Paris via @UmlandAndreas

Ukraine Daily: Numbers

Gerald Hensel
Neue Bellona
Published in
14 min readMar 6, 2022

--

Eine mittlerweile recht regelmäßige Kolumne mit ganz subjektiven Lageeinschätzungen zur Ukraine. Geschrieben von jemandem, der sich viel mit Sicherheitspolitik beschäftigt hat und aktuell viel zu schlecht schläft. Ich bin kein Journalist und schreibe diesen Blog nebenbei. Man sehe mir also Unperfektionen nach. Meine Twitterlist zur Ukraine-Krise ist hier. Der Artikel von vorgestern ist hier. Updates und die Übersicht zum Blog Neue Bellona gibt es hier.

➡️ Sonntag, 6.3.2022, früh morgen:

Ich habe gestern mal eine kleine Neue-Bellona-Pause gemacht. Ein klein wenig Normalität in einer absolut unnormalen Zeit. Aber so lange man den Luxus hat, sich auch mal aus dem Horror im Osten rausziehen zu können, sollte man es tun, sonst wird das schnell toxisch. Mentalen Social-Media-Selbstschutz habe ich in anderen wilden Zeiten bereits gelernt.

Heute geht’s um Zahlen. Zahlen sind wichtig, um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, was in der Ukraine passiert. Zahlen helfen uns zu verstehen, wo Putin steht und was er noch machen kann. Wie immer gilt: Alles komplett subjektiv. Aber darum geht’s mir ja auch hier.

“Erster Social Media Weltkrieg” wurde der Krieg in der Ukraine bereits genannt. Ein Gedanke, der stimmt. Denn der Krieg mag lokal stattfinden und zieht Folgen weltweit nach sich. Social Media kann dabei vieles bedeuten: Egal, ob schlau oder dumm, optimistisch oder dystopisch. Vom Verschwörungstheoretiker bis zum NATO-Generalsekretär, von der RAND Corporation bis zur Beauty Bloggerin ist alles dabei. Vom Reifenexperten (siehe unten) bis zum russischen Bomberpiloten sind alle Teil eines globalen Info-Wars. Und sie sind auch Opfer davon. Und die UkrainerInnen? Auch die tun das, was alle in ihrer Situation tun würden: Sie knipsen, filmen und sharen ihre Wut, ihre Toten und ihre Helikopter-Abschüsse…

Für uns alle bedeutet das etwas, was es in Kriegen noch nie gegeben hat: Wir haben so viel Informationen aber so wenig Transparenz wie nie. Die globale Kakophonie an Stimmen überfordert uns maximal. Nicht das Gefühl nichts zu wissen, ist so drückend. Es ist das Gefühl, bloßen Noise und echtes Wissen nicht mehr auseinanderhalten zu können und dabei kontinuierlich manipuliert zu werden.

Um in dieser Situation bei Verstand zu bleiben, ist eine Frage wichtig: Was ist Wirklichkeit? Und mit welcher Zukunft muss ich unter welchen Umständen rechnen? Und das unter Maßgabe, dass man gefühlt gar nichts weiß. Denn die letzten 40 Jahre sicherheitspolitischer Enthaltsamkeit machen es vielen von uns nicht einfacher, zu verstehen, was da vor sich geht.

Unsere Problem: Sicherheitspolitischer Analphabetismus

Jede Generation ist Produkt ihrer Zeit — im Guten wie im Schlechten. Millenials haben aktuell besonders große Probleme, mit ihren Gefühlen akuter Unsicherheit klarzukommen, weil sie Sicherheitspolitik systematisch verlernt (bekommen) haben. In den Zeiten ihrer Jugend und Adoleszenz war es nahezu komplett verpönt über Themen wie Rüstung, Bundeswehr oder dergleichen mehr überhaupt zu reden. Es war ein Unthema, das uns eben nun auch psychologisch sehr verwundbar gemacht hat. Die Gründe sind offensichtlich:

Nach dem Fall der Mauer, schrieb Francis Fukuyama 1994 in seinem Buch “The End of History”: “What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of postwar history, but the end of history as such: that is, the endpoint of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.”

