Ukraine Daily: Saporischschja

Gerald Hensel
Neue Bellona
8 min readMar 4, 2022

--

Eine mittlerweile recht regelmäßige Kolumne mit ganz subjektiven Lageeinschätzungen zur Ukraine. Geschrieben von jemandem, der sich viel mit Sicherheitspolitik beschäftigt hat und aktuell viel zu schlecht schläft. Ich bin kein Journalist und schreibe diesen Blog nebenbei. Man sehe mir also Unperfektionen nach. Meine Twitterlist zur Ukraine-Krise ist hier. Der Artikel von gestern ist hier. Updates und die Übersicht zum Blog Neue Bellona gibt es hier.

➡️ Freitag, 4.3.2022, wieder viel zu früh:

Machen wir es schnell: Das Feuer, das ihr zum Aufstehen im ukrainischen AKW Saporischschja im SPIEGEL seht, ist gelöscht. AFP meldet das in einer Breaking News um 5.41 Uhr deutscher Zeit. Ich gehe aber davon aus, dass man es für euch möglichst lange auf den Frontseiten der Zeitschriften und Facebook-Seiten lässt, damit ihr alle mit euren Kindern weinend in den Keller schleicht und euch dabei noch ein paar SPRINGER- und SPIEGEL Banner anguckt.

Noch etwas vorweg, was meistens nicht in zwei Headline Zeilen passt: es handelt sich um den mittlerweile erfolgreichen Versuch der Besetzung eines großen Atomkomplexes mit vielen großen und kleinen Gebäuden durch Russland. Der Band entstand dabei in einem Nebengebäude. Details, damit es nicht zu Panik und noch mehr unvorhergesehenen Zwischenfällen kommt, könnte man viele erwähnen.

Aber warum so viele Details, wenn es auch einfach geht?

So wie hier

Just for the record:

Bei mir ist es ganz aktuell 6.00 Uhr deutscher Zeit. AFP hat seine Breaking News eines gelöschten Feuers vor 20 Minuten durchgetickert um 5.41 Uhr.

Wir schauen mal, wie lange es dauert, bis die Meldungen vom Schlag „Russen schießen AKW in Brand“ runtergenommen und durch etwas anderes ersetzt werden.

Sicht 1: “Atom-Terror” — PR-Elfmeter für die Ukraine

Zugegeben: Ich bin kein Experte, wenn es um die Frage ist, ob ein Sturmangriff auf das größte AKW Europas eine gute Idee ist. Aus dem Bauch heraus dachte ich eher “Nein”, gestern Abend, als die Live Feeds das Herannahen der Russen an Saporischschja zeigten.

Drei Stunden später warnte der ukrainische Außenminister Kuleba auf twitter vor den Kämpfen um das große AKW. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern er in seinem Amt auch Atomkraftwerksexperte ist, aber er wusste nachts um 1 schon, dass es 10-mal größer als Tschernobyl sein wird.

Ukrainische Medien verknüpfen schrill sehr verkürzte Darstellungen des Angriffs auf das AKW mit einer Forderung nach einer Flugverbotszone.

Natürlich ist eine durchaus gefährliche Aktion, wie der Versuch ein AKW zu besetzen, für die Ukraine eine Möglichkeit dadurch dem Westen das Gefühl der völligen Unberechenbarkeit der Russen mitzugeben.

Konsequent wurde letzte Nacht ein knackiger Begriff geboren und gleich publiziert: “Atom-Terror”. Ein Wort, das sich jetzt schon mindestens ebenso flott durch die Gazetten verbreitet. “Atom-Terror”: ein tolles Wort. Und es passt so schön auf die Frontseite.

Worte wie “Atom-Terror” sind PR-Begriffe der ukrainischen Regierung um die Bosheit und Skrupellosigkeit der Invasoren zu verdeutlichen. Die Russen sollen als Horde gezeichnet werden, die nicht nur Stadtviertel mit Raketenwerfern beschießen. Sie wollen auch noch “Atom-Terror” verüben. Und der “Atom-Terror” betrifft natürlich die ganze Welt. Die Welt also, die der Ukraine — ich verstehe den Hebel, den sie ansetzen wollen — helfen soll. Das Ganze fügt sich übrigens toll in die Schlagzeilen vom Wochenende ein, wo Vladimir Putin den Westen mal wieder an sein Atomarsenal erinnerte. Beide Seiten können apokalyptische Atom-PR. Wir sind die Zielgruppe. Wahrscheinlich nicht zum letzten Mal.

