Zwei Charts wie keine anderen, oder: Was passiert, wenn man Menschen für Journalismus um Geld bittet

Michaël Jarjour
Re: Blendle
Published in
7 min readJan 18, 2016

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Traurigerweise habe ich einen meiner freien Tage nach Weihnachten damit verbracht, auf einen Bildschirm zu starren. Aber was da drauf passierte, war recht großartig. Auf dem Bildschirm sah ich die Statistiken, die mir zu jedem Zeitpunkt zeigen, welche Geschichten auf Blendle trenden, dem digitalen Artikel-Kiosk, für den ich seit ein paar Monaten arbeite. An diesem Tag lieferten sich zwei Geschichten ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Spitzenplatz. Beide hätten es niemals auf die Liste geschafft, die ich in einem anderen Tab geöffnet hatte: die populärsten Stories auf Facebook.

Eine der Geschichten war eine wunderbar recherchierte, dramatische Geschichte über die Tage vor und nach der monumentalen Rede von Russlands Präsident Putin in München 2007. Die andere Geschichte war ein aufschlussreiches Interview mit einem Harvard-Ernährungsforscher, der über unsere Essgewohnheiten und die Ernährung der Zukunft sprach. Beide Geschichten kosteten echtes Geld: eine 35 Cent, die andere 65 Cent.

Wie eine Geschichte auf Blendle aussieht

Seit nun vier Monaten helfen mein Team und ich unseren über 500.000 Nutzern jeden Tag, den besten Journalismus zu entdecken. Wir suchen die besten Artikel und verschicken sie an unsere Nutzer in einer kurzen E-Mail. Damit die nicht nur wissen, worüber man gerade so spricht, sondern damit sie auch etwas Kluges zu sagen haben. Viele dieser Geschichten würden es nicht in die Facebook-Newsfeeds schaffen. Das sind Dinge, die hinter Paywalls und in Papiermagazinen und -zeitungen versteckt sind, und für die man teure Abos braucht. In diesen paar Monaten habe ich erstmals richtig verstanden, wie stark sich das Nutzerverhalten auf Blendle von dem auf allen anderen Plattformen unterscheidet. Was passiert, wenn du Menschen nicht nur dazu bewegen willst, auf Links zu klicken, sondern wenn du sie überzeugen musst, dass es sich lohnt, dafür Geld auszugeben.

Hier sind also die zwei Listen, die zeigen, was dann passiert. Und, vielleicht noch faszinierender, was passiert, wenn du zusätzlich eine Geld-zurück-Garantie einbaust.

Das waren die 5 meistverkauften Geschichten auf Blendle Deutschland in den ersten vier Monaten

  1. Sehr informatives Interview. Harvard-Ernährungsforscher Walter Willet darüber, wie fürchterlich wir uns ernähren und wie die Zukunft unserer Ernährung aussieht.
    “Kluge Leute trinken keine Cola”, Brigitte, € 0,65 »
  2. Autor und Experte Wilfried Buchta beschreibt zwei mögliche Zukunftsszenarien für den Nahen Osten. Klar, verständlich und klug.
    “Nahost 2035”, Cicero, € 0,35 »
  3. TV-Star Jan Böhmermann erzählt, wie er lebt und arbeitet und was er dem IS rät.
    “‘Wissen Ihre Kinder, was Sie tun? — ‘Ja, Quatsch!’”, Stern, € 0,65
  4. Wie Tinder zur populärsten Dating-App wurde, wie sie unser Flirt-Verhalten verändert. Interessant: Die Geschichte wurde in Profil veröffentlicht, einem Magazin aus Österreich, das viele in Deutschland gar nicht kennen.
    “Tingle Bells”, profil, € 0,89
  5. Ein sehr amüsantes, überfälliges Streitgespräch: Kolumnist Harald Martenstein und Popstar Peter Fox streiten über das moderne Leben, Steuern und Autos.
    “‘Das Auto ist meine Kapsel’ — ‘Harald, das ist absurd’”, Tagesspiegel, € 0,25

Schon mal eine recht coole Liste. Aber es gibt eine coolere: die mit den Geschichten, für die Menschen wirklich bezahlt haben, obwohl du ihnen die Möglichkeit gegeben hast, es nicht zu tun. Auf Blendle kann jeder am Ende eines Artikels sein Geld zurück verlangen. Wenn du also eine Story richtig mies fandest, gibt dir Blendle sofort dein Geld zurück.