Fukuyama hatte damals überaus großen Einfluss mit der Idee einer besseren Welt, weil er Ideologien mit Glück und Wohlstand verknüpfte. Wenn es keinen Kommunismus (in der UdSSR) mehr gibt, folgen also Liberalismus und eine glückliche Welt. Die 90er und 2000er reagierten darauf mit einer Zeit, die grundhedonistisch, komplett marktliberal und absolut politbefreit war. Von der Love Parade bis zum Arschgeweih, von Bill Clinton bis zum Dschungelcamp: Leben, feiern, Party machen war die Devise. Raushauen, was geht.

Eine sehr politisierte Welt wird plötzlich unpolitisch. Und das in einem fließenden Übergang. Man erinnert sich noch an das anarchische junge Berlin der frühen 90er. Das Berlin, wo Wohnungen an den Hackeschen Märkten besetzt wurden und Aktionskunst in Mitte-Hinterhöfen stattfand. Das alles geboren aus den Trümmern des Kalten Krieges und in den 90ern bündig übergehend in die Welt von Doktor Motte und Big Brother.

Ulrike Franke zitiert in einem sehr lesenswerten Artikel in “War on the Rocks” wie über Zeit bei speziell deutschen Millenials die Sicherheitspolitik als Thema aus der Gleichung fiel — das neue deutsche Problem nach 30 Jahren Frieden. Sie zitiert dabei den alten Freundeskreis-Song “Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte.”

Viele Menschen schrecken zurück wenn sie „Geschichte“ hören
Geschichte
Vier langweilige Stunden pro Woche in der Schule
Oder was, das lange her ist oder immer ohne einen passiert

Und weiter:

Since 1989, very little has happened in Germany.

Of course, the world has not stood completely still during the last 30 years. But from 9/11 to the Global War on Terror to the financial crisis, these events did not happen to us. The Bundeswehr went into a war in Afghanistan, but this did not impact society at home. The 2003 Iraq invasion made some millennials demonstrate against American imperialism, but otherwise, it was far removed from our reality. The conflicts of the world seemed a testimony of the fact that others had not yet understood that ideological fights were futile. The financial crisis perhaps came closest to being a defining event for German millennials, but since Germany managed to get through it so well, it only reinforced the sense that Germany had a better system than most.

Franke endet mit den Worten, die deutsche Millenials eben genau nicht zum Mantra unserer neuen Zeit lassen sollen:

I am not complaining that my generation had a great childhood — stable, secure, and full of convictions that the future would be even better. But we grew up in an exceptional world that we considered normal. Now that international politics is changing, we are lost.

Die Frage ist: Was ist die Frage?

Weitgehender sicherheitspolitischer Analphabetismus bei gleichbleibend hoher Befeuerung der eigenen Synapsen im Rahmen des “Ersten Social Media Weltkriegs”, lässt aktuell fast jeden komplett überlastet zurück. “Doom-Scrolling” ist meiner Meinung nach ein Top-Anwärter auf das Wort 2022. Ein Prozess, in dem man mit leicht geöffnetem Mund regungslos auf Feeds schlimmer Ereignisse starrt und zunehmend gelähmt wird.

Aber wovor haben wir eigentlich Angst? Gespräche mit Freunden, ein Spaziergang über einen Markt gestern, brachten sehr viele Themen zum Vorschein, die alle da sind und Sorgen machen, aber die grundsätzlich eine zentrale Frage umfassten: Wie gefährlich wird das alles für mich und meine Familie? Das Problem ist: Jede Frage, die man zur aktuellen Situation aus einer berechtigten Angst heraus stellen könnte, müsste wieder zu Rückfragen zur initialen Frage führen, die zum Beispiel so aussehen:

  • Setzt Putin Atomwaffen ein? (Vor welchem Typ Atomwaffen fürchtest du dich in welchem Kontext am meisten? Gibt es ein Szenario, das dir besonders Sorgen macht?)
  • Ist “der” verrückt? (Was bedeutet verrückt? Redest du über Kontrollverlust oder größenwahnsinnig?)
  • Überfällt Putin die NATO? (Glaubst du, er will das? Glaubst du er kann das? Glaubst du, wir können uns nicht verteidigen im Zweifelsfall?)

