft an die Russ:innen an. Er rechnet mit baldigen Grenzschließungen, Notstand- oder Kriegsrecht und hohen neuen Mobilisierungszahlen.
  • Gerüchte rund um neue Offensiven: Wie bereits erwähnt, ist das Wetter derzeit der limitierende Faktor in allen militärischen Fragen. Matsch und Kälte vertragen sich weder mit Mensch noch mit Maschinen. Wenigstens den omnipräsenten Matsch stoppt die baldige Kaltwetterperiode, die in der zweiten Winterhälfte in der Ukraine wieder mehr Bewegung erlaubt. Panzer mögen gefrorene Böden. In diesem Kontext gab der ukrainische Geheimdienstchef gerade ein Interview, in dem er von einer baldigen ukrainischen Offensive mit dem Höhepunkt März 2023 sprach.
  • Zäsur westlicher Waffenlieferungen: Die Ankündigungen von USA, Frankreich und Deutschland leichte Panzer an die Ukraine zu liefern, ist eine Zäsur. In einer etwas konfus wirkenden Ankündigung, die einigen Zweifel über das deutsch-französische Verhältnis offenbart, kündigten Biden, Macron und Scholz die Lieferung einer Waffenkategorie an, die bisher aus westlicher Produktion noch nicht der Ukraine zur Verfügung gestellt wurde: Amerika liefert 50 Bradley Infanterie Kampffahrzeuge plus Waffen und Material. Frankreich steuert den Aufklärungspanzer AMX-10 bei und Deutschland den schon lange erbetenen und angemahnten Marder Panzer plus eine Patriot Luftabwehrbatterie.
Es bleibt abzuwarten, wann die Kavallerie kommt. Die Zusage alleine muss aber tatsächlich als wichtige Zäsur gelesen werden. Zwar reden wir bei den zu liefernden Systemen noch nicht über echte Kampfpanzer. Aber der Westen liefert nun eigene Systeme, die dieser Definition sehr nahe kommen. Das ist definitiv eine Zäsur und deutet darauf hin, dass man Dinge weiß oder plant, die große Veränderung bedeuten. Eins ist sicher: 2023 wird eher noch brutaler und geopolitisch dynamischer (not in a good way).

Abzuwarten bleibt zwar, wann diese leichten Panzer tatsächlich geliefert werden und in welchem Modernisierungsstatus. Aber es handelt sich bei der Lieferung dieser ersten leichten Panzer aus westlicher Produktion um eine echte Zäsur. Wenn sogar die zögerliche, ängstliche Bundesregierung handelt, scheinen die Geheimdienste über Wissen zu verfügen, die auf nichts Gutes 2023 ahnen lassen. Mein Tipp wäre tatsächlich die nächste große russische Mobilisierung, die ohne massive, neue Fähigkeiten eine echte Bedrohung für die Ukraine werden könnte.

Drei Artikel rund um den Jahreswechsel, die man lesen sollte

Bei meiner Ukraine-Leseliste versuche ich mich vor allem auf Artikel zu fokussieren, die einen grundsätzlichen, langfristigen Wert haben. Dazu gehörten die nachfolgenden drei Links für mich in den letzten Tagen:

1. Washington Post: “Inside the Ukrainian counteroffensive that shocked Putin and reshaped the war”, Isabelle Khurshudyan, Paul Sonne, Serhiy Morgunov und Kamila Hrabchuk, 29. Dezember 2022

Wenn ich ein internationales, digitales Zeitungsabo für Polit-Freaks aktuell empfehlen möchte, dann die Washington Post. Der nachfolgende Artikel ist ein Beispiel für den Ausnahme-Journalismus der Post auch in Sachen Ukraine-Berichterstattung, die einfach um Längen besser ist als alles, was in Deutschland dazu geschrieben wird (obwohl wir näher dran sind). Der nachfolgende Artikel ist eine Chronologie der zwei kriegsverändernden ukrainischen Offensiven im Spätsommer und Herbst 2022: Der schnellen Kharkiv- und der langsamen Kherson Offensive. Beides spektakuläre Erfolge mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen aber akribischer Planung. Der Text spannend zu lesen, kenntnisreich und basiert auf 35 Interviews mit Top-Entscheider:innen, die damit befasst waren. So einen Zugang muss man als Medium auf internationaler Ebene auch erst mal haben. Aus zeithistorischer Perspektive ein Muss.