Die Option, das Geld zurück zu erhalten. Am Ende jedes Artikels.

Die Rückgabe-Rate ist für mich die wichtigste Zahl überhaupt. Viel wichtiger als Klicks und Verkäufe. Stell dir vor, du könntest dir irgendetwas zurückholen für all die Links, die du auf Facebook und Twitter geklickt hast, nur um dann zu entdecken, dass ein billiges Video dahinter ist, irgendeine Werbung oder ein Artikel, der eindeutig in der kürzestmöglichen Zeit zusammengeschrieben wurde, einfach damit da etwas ist, wo man Werbung daneben stellen kann. Alles in allem werden auf Blendle knapp 10 Prozent der Geschichten zurückgegeben. Das sind vor allem die Clickbait-Artikel, die in der Schlagzeile zu viel versprechen, diese “Du wirst nicht glauben, was als nächstes passiert ist”-Geschichten.

Diese Liste wird dir also zeigen, welcher Journalismus die Menschen wirklich bewegt. Genug, um dafür Geld auszugeben.

Die wichtigste aller Listen: Das sind die 10 beliebtesten Artikel mit den wenigsten Rückgaben der ersten vier Monate Blendle Deutschland

  1. Mit dem Aufstieg des IS wurde “Terror zu Pop”. Das ist einer der Fakten, der hier hängen bleibt. Eine Aussage von Javier Lesaca, einem Forscher, der über 1000 Propaganda-Videos des IS analysiert hat.
    “Islamischer Staat”: Die digitale Front, Tagesspiegel, € 0,25
    98% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 1,69%
  2. Ein faszinierendes Porträt von Vitalik Buterin, dem 21-jährigen “Blockchain”-Wunderkind, der gerade die globale Finanzbranche aufmischt.
    “Der digitale Lenin”, Capital, € 0,89
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 2,59%
  3. Ein Deep-Dive in die Biothematik. Was “bio” heute überhaupt heißt, und wie große Konzerne den Begriff praktisch sinnfrei machen.
    “Was ist noch bio?”, Welt am Sonntag, € 0,25
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,17%
  4. Eine schier unglaubliche Geschichte einer Frau, die allen eine tödliche Krebskrankheit vorspielte. Auch den Journalisten.
    “Der Tod steht als mächtiger Schutzwall vor der Lüge”, Tagesspiegel, € 0,25
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,20%
  5. Eine der Top-5-Artikel auf Blendle: Ein Interview mit Jan Böhmermann, dem TV-Star.
    “Wissen Ihre Kinder, was ihr Vater macht? — “Ja, Quatsch”, Stern, € 0,65
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,24%
  6. Die emotionale Geschichte eines ausgebrannten Arbeiters. Wie sein Leben zusammenbrach und wie er wieder gesund wurde.
    “Das erschöpfte Ich und seine Heilung”, Stern, € 0,65
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,27%
  7. Eine exzellent recherchierte Rekonstruktion der Tage vor und nach der monumentalen Rede von Russlands Präsident Vladimir Putin an den Münchner Sicherheitstagen 2007.
    “War ich zu hart, Edmund?”, Cicero, € 0,35
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,33%
  8. Interview mit dem Politik-Chef der FAS darüber, was passierte als er in einem Kommentar Pegida und AfD hart kritisierte. Es war nicht hübsch.
    “Gier nach Gewalt”, Die Zeit, € 0,29
    97% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,36%
  9. Ein packendes Essay darüber, was junge Männer aus dem Nahen Osten dazu bringt, an Massenevents wie in Köln an Silvester Frauen zu belästigen.
    “Misere und Machismo”, Der Spiegel, € 0,75
    96% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 3,85%
  10. Ein unglaublich großartiges Porträt einer 23-Jährigen, die in einem Nazi-Camp erzogen wurde. Wie sie geflüchtet und zur Aktivisten gegen die neue, extreme Rechte in Deutschland wurde.
    “Heidi und die Brandstifter”, Die Zeit, € 0,89
    95% der Leser dieser Geschichte fanden, dass sie ihr Geld wert ist. Rückgaben: 4,5%