Vielleicht lohnt es sich deshalb doch noch mal etwas zu tun, was fast nie getan wird: Wir machen mal einen minimalen und völlig unvollständigen Schnelldurchlauf durch Russlands geopolitische Ressourcen aktuell.

Zahlen: Russland im Kontext

Spielen wir mal Geopolitik.

Mit 144 Millionen Einwohnern wäre Russland die bevölkerungsreichste europäische Nation, wenn ihr Staatengebiet nicht von der polnischen Grenze bis zum Japanischen Meer reichen würde. Sie ist eben nicht nur eine europäische Nation sondern das größte Land der Welt, das mit 17 Millionen Quadratkilometern knapp 11% der Landmasse der Welt umfasst (Quelle Wikipedia). 23 Prozent des russischen Territoriums entfallen auf den europäischen Kontinent, die restlichen 77 Prozent werden Asien zugerechnet. (Quelle: Handelsblatt)

Quelle: Wikipedia

Russland ist zugleich extrem dünn besiedelt. 9 Menschen pro Quadratkilometer. In den USA sind es 62. In Deutschland 232. Das Herz Russlands, wo Menschen, Wirtschaft und Kultur, Geschichte und Zukunft zusammenkommen, ist im Westen und Südwesten.

Bevölkerungsdichte Russlands

Wahrscheinlich sind es russophobe Narrative aus unserer Vergangenheit, die zusammen mit der schieren Größe Russlands das Gefühl geben, dass man es mit einem viel größeren Land zu tun hat: Dem ist nicht der Fall.

Mit insgesamt 450 Millionen Einwohnern ist die EU in Sachen Bevölkerung um ein vielfaches bevölkerungsreicher als Russland. Auch gegenüber den 329 Millionen AmerikanerInnen nimmt sich Putins Russland eher mittelwichtig aus. Noch krasser ist der Kontrast ökonomisch: Mit etwa 1,65 Billionen Dollar 2021 lag das russische BIP bei etwa 7,2% des amerikanischen BIPs von 2021 und bei 9,9% des BIPs der EU von 2019. In der Liste der Länder nach Wirtschaftskraft lag Russland 2021 auf halber Länge zwischen Italien (2 Billionen Dollar) und Spanien (1,4 Billionen Dollar).

Der verstorbene Senator McCain kommentierte Putins Russland 2014 bei CNN mit den Worten: “All he’s got is gas and oil. Wait, I take that back. It is a gas station run by a mafia that is masquerading as a country.”

Eins vorweg: Wir werden auch wieder eine Zeit gestalten, in der Russland als das gesehen werden kann, das es eigentlich ist: ein riesiges, wunderschönes Land. Die Heimat von Schostakowitsch, Puschkin, Tolstoi und Dostojewski, und eben nicht als eine äußerst bedrohliche totalitäre Chimäre auf Raubzug in Osteuropa. Während gerade Frauen und Kinder in der Ukraine abgeschlachtet werden, mag man mir deshalb für den Moment Zuspitzungen verzeihen.

Zahlen: Was sagen uns Armee-Größen?

Russland ist aus geopolitischer Zahlensicht ein Scheinriese. Es sieht gerade tendenziell so aus, als ob das nicht nur für die Fläche sondern auch für sein Militär gilt.

Oder formulieren wir es anders: Es gilt für den Teil des russischen Militärs, der nicht primär atomar bewaffnet ist. Bad News: Mit knapp über 6.000 Atomwaffen hat Russland die größte Atomstreitmacht der Welt. “Good news”: Wer Atomwaffen gegeneinander zahlenmäßig aufrechnet, hat Abschreckung nicht verstanden. Die unwesentlich geringeren NATO Atomwaffenbestände reichen alleine für diesen Planeten mehrfach. Let’s not go there. Atomwaffen sind psychologische Waffen, die zu sonst nichts Sinn machen.

