Mural in Kiew

Ukraine Daily: Karten

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
5 min readMar 7, 2022

--

Eine mittlerweile recht regelmäßige Kolumne mit ganz subjektiven Lageeinschätzungen zur Ukraine. Geschrieben von jemandem, der sich viel mit Sicherheitspolitik beschäftigt hat und aktuell viel zu schlecht schläft. Ich bin kein Journalist und schreibe diesen Blog nebenbei. Man sehe mir also Unperfektionen nach. Meine Twitterlist zur Ukraine-Krise ist hier. Der Artikel von gestern ist hier. Updates und die Übersicht zum Blog Neue Bellona gibt es hier.

➡️ Montag, 7.3.2022, abends:

Alle Politologen kennen Max Webers Unterscheidung in “Macht” und “Herrschaft”. „Macht”, so Weber, “bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ “Herrschaft” bedeutet hingegen, “dass man die Möglichkeit bekommt, einen Willen (Befehl) zu äußern, der auch befolgt wird.” Herrschaft ist also ein „System von Befehl und Gehorsam. Macht, die „legitimiert, […] dauerhaft anerkannt und institutionalisiert ist“, wird als legale Herrschaft bezeichnet.

Oder kurz, es ist alles das, was Vladimir Putins Truppen in der Ukraine nicht haben. Jeder moderne Staat will es auf das Level von Max Webers legaler Herrschaft schaffen. Seine Institutionen, seine Armee, seine Polizei wollen nicht nur Macht anwenden — in der Lage zu sein den Bewohnern eines Landes Schaden zuzufügen oder sie einzusperren, wenn sie nicht gehorchen. Um einen funktionierenden Staat zu schaffen, muss man toleriert sein von diesen Bewohnern. Sie müssen einen für legitim halten. Sie müssen auf die Gesetze mehr oder minder achten wollen, weil sie sie für wichtig und richtig erachten. Vladimir Putins Truppen haben in einigen Landesteilen Macht. Die Herrschaft werden sie durch diesen Krieg nie mehr erringen.

Karten: Wie visualisieren wir Informationen richtig?

Kennst du die beste Infografik der Welt?

Oder besser gesagt: die erste gute Infografik der Welt? Es ist Charles Joseph Minards Infografik von 1869 von Napoleons Marsch nach Moskau und zurück im Jahr 1812. Die Karte beschreibt nicht nur eine geografische Dimension sondern auch die Größe der Grande Armée auf ihrem Feldzug.

In ihr verdeutlich sich nicht nur eine “schöne” oder “interessante” Visualisierung von Information. Sie zeigt eben auch, dass Karten in Kriegszeiten vielschichtige und komplexe Informationen tragen können. Das Sterben von Napoleons Armee in Russland kann Geschichte visualisieren aber auch Wut erzeugen. Es kann Napoleon lächerlich machen oder Russland als Gegner stark dastehen lassen. Gleich wie man es interpretiert. Das ist eben nicht nur eine Karte. Es ist eine komplexe Infovisualisierung mit potenziell politischer Botschaft.

Aktuell entzündet sich an der Darstellung der russischen Invasion auf Ukraine-Karten eine Diskussion, die viel mit Max Weber zu tun hat. Denn was sehen wir, wenn wir auf diese Karte schauen?

Oder auf diese Karte?

Wir sehen besetzte Gebiete. Wir sehen Kontrolle. Wir sehen, wer “Herr im Hause” ist. Die bietet nur einen Rückschluss, was in der roten Fläche passiert: “Area under Russian Control”.

Tatsächlich?

Wir sehen aktuell viel Orte, an denen russische Truppen sind oder waren.

Aber wir sehen eben auch sehr viele Orte, an denen das nur recht vorübergehend der Fall war. Videos von Kämpfen oder überraschenden Raketenangriffen auf Trucks, Helikopter oder Tanks spare ich mir. Denn die zeigen, dass man ganz und gar nicht die Kontrolle hat. Um das zu beweisen reichen schon die vielen Bilder von im Schlamm feststeckenden russischen Luftabwehrsystemen, die die UkrainerInnen einfach einsammeln…

…oder aber die zunehmende Schwemme an Videos von ukrainischen Bauern, die russische Schützenpanzer abschleppen und zu ihrer neuen Verwendung abtransportieren.

Offensichtlich müssen die Orte, an denen diese Panzer stehen, im russischen Vormarschgebiet gewesen sein, sonst stünden sie nicht da. Aber was bedeutet ein Vormarsch, wenn man wahlweise von den Einwohnern beschossen, verlacht oder abgeschleppt wird? Wie viel Kontrolle hat man da?

Dr. Mateusz Fafinski wies in einem sehr lesenswerten Thread über die Rolle von Karten in der Info-Warfare auf das historische Verständnis von Karten hin und wie es sich verändert hat.

Karten seien über lange Zeit an einer Art Idee des Staates ausgerichtet gewesen, die eine Art Rolle des Souveräns vor allem repräsentieren mussten. Sie sollten Landesgrenze an Landesgrenze zeigen und alles darin, repräsentiere ein Land, egal, was wirklich da geschah.

Dies funktioniere aktuell aber in der Ukraine überhaupt nicht und solle deshalb auch nicht auf Karten so visualisiert werden. Weder seien Zonen der Kontrolle von Putins Armee etabliert (Administration hergestellt, dauerhafte Besetzung und Organisation der Lebensumstände sichergestellt), noch wird diese von den UkrainerInnen akzeptiert. Wer Flächen auf Ukraine-Karten für Putins Armee einfach rot einfärbt, unterstützt damit sein Narrativ einer starken, akzeptierten Armee, die einen Gegenstaat errichtet und damit ein Stückweit auch anerkannt wird.

Alternative Kartendarstellungen sollen eine korrektere Geschichte der Besatzung erzählen. Denn Putins Invasionsarmee mordet, aber sie kontrolliert nichts. Sie terrorisiert aber sie hat keine Legitimation. Sie steht in Kolonnen auf Straßen, beißt sich im ukrainischen Schlamm fest und verbarrikadiert sich in Wäldern, sie kontrolliert und administriert aber keine Gebiete.

Bei den täglichen Briefings des Fortschreitens von Putins Angriffskrieg mit Karten wandelt sich deshalb langsam die Darstellung. Statt “Kontrolle suggerierenden” Flächen wird die Info-Visualisierung des russischen Vormarschs mit Pfeilen dargestellt.

Dies gewöhnen sich mehr und mehr Menschen an. Twitter UserIn @ukraine_world gibt zu seiner/ihrer Karte als “Gebrauchsanweisung” noch einmal mit, dass Putin “KEINE Gebiete im Norden, Osten und Süden kontrolliere sondern ausschließlich Straßen, die in rot markiert sind und in denen die Invasoren den wütenden Widerstand der BewohnerInnen zu spüren bekommen.”

Lange Rede, kurzer Sinn: Karten waren — als Infovisualisierungstool verstanden — auch immer Machtmittel. Sie sollten zeigen, wem welches Gebiet gehörte und damit manipulierten sie auch die, die die Karte nutzten. Lasst uns Medien daran erinnern, dass sie eine Geschichte erzählen mit ihren Karten. Lasst diese Geschichte nicht Vladimir Putins Märchen vom gut laufenden Krieg in der Ukraine sein. Das ist er nicht.

Was man heute lesen sollte:

--

--

Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.