New Work braucht Inner Work, Teil 5: Kompetenz und Struktur im Detail

bettina rollow
New Work braucht Inner Work
6 min readNov 11, 2016

Nachdem ich im vierten Teil einen Überblick über die benötigten Kompetenzen und Strukturen gegeben habe, die für eine gute Basis (Belonging) in der Organisation wichtig sind, vertiefe ich diese hier.

Grounding und Selbstkontakt

Die ersten beiden Aspekte, Grounding und Selbstkontakt, gehen Hand in Hand. Mein individuelles Gefühl von Stabilität im Leben bildet die Basis auf der ich Erfahrungen mache und anderen Menschen begegne. Fühle ich mich stabil und entspannt, kann ich Herausforderungen und Stress leichter bewältigen und auf Veränderung flexibler reagieren. Ich vertraue darauf, gemeinsam mit meinen Kollegen Ergebnissen zu erzielen und Lösungen zu erarbeiten. Fühle ich mich dagegen instabil, brauche ich mehr Sicherheit im Außen. Regeln und Strukturen sind mir eine große Hilfe. Veränderungsbewegungen oder Konflikte erzeugen Stress.

Um herauszufinden wie es mir im Moment geht brauche ich einen guten Selbstkontakt. Also die Fähigkeit mich zu fühlen und festzustellen, was gerade los ist. Präzise Standortbestimmung mit mir selbst. Teammitglieder darin zu befähigen sich ihrer selbst klarer zu werden, ist schon ein großer, wesentlicher Schritt. Noch besser ist es, wenn man eine Kommunikationskultur schafft, die es jedem ermöglicht über seinen inneren Zustand auch zu sprechen.

Für eine Teamtransformation sind Grounding und Selbstkontakt essentiell. Um äußere Strukturen — insbesondere den Chef — zu reduzieren und eine flexible kompetenzbasierte Führung aufzubauen, bedarf es eines hohen Maßes an Transparenz.

Wenn ein Mensch sich sicher fühlt, ist es für ihn einfacher transparent über sich in einer Gruppe zu sprechen. Zugleich ist Transparenz aber auch die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich vertrauen. Dadurch, dass sich Transparenz und Sicherheit wechselseitig bedingen, ist jeder Anfang so schwer. Für das betterplace lab Team war der geeignetste Schritt deshalb die eigenen Sicherheits- und Unsicherheitsgefühle in der Gruppe zu besprechen. Einzelne Mitarbeiter reagierten sehr unterschiedlich auf die neue Organisationsentwicklung: Für manche war Joanas Rückzug eine neue aufregende Möglichkeit sich selbst mehr einzubringen. Bei anderen erzeugte die neue Situation Stress. Die Frage inwieweit der Einzelne sich auch ohne Absicherung „von oben“ im Team zuhause fühlen und seinen Kollegen vertrauen konnte, war in jedem Prozessschritt ein Thema.

Die erste Phase im Team Transformer war daher dem Aufbau einer transparenten Kommunikationskultur gewidmet. Mittels einer Reihe von Übungen (s. Teil 4) lernten Mitarbeiter sich in der Gruppe über ihre eigenen Fähigkeiten, aktuellen Bedürfnisse und Ziele klarer zu äußern. Mit der Zeit entstand ein immer größeres Vertrauen sich auch mit den Gefühlen und Aspekten zu zeigen, die ambivalent oder kritisch sind. So können Teammitglieder heute viel freier als früher mitteilen, wenn und warum sie sich unwohl oder unsicher fühlen.

Kontaktfähigkeit

In einem nächsten Schritt galt es dann die Kontaktfähigkeit der Teammitglieder untereinander zu stärken. Im betterplace lab gab es einen guten fachlich-sachlichen Austausch, der jetzt um die emotionale Ebene erweitert werden sollte. Die beiden Ebenen sind ja oft vermischt und es ist gar nicht so leicht zu erkennen ob ein spannungsreiches Gespräch über ein Sachthema gerade so anstrengend ist, weil es um eine fachliche Differenz geht, ober ob mein Gegenüber gerade Stress hat und aus diesem Stress heraus die Diskussion blockiert.