Russlands Armee sieht auf dem Papier erstmal groß aus. Es handelt sich um knapp 2 Millionen SoldatInnen. Durch seine Historie aus Stalinismus und militarisierter Planwirtschaft vor allem in der riesigen Provinz spielte Russlands Militär aber immer eine andere Rolle als im modernen Deutschland. Soldaten halfen und helfen in Russland auch bei der Ernte, sie haben eine viel größere Rolle im Rahmen der Militärpolizei oder — und das ist in Russland nicht unwesentlich — bei der Bewachung der längsten Grenze der Welt. 14 Nachbarländer grenzen über tausende Kilometer an Russland: Von Polen bis Nordkorea. Fast immer bewacht von Militär.

Und dann gibt es da noch das klassische “Missverhältnis” von kämpfenden Einheiten zu denen in der zweiten Reihe. Eine Armee braucht zwar Raketenschützen, Pilotinnen und Panzerfahrer. Aber sie braucht noch viel mehr LogistikerInnnen, administrative Rollen und dergleichen mehr. In den USA rechnet man mit einem Verhältnis von grob 1:10 kämpfend vs nicht kämpfend. Zahlen variieren je nach Land und militärischer Organisationslogik.

An was kann man sich also orientieren?

In ihrem initialen Artikel vom Dezember 2021, in dem die Washington Post den Einmarsch Russlands fast exakt vorhergesehen hat, sprach sie von einer Invasionsstreitkraft, die in den kommenden Monaten herangezogen würde, und etwa 175.000 Mann umfasse. Ganz kurz vor Kriegsbeginn sprach das US-Außenministerium von einer geschätzten Stärke rund um die Ukraine von 169.000 bis 190.000 SoldatInnen aus Russland. Man lag da also schon Monate vorher bei der Post sehr richtig.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bezeichnete diese, in 100 so genannte BTGs (Batallion Battle Groups) eingeteilte Angriffsarmee, als 60% von Russlands Landstreitkräften — eine Zahl, mit der man arbeiten kann. Aktuell rechnet man, dass knapp 70–75% aller Einheiten, die Russland überhaupt zur Verfügung hat, dort im Einsatz sind. Und das bedeutet in letzter Instanz, dass man kaum noch Truppen woanders hat.

Aufnahmen, die in Sozialen Medien geteilt und im Rahmen der #OSINT Community schnell identifiziert werden, teilen das. Unten zum Beispiel eine Schützenpanzereinheit, die in Khabarowsk am 3. März nach Westen geschickt wird.

Khabarowsk liegt übrigens hier:

“Scraping the barrel” — das Fass bis zum Letzten auskratzen. Darum geht’s gerade für Russland im Krieg mit der Ukraine. Die russische Armee hat alles an Mensch und Material an die ukrainische Grenze gebracht, was sie hatte. Jetzt kommt das, was übrig ist: Die zweite Garde wird angefahren. Alter Schrott aus dem Kalten Krieg und Wehrpflichtige, die noch nicht mal wissen, wo sie sind: Nach sowjetischer Doktrin die “Second & Third Echelons”.

Russlands Verstärkungen kommen. Ankunft in Woche 3:

Experten fragen sich tatsächlich, woran es liegt. Aber die Masse an Problemen, die Russland in diesem Krieg hat, sind hausgemacht und massiv. Und das ganze Desaster erinnert selbst mit einer modernisierten russischen Armee an den deprimierenden Müllhaufen an Roter Armee, den der Westen 1990 vorfand.