2. Der Standard: “Moskau raubt hunderttausende ukrainische Kinder”, Stefan Brändle, 22. November 2022

Eine besonders bittere und den russischen Feldzug zweifellos als Genozid qualifizierende Teil-Tragödie umfasst die groß angelegte Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland. Der Maßstab dieser unglaublichen Bösartigkeit ist so umfassend, dass er Einfluss auf den Fortbestand der ukrainischen Nation hat. Bis 2100 wird sich — auch als Folge von Krieg und Verschleppung — die Anzahl an Ukrainer:innen halbieren. Entführte ukrainische Kinder sind ein wesentlicher Faktor dabei. Aktuell rechnet eine in dem Artikel erwähnte französische Hilfsorganisation mit 300.000 ukrainischen Kindern, die aus der Ukraine nach Russland gebracht und dort zum Teil adoptiert werden sollen, obwohl sie zum großen Teil Eltern in der Ukraine haben. Eine Zahl, die im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße knapp einer dreiviertel Million deutscher Kinder entspricht.

3. Bundesregierung: “Military Support for Ukraine”

Im Zuge der oben angesprochenen Marder-Lieferungsankündigung hat die Bundesregierung ihre rollierende Liste an Liefergegenständen für die Ukraine auf Stand gebracht. Deutschland liefert, und das ist gut so. Deutschland liefert aber fast immer nur unter Druck von außen und ohne eigenen Führungsanspruch. Das ist nicht gut. Dennoch: Die nachfolgende Liste gibt einen guten Eindruck von der Größe und Komplexität der Unterstützung für die Ukraine. Marder-Panzer sieht man. Feldküchen, Thermo-Unterwäsche und Krankenhausbetten sieht man nicht. Interessant, sich die Komplexität der Logistik mal anzuschauen.

Drei Tweets, die ich schlau fand

1. Julia Davis: Hunger Games Silvester Gala in Moskau

Als nur mit “Hunger Games” vergleichbar wurden die Ausschnitte aus der russischen Kanal 1 Silvester Gala unten bereits bezeichnet. Die Analystin Julia Davis macht einen super Job, russische Medien zu sehen und aufzubereiten. Die Silvester-TV-Gala 2022/23 war dabei in Sachen dystopischen Fremdschämpotenzials kaum zu überbieten. Neben seltsam hölzernen Zuschauer:innen überboten sich die Gäste mit zynischen Endsieg-Fantasien in megakitschiger Winter-Wonderland Kulisse. Ganz, ganz gruselig. Muss man gesehen haben.

2. Jay in Kyiv: Neujahrsansprache des ukrainischen Verteidigungsministers Oleksii Reznikow

Neben Präsident Selensky ist der ukrainische Verteidigungsminster Oleksii Reznikow mittlerweile einer der profiliertesten und sichtbarsten Regierungsvertreter:innen. Seine diesjährige Neujahrsansprache ist durchaus psychologisch und richtet sich vor allem an Russ:innen.

3. War Mapper: Territorialgewinne in der Ukraine 2022

Unter allen OSINT-Accounts, die im letzten Jahr viel datenbasiertes Wissen rund um den Ukraine Krieg geschaffen haben, ist War Mapper einer der umtriebigsten. Das Account sammelt und generiert Geo-Daten zum Ukrainekrieg und teilt sie. Interessant fand ich die Tweets unten, in denen es um Territorialgewinne Russland und der Ukraine 2022 ging. Bottom Line: Russland gewann initial Territorium im Februar und März 2022. Seitdem verliert das Land (mit Ausnahme vom Sommer 2022) systematisch Boden.

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Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.