Jepp. Die Ukrainer haben auch ihren PR Crashkurs gemacht. Sie wissen, wie man Nachrichten so verpackt, dass sie auf die großen Zeitungswebsites kommen. Und sie sind darin mittlerweile besser als Putin. Den Info-War dominieren sie. Vermutlich hat die NATO mit ein paar guten Content-Strategen und PR-Profis im Vorfeld kräftig nachgeholfen.

Sicht 2: Konsequent dumm und fahrlässig

Russische Truppen haben sich in den letzten Tagen — je nach Standort und Truppenzugehörigkeit — nicht nur als extrem skrupellos sondern auch als konsequent inkompetent und schlecht geführt präsentiert.

Russische Truppen haben derzeit Schwierigkeiten, das nötigste auf die Reihe zu kriegen. Neben dem Wunsch nach purem Überleben und einer wachsenden Angst, dass man sich vielleicht doch gerade bei den Bad Guys befindet (ein Angriffskrieg ist schwer zu verheimlichen bei lauter Jungs mit Smart Phones), hat ein stattlicher Anteil der Kameraden nicht mal etwas zu essen. Auch da schließt Russland konsequent an die Menschenverachtung auch gegenüber den eigenen Soldaten im Stalinismus an: Aus Mangel an Ressourcen schickten sowjetische Offiziere im Zweiten Weltkrieg die zweite Linie auch mal ohne Waffe in den Sturmangriff. Die Jungs sollten sich einfach die Gewehre der gefallenen Kameraden aus der ersten Linie im Laufen mitnehmen. Das Level an Zynismus herrscht da.

Der Angriff auf Saporischschja macht natürlich aus strategischer Sicht Sinn. Es ist das größte AKW Europas. 6.000 Megawatt an Strom. Direkt inmitten der besetzten Gebiete an der Krim, der Schwarzmeerküste und dem Donbas. Als Armchair-General ist es nicht schwer, dieses AKW als Ziel auszumachen. Nicht als zu vernichtendes Ziel sondern als zu besetzende Ressource. Man muss das Ding haben, sonst gibt es keinen Strom in Neu-Russland.

Und dann kommt die Umsetzung nach russischer Art. Und die hat mit großer Wahrscheinlichkeit sehr wenig mit “Atom-Terror” zu tun sondern mit mangelnder Koordination, purer Dummheit und maximaler Inkompetenz.

Ein Kommentator schrieb, dass die russischen Truppen trotz modernerer Ausrüstung immer noch weitgehend den Führungsstrukturen der Stalin-Zeit verhaftet sind: Top-Down, wenig Mobilität, kaum Raum auf taktischer Ebene zu manövrieren oder höhere Entscheidungen so zu dehnen, dass sie im “Fog of War” Sinn machen.

Der Angriff erfolgte dementsprechend wild ballernd von allen Seiten. Ohne Zweifel ein Tabu-Bruch. Aber mit großer Sicherheit auch eine Aktion, die nicht auf die gut geschützten und kritischen Bereiche abzielte. Warum auch? Wäre dass das Ziel, wäre Saporischschja bombardiert worden. Aber als strategisches Ziel soll das AKW ja eben genommen werden. Es muss Strom produzieren. Eine Kernschmelze würde auch Millionen von Russen in unmittelbarer Nähe gefährden.

Interessant ist in diesem Kontext aber, dass Putin seine Hoheit über den informationellen Teil dieses Krieges, den Info-War so sehr verloren hat, dass der erwartbare PR-Punkt für die Ukraine nicht mehr gekontert werden konnte. Anders ausgedrückt: Der Vladimir Putin, der noch vor kurzem angeblich in raffinierten globalen Aktionen Präsidenten ins Amt brachte und Social Networks zur Destabilisierung der westlichen Demokratien ins Netz bringt, schafft es nicht mal mehr seine Deutungshoheit über den Angriff auf einen Reaktor ins Netz zu bringen. Was hätte man alternativ lesen können?