Mit Hilfe einer Reihe von Übungen (s. Teil 4) versuchte ich diese emotionale Ebene im Team sichtbar und besprechbar zu machen. Einige dieser Übungen wurden fester Bestandteil der betterplace lab Meeting-Kultur, da bei Meetings unterdrückte Themen viel Energie rauben können. Meetings sind vor allem dann ermüdend, wenn viel unausgesprochen bleibt. Meetings, in denen die Energien frei fließen, sind dagegen inspirierend und kraftgebend.

Meeting Regeln — das Team einigte sich darauf während bzw. nach den Teammeetings folgende Aspekte gemeinsam zu reflektieren.

Qualität des Meetings

  • Wie war das Meeting insgesamt?
  • Sind wir jetzt wach und energetisiert?
  • Wie zufrieden sind wir mit der Ergebnisebene?
  • Wie zufrieden sind wir mit der Beteiligung von allen? Haben wir “geteilte Verantwortung” in dem Meeting und zu dem besprochenen Thema gelebt?

Als Team: wie waren wir in Bezug auf -

  • Transparenz und Ehrlichkeit (wie explizit und offen haben wir miteinander gesprochen?)
  • Konfrontation (Wie direkt haben wir heikle Punkten angesprochen? Haben wir Konflikte thematisiert und besprochen?)
  • Wertschätzung ( Wie wertschätzend waren wir miteinander?)

Exzellenz und Labigkeit

  • Wie exzellent sind die Ergebnisse des heutigen Meetings?
  • Wie labbig?
  • Wie innovativ und zukunftsorientiert?

Mit den Monaten wurde das Team immer fähiger transparent zu kommunizieren: viele vorher unterdrückte Themen, sowohl fachlicher als auch emotionaler Natur, konnten jetzt offen in der Gruppe besprochen werden. Die Teammitglieder tauchten als ganze Menschen auf und waren auf eine neue Art und Weise für einander da.

Multiperspektivität

Empathie war nicht der letzte Lernschritt. Kompetenzbasierte flexible Führung kann nur funktionieren, wenn die Mitarbeiter verschiedene Perspektiven klar wahrnehmen können. Dies wird auch als Multiperspektivität bezeichnet. Damit meine ich eine Wahrnehmung, bei der ich mein Gegenüber nicht nur mit meinen eigenen Augen emotional wahrnehmen kann. Multiperspektivität ist radikaler und bedeutet, dass sich die Perspektive eines anderen Menschen unabhängig von meiner eigenen Befindlichkeit erschließt. Diese Fähigkeit ist fortgeschritten, aber auch sehr wichtig. Denn nur durch Multiperspektivität kann ich neue Ideen und Lösungen entwickeln, die meinen persönlichen Horizont und meine individuelle Präferenz überschreiten. Sie ermöglicht es mir zu sehen, wer in einem Team welche Kompetenzen hat und in einem Themenbereich eine natürliche Führungsrolle einnehmen sollte. Nur so kann ein Team auch das erkennen, was Laloux als evolutionäre Zielrichtung (evolutionary purpose) bezeichnet. Die evolutionäre Zielrichtung ergibt sich nicht nur aus der Summe aller Teile eines Teams, sondern entsteht emergent aus der Qualität der Beziehungsraumes zwischen den Teilnehmern.

Durch Übungen wurde das Team immer fähiger auch in stressigen und komplexen Situationen innovative Lösungen zu erarbeiten, bei denen die verschiedensten Kompetenzen und Limitierungen der Teammitglieder einbezogen wurde.

Kompetenzbasierte Zusammenarbeit

Ein Beispiel für die Fähigkeit des Teams kompetenzbasiert zu agieren ist die Einstellung von und Zusammenarbeit mit Carolin. Nachdem mit Medje die Innenministerin gegangen war, wurde für alle noch spürbarer, dass im Team wesentliche Kompetenzen im Bereich Management und Vertrieb fehlten. Man war sich einig, dass jemand von außen geholt werden musste. Diese Person sollte nicht nur selbst Management- und Vertriebserfahren sein, sondern dem Team dabei helfen, die notwendigen Fähigkeiten zu erlernen. Die neu gefundene Mitarbeiterin, Carolin, passte perfekt auf das Anforderungsprofil. Ihre Einstellung barg jedoch auch ein Risiko: würde sie, mit ihrer natürlichen Führungspersönlichkeit, die neue Organisationsform torpedieren? Drohte ein Rückfall ins alte System, bei dem Carolin einfach nur Joana ersetzen würde?