  • Mittlerweile bezeichnen die meisten Experten die russischen Verluste als “unsustainable”. Verifizierte Zahlen darüber zu finden, ist schwierig. Aber selbst wenn nur die Hälfte der 10.000 russischen Verluste, die die Ukraine gestern gemeldet hat, stimmen, ist Russlands Armee auf dem Weg zu einer Situation, in der wirklich sehr viele junge Leute in Särgen zurückkommen. Mit den entsprechenden Folgen zu Hause. Zum Vergleich: Im gesamten ersten Tschetschenienkrieg, der zwei Jahre dauerte und Jelzin fast zu Fall brachte, kamen 5–14.000 Russen um (offiziellen Zahlen kann man nicht trauen. In zehn Jahren Afghanistan verlor Russland knapp 18.000 Mann. Man kann sich also vorstellen, wo Putin ungefähr militärisch nach knapp einer Woche steht.
  • Die russische Luftwaffe hat nach acht Tagen Krieg immer noch keine Lufthoheit. Experten gehen davon aus, dass dies an mangelndem Training für große vernetzte Operationen liegt — man kann nicht wirklich skaliert als Team agieren. Zudem scheinen Raketen und Präzisionswaffen auszugehen oder gänzlich zu fehlen. Im Bereich ballistischer Raketen gehen den Russen scheinbar moderne Raketen für ihre Iskander-Systeme aus. Man muss stattdessen auf alte Tochka-U ausweichen.Für die Zivilbevölkerung bedeutet das noch mehr Schrecken. Für die russischen Piloten, dass sie tiefer runter müssen und damit leichter abgeschossen werden. Erfolge der Ukrainer richten sich militärisch deshalb zunehmend auch gegen die Superflieger der russischen Luftwaffe, von denen es nicht viele gibt. Alleine die gestrigen Verluste der russischen Luftwaffe gegen die Ukraine waren katastrophal.
Verlustlist wird mehrfach über soziale Medien verifiziert
  • Es sind dabei nicht (primär) nur die Verluste an Fronttruppen, die echt ins Kontor gehen. Es ist vor allem die Unfähigkeit, Logistik dauerhaft aufrechzuerhalten, die jeden Tag für Putin schwieriger macht. Mehrere Links dazu habe ich in den Anhang gepackt. Aber um es abzukürzen: Russische Einheiten (BTGs) waren traditionell immer anders — durchaus auch landsknechtartiger-gedacht als die westlicher Armeen. Sie hatten weniger Logistikeinheiten an Bord, weniger Sprit dabei und die Nachschuborganisation war vergleichsweise unterentwickelt. Man bediente sich an dem, was der Krieg hergab. Das rächt sich nun auf vielen Ebenen.

Einen sehr lesenswerten Thread hat dazu ein “Reifenexperte” geschrieben. Es ist schon irre, was für Menschen im Rahmen der #OSINT Community heute sicherheitsrelevante Infos beisteuern. Also, Frage: Warum steckt das Luftabwehrsystem fest? Antwort: Weil es nie bewegt wurde und deshalb kaum fahrfähig ist.

Da die Logistik hinten und vorne nicht stimmt, müssen russische Jungs vor Ort improvisieren. Es muss in der Tat furchterregend sein, so von seinen Vorgesetzten alleine gelassen zu werden. Die Panzerung russischer Trucks vor ukrainischen Guerilla-Attacken?

Birke.

Zahlen: Das eigentliche Problem liegt in der Wirtschaft

“Generals win battles. Logistics wins wars.”

Meine These ist, dass die strategische Logistik (militärisch-industrieller Komplex) Putin das Genick bricht, gerade weil die taktische Logistik ebenso wenig funktioniert wie der Rest seines Krieges. Selbst wenn Russland einige Städte in der Ukraine besetzt, die Zivilbevölkerung terrorisiert und noch ein paar atomare Drohungen ausspricht. Der Verlust dieses Krieges und das Ende von Vladimir Putin wird nicht durch einen NATO-Einsatz kommen sondern durch einen Abnutzungskrieg, in dem Russland jeden Tag schwächer wird. Die Zeit läuft gegen Putin. Wie soll man auch mit dieser Armee gegen den Rest der Wirtschaftsmacht des Westens gewinnen, während parallel die eigene Wirtschaft in einem überlichtschnellen Fahrstuhl ins Jahr 1925 sitzt? Und das in einem Krieg, der auf 15 Tage angelegt war und nun viel länger dauert?