“Ukrainisches Atomkraftwerk von russischen Truppen vor ukrainischen Söldnern gesichert. Keine Gefahr für Europa.”

Auch das ist ein interessanter Insight: Seine Maschine walzt zwar weiter. Aber wesentliche Teile sind den Russen entglitten. Die Tatsache, dass ein von Russland vorbereiteter und im informationellen Raum antizipierbarer Angriff auf ein AKW von der Ukraine PR-seitig “gewonnen” wird, sagt viel über den Zustand der Russen in diesem abartigen Krieg.

Atom-Terror oder dumme Dampfwalze: Wo ist der Unterschied?

Da ist einer.

Zumindest so lange kein Reaktor brennt.

Es macht einen Unterschied, ob man es im wesentlichen mit einer schlecht koordinierten, unorganisierten Armee im “Fog of War” zu tun hat (die aber selbst überleben wollen) oder ob man es mit “Atom-Terroristen” zu tun hat, was auch immer das sein soll. Den einen kann man beistehen, zumindest das schlimmste für sich und die globale Umwelt zu verhindern. Den anderen nicht.

Und genau das passiert auch: Mini-Instutionenbildung findet immer ihren Weg. Jeder noch so abartige Krieg sorgt für Back-Channels und Wege der Kommunikation, weil es auch da immer noch gemeinsame Interessen gibt. Und wenn es nur das gemeinsame Überleben ist.

Ein Beispiel:

Trotz krasser Eskalation und heftiger globaler Antipathie, trotz Atomkriegsdrohungen und einem massiven Sanktionspaket haben sich die USA und Russland in einem Punkt zur Zusammenarbeit entschlossen. Eine Methode, die sich schon in Syrien bewährt hat, wo die Truppen beider Seiten sehr nahe waren und man auf professioneller Ebene eine professionelle Zusammenarbeit etabliert hat. USA und Russland haben ein neues rotes Telefon zwischen den Verteidigungsministerien etabliert, das unbeabsichtigte Zusammenstöße entschärfen soll, bevor sie zu unkontrollierbaren Panik-Spiralen eskalieren.

Warum?

Weil beide Seiten ein Interesse haben, dass DAS nicht passiert. Russland ist aktuell ein imperialistischer Staat, der sich mit maximaler Gewaltanwendung die Ukraine einverleiben möchte. Russland möchte allerdings ebenso wenig wie die USA und Europa alles verlieren. Warum auch? Alle wissen, was ein Atomkrieg bedeutet, alle wissen auch, was eine Atomkatastrophe in Saporischschja bedeutet.

Wir beginnen erst langsam zu verstehen, was Russland will. Informationelle Kriegsführung zielt auf uns ab und soll ihr primäres Kriegsziel stützen. Und das ist die Ukraine zu unterwerfen. Russland will nicht die Apokalypse anzetteln. Und es weiß auch langsam, dass es sich etwas Strecken muss, um genau das aus Versehen zu verhindern.

Deshalb findet aktuell auf niedrigem Level wichtige Insitutionenbildung statt. Selbst im Krieg mit einem solchen Gegner werden nun wieder Kommunikationskanäle und Links hergestellt, um im Zweifel Befürchtungen und Aufklärungsdaten, missinterpretierbare Flüge oder Bewegungen vorher abzustimmen. Saporischschja ist kein Super-Gau gewesen und auch kein “Atom-Terror”. Aber ein heißer Draht wird Russland im Rahmen seines unfassbar dummen Krieges sicher an vielen Punkten helfen, sich vor sich selbst zu retten.

+++ Update: ein paar Kaffee und einen Kinderarzt-Besuch später, 10.00 Uhr MEZ +++

AKW ist besetzt, Brand gelöscht. Es scheint sich um ein großes Verwaltungsgebäude zu handeln.

Meanwhile on twitter:

Auf zum nächsten Mega-Durchdreher…

--

--

Gerald Hensel
Neue Bellona

Neu-Hamburger, Politologe und Sicherheits-/Geschichtsfreak. Hier nur privat. Beruflich: Co-Gründer und GF bei superspring Marketing Consulting.