Das Team und Carolin waren sich dieser Gefahr bewusst. Sie achteten sorgfältig darauf, welche Funktionen Carolin übernahm, um eine gute Balance zwischen den Leitungsaufgaben zu finden, für die Carolin eindeutig prädestiniert war — und denen, wo andere Teammitglieder kompetent sind. Wer welche Aufgabe übernimmt, unterscheidet sich danach, ob man kurzfristig effizient und effektiv besetzen will, oder ob man das ganze System in den Blick nimmt. So kann es sein, dass eine Vortragsanfrage vielleicht vordergründig besser von Carolin übernommen werden sollte. Das Team entscheidet sich aber dennoch für ein anderes Mitglied, da es mehr Kapazitäten aufbauen und auch die Außenkontakte anderer Mitarbeiter fördern möchte. Aufgaben werden ganz bewusst nicht nach Status vergeben, sondern danach, was als die intelligenteste Lösung für die Organisation und ihre Entwicklung erscheint.

Auch der Gehaltsprozess spiegelt die neuen Prinzipien wieder. Ein wesentliches Ziel des Team Transformers 2015 war es Gehälter gemeinschaftlich festzulegen.

Im Zuge der mehrstufigen Gehaltsverhandlungen im Team kam es auch zu Konflikten. Das Team war konfliktfähig genug, diese nicht einfach unter den Tisch zu kehren, sondern offen und klar darüber zu diskutieren. Ein Mitarbeiter, der seit Beginn bei betterplace dabei war, ein hohes Ansehen im Gesamtunternehmen besaß und ein dementsprechendes Gehalt bezogen hatte, musste erleben, dass sein Gehaltswunsch kontrovers diskutiert wurde. Dabei bezogen sich die Kritiker auf kommunikative Probleme und hinter den Erwartungen zurückliegende Vertriebserfolge. Das Team konnte seine Einwände gegen die vorgeschlagene Gehaltserhöhung differenziert vortragen, ohne sich von Status, Historie und persönliche Freundschaften beeinflussen zu lassen. Das Feedback führte zu einer konstruktiven Diskussion, an dessen Ende eine akzeptable Lösung gefunden wurde.

Neue Rollen: Die Überblicker

Parallel zu diesen kommunikativen Maßnahmen und Übungen schufen eine Reihe neuer Rollen, die es dem Team erleichtern sollten, die Gesamtübersicht, die normalerweise bei einer Führungsperson liegt — dezentral im Team zu verankern. So wurden so genannte Überblickerrollen geschaffen: einzelne Teammitglieder übernahmen die „Schirmherrschaft“ für konkrete Themenbereiche — Finanzen, Strategie, Teamkultur etc. Sie waren dafür verantwortlich, dass alle Teammitglieder diese Aspekte der Organisation auf dem Schirm behielten und diese im Tages- und Projektgeschäft nicht hinten runter fielen.

Dieser zweistufige Prozess bestehend aus festen neuen Rollen und erweiterten kommunikativen Fähigkeiten dauerte bislang zwei Jahre. In dieser Zeit hat das Team durch intensives und kontinuierliches Üben einen nachhaltigen Container geschaffen, in dem ein hohes Maß an Vertrauen und Intimität herrschen. Die Kommunikationskultur ist geprägt von Wertschätzung, Offenheit und Transparenz. Teammitglieder fühlen sich aufgefordert sich mit ihrer ganzen Individualität einzubringen und zugleich das Team als Ganzes im Blick zu haben. Die Teammitglieder haben sich eine neue Basis geschaffen und darauf eine neue Organisation errichtet, die vom LaBoss weitgehend unabhängig ist. Sie haben sich das alte betterplace lab neu angeeignet.

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