Es ist ja nicht nur so, dass die Invasion falsch geplant war und der Einmarsch hinten und vorne nicht so läuft wie gewünscht. Zusätzlich sorgt ja auch noch das massive westliche Sanktionspackage dafür, dass Verluste auch in Sachen militärischer Hardware kaum ausgeglichen werden können.

  • Es sind die Sanktionen gegen die russische Zentralbank, die die mit Abstand massivsten Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben. 630 Milliarden Dollar Währungsreserven liegen weitgehend fest und können nicht — wie von Putin erwartet — für alternative Wirtschaftskanäle genutzt werden. Man kann jetzt nicht einfach die benötigten Ressourcen aus China kaufen. In Kombination mit dem Rubel im Sturzflug ist man auf sich alleine gestellt.
  • Russland hat noch Ersatzteile für Autos für knapp zwei Monate. Das umfasst alles. Vom Traktor bis zum Bus — und bis zum Raketenwerfer.
  • Avtovaz, Hersteller des ikonischen Ladas, eines aufgrund seiner Einfachheit beliebten Wagens, hat vor einigen Tagen seine ersten Produktionslinien geschlossen. Es fehle an elektronischen Komponenten aus dem Ausland. Das ist in sich ironisch, weil gerade der Lada als Inbegriff des einfachen Autos galt. Das Beispiel ist durchaus militärisch relevant. Avtovaz stellt auch militärische Fahrzeuge her.

Im 21. Jahrhundert funktionieren Kriege anders. Und dieser Krieg wird in seiner Komplexität ein Beispiel für die Multidimensionalität, auf denen ein Krieg in Sachen “Great Power Competition” gefochten wird. Neben der eigentlichen militärischen Operation haben neue Dimensionen einen deutlich höheren Stellenwert als jemals zuvor. In einer komplett verflochtenen Welt “gewinnt” nicht der, der einfach die meisten Panzer hat. Es gewinnt der, der es schafft, die Domains Cyber, Aufklärung, Info und Wirtschaft maximal zu synchronisieren und gegen einen Aggressor zu richten.

Und in all diesen Dimensionen hat die westliche Welt einen schnellen, effektiven und hochsynchronen Auftritt hingelegt. Kurzfristig sind noch diverse schlimme Überraschungen durch Russland denkbar. Unter Eindruck des aktuellen Sanktionspakets wird es — außer er findet doch noch irgendwo Alternativen-in nicht allzu ferner Zukunft einen Punkt geben, an dem Vladimir Putin veraltete Panzer mit Wehrpflichtigen einfach nicht mehr bewegen kann.

Meine These: Putins Blitzkrieg wird ein vom Westen finanzierter und gegen ihn gerichteter langfristiger Abnutzungskrieg – das steht Putin auf Dauer niemals durch. Das anfangs verlachte Sanktionspaket, in Zusammenspiel mit dem traditionell desaströsen Zustand der russischen Armee, wird es in Kombination mit sinkender Motivation bei Putins Truppen und der Dominanz des Westens im informationellen Sektor („dem Narrativ im Netz“) gegen Russland entscheiden. Und das vor allem, weil Putin mit einem Blitzsieg rechnete und Herausforderungen in Sachen Logistik und Abnutzung gerade im Zuge der massiven Sanktionen nicht geplant waren. Wie im Krieg gegen Hitler wird es auf Sicht die Fähigkeit des Westens sein, moderne Waffen in Masse zu produzieren, vor Ort zu bringen und danach mehr zu produzieren. All das kann Putin nicht. Und er kann Verluste mittelfristig nach aktuellem Stand nicht mehr ersetzen. Die logistische Überlegenheit und Geschlossenheit des Westens in Kombination mit der Leidenschaft und dem Mut von 40 Millionen UkrainerInnen wird im Krieg um die Ukraine final den Ausschlag geben.

Was man heute lesen sollte:

--

--

Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.