Es ist immer ein bisschen merkwürdig im Journalismus Verkäufe zu feiern. Viele dieser Geschichten drehen sich schließlich um fürchterliche Dinge, Terror, Krieg oder sexuelle Gewalt. Aber versetz dich mal in die Rolle einer Journalistin oder eines Journalisten. Die wissen, dass eine Menge über diese Themen geschrieben wurden, aber dass sich auf Blendle die richtig guten Geschichten durchgesetzt haben. Gut recherchierte, gut produzierte und gut geschriebene Artikel. Die Dinge, von denen sie jetzt jahrelang gehört haben, dass sie online “einfach nicht funktionieren”.

Nicht nur in Deutschland werden Journalisten täglich kritisiert. Auch in den USA ist das Vertrauen in die Medien so tief wie nie. Oft ist die Kritik auch total fair, Journalisten machen ständig Fehler, und manche sind einfach schlecht in ihrem Job. Aber ein Teil der Schuld tragen wir selbst. Wir müssen die Anreize schaffen für gute Geschichten. Und das ist genau, was auf Blendle passiert. Hier zählen nicht nur Klicks. Hier reicht es nicht, einfach eine knackige Schlagzeile zu schreiben, die Geschichte selbst muss gut sein. Weil du Menschen nicht nur zum Klicken bringen musst, sondern sie überzeugen musst. Journalisten müssen mit jeder einzelnen Geschichte, das Vertrauen der Leser erkämpfen. Das ist eine Win-Win-Situation.

Als Journalist weiß ich, dass am schwierigsten, aber auch am coolsten ist, diese Art von Geschichten zu schreiben. Als Leser weiß ich, dass es sich verdammt gut anfühlt, solche Geschichten zu finden. Weil man plötzlich etwas versteht, was man vorher nie verstanden hat. Weil man etwas Nützliches lernt, dass einem hilft, in seinem Leben bessere Entscheidungen zu treffen. Und als Person, die bei Blendle arbeitet, kann ich dir sagen, dass es richtig großartig ist zu sehen, dass es genau diese Dinge sind, die auf unserer Plattform trenden.

Zurück zu diesem Ferientag nach Weihnachten: Das Interview mit dem Ernährungsforscher gewann. Es verkaufte um die fünfzig Artikel mehr als die Story über den russischen Präsidenten. Es war ein super-knappes Rennen, und mir eigentlich etwas egal. Denn schließlich waren beide Gewinner. Und von beiden bleibt zumindest etwas hängen, dass man nie mehr vergisst. Nun weiß ich nicht mehr genau, was an diesem Tag auf Facebook die populärste Geschichte war. Aber momentan ist es diese:

Das ist es also, was Facebooks Designer, Programmierer und Geschäftsmenschen denken, sei das Wichtigste, das ich momentan sehen muss. Ich habe es gesehen. Das ist auch ein lustiges Video. Lasst uns einfach sicherstellen, dass niemand das mit Journalismus verwechselt.

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Michaël Jarjour
Re: Blendle

Head of Publisher Relations at Revue · Journalism · Product · Past: NZZ, Blendle, Swiss Public Radio.