Teil 6: Berufliche Orientierung in der Schule

Aileen
Die Zukunftsbauer — was ist deine Mission?
8 min readJun 29, 2019

--

Die Untersuchung des Wandels der Arbeit in den letzten Teilen hat gezeigt, dass sich klassische Berufsbilder zunehmend auflösen und neue Arbeitswelten herausbilden. Für eine erfolgreiche Teilnahme des Einzelnen an zukünftigen Arbeitswelten, erscheint es aktuell daher wichtiger denn je, jungen Generationen hier nicht nur früh das entsprechende Wissen und die Fähigkeiten mitzugeben, sondern sie vor allem zum lebenslangen Lernen zu inspirieren. Ein wesentliches Instrument hierfür ist die Studien- und Berufsorientierung (BStO) in der Schule.

photo-1510531704581–5b2870972060

Unter der Berufsorientierung (BStO) wird sowohl das Ausbalancieren beruflicher Wünsche, Interessen und Fähigkeiten verstanden, als auch der Bedarf sich mit den Anforderungen der Berufswelt zu beschäftigen. Ziel ist es, die BStO so zu gestalten, dass Eigenverantwortung gefördert wird und Schüler*innen das Gefühl zu vermitteln, dass sie aktive Gestalter*innen des eigenen Berufswahlprozesses sind. Die BStO besteht aus schulischen und außerschulischen Maßnahmen und stellt einen lebenslangen Prozess dar. Studien zeigen: Schüler*innen benötigen früh Lerngelegenheiten, in denen sie Wissen über sich selbst und die Berufswelt erwerben, Handlungserfahrungen sammeln können und in denen ihre Motivation gefördert wird. Sie sollen dazu befähigt werden ihre Berufswahl eigenverantwortlich zu übernehmen und zu bewältigen.

Die BStO in der Schule dient der Vermittlung von

  1. Orientierungswissen über die Arbeits- und Berufswelt,
  2. Handlungswissen zur weiteren Gestaltung des „eigenen Berufseinmündungsprozesses“ sowie
  3. Reflexionswissen über die eigenen Voraussetzungen, Interessen und Ziele und den berufsbiografischen Planungsprozess (vgl. LISUM 2018).

Obwohl die Schule einen zentralen Wegweiser für die Zukunft des Einzelnen darstellt, und die BStO hierfür ein wichtiges Instrument bildet, hat die Kultusministerkonferenz (KMK) erst Ende 2017 die Empfehlung für eine bundesweite curriculare Verankerung herausgegeben. So heißt es in dem Beschluss hierzu:

„Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule besteht im Kern darin, Schülerinnen und Schüler angemessen auf das Leben in der Gesellschaft vorzubereiten und sie zu einer aktiven und verantwortlichen Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu befähigen. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler auf die Berufs- und Arbeitswelt vorbereitet werden.“ (nach KMK, 2017)

Dabei sind es vor allem nicht einschätzbare Arbeitsmarktentwicklungen und eine kaum überschaubare Zahl an Weiterbildungsmöglichkeiten, die den Einzelnen hier überfordern. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Aktuell bricht jeder vierte Azubi seine Ausbildung in Deutschland ab. Die hohe Abbrecherquote steht im Zusammenhang mit der Qualität der BStO. So konnte nachgewiesen werden, dass es neben dem normalen Schulunterricht vor allem BStO Maßnahmen wie Praxislernen sind, die einen positiven Einfluss auf die spätere berufliche Selbstverwirklichung im Erwachsenenalter haben, da diese wesentlich zur zukunftsorientierten Auseinandersetzung von Heranwachsenden mit ihrem aktuellen Verhalten und Zukunftsverwirklichungen beitragen (vgl. Beal und Crocket).

Mein Ich in der Zukunft

In der Forschung wird hier von einer proaktiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Future Work Self (FWS) gesprochen. Dieses leitet sich vom „Possible Selves“-Konzept ab, welches zukunftsorientierte Aspekte mit der eigenen Selbstwahrnehmung verbindet, d.h. Ideen darüber, was Individuen möglicherweise werden möchten und wovor sie Angst haben. FWS repräsentiert dabei den Teil des „Possible Selves“-Konzepts, der in Beziehung mit Hoffnungen und Bestrebungen des zukünftigen Arbeitslebens steht. Dabei zeigen Untersuchungen, dass das Konzept einen motivierenden Einfluss auf das Karrierebestrebungsverhalten hat. Brian Taber und Maureen Blankemeyer (2015) haben nachgewiesen, dass Schüler*innen aus einem einkommensschwachen Elternhaus, die eine Vision einer gewünschten Beschäftigung entwickelten, welche eine höhere Ausbildung erforderte, bessere Noten erzielten, als Schüler*innen, die ihre zukünftige Beschäftigung nicht in direkten Zusammenhang mit der eigenen Ausbildung sahen. Das FWS ist also ein wichtiger Faktor beim Verfolgen der eigenen Karriere. Es ist ein wichtiger Teil der Karriereanpassungsfähigkeit, also der individuellen Flexibilität und Bereitschaft, sich selbst oder die Umgebung zu verändern.

Das proaktive Karriereverhalten steht in Verbindung mit einem erfolgreichen Karrieremanagement. Ein erfolgreiches Karrieremanagement setzt sich aus den Faktoren “reason to” (z. B. intrinsischer Motivation) und “can do” (z. B. Fähigkeiten) zusammen. Die intrinsische Motivation, also die Motivation von innen heraus und ein Gefühl von „ich gestalte mit“ im Sinne der Selbstwirksamkeitserwartung, bildet dabei den Kern der beruflichen Selbstverwirklichung und der eigenen Zufriedenheit. So beeinflusst eine hohe Selbstwirksamkeit den eigenen Handlungserfolg, denn eine positiv ausgeprägte Selbstwirksamkeitserwartung wirkt motivierend, um auch komplexe Aufgaben in Angriff zu nehmen. Eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung korreliert dabei mit qualitätsvollen Zielsetzungen. Mit dem Wandel der Arbeitswelt wird die Auseinandersetzung mit der Wirkungs- und Sinnerwartung an die eigene Rolle dabei wichtiger, als es bisher im Rahmen der Entscheidung für klassische Berufsbilder der Fall war. Das FWS übernimmt hier die Rolle, den Start der Selbstwirksamkeitserwartung zu setzen, also die “reason to” überhaupt zu bilden, um gewünschte Zukunftskarrieremöglichkeiten zu verfolgen und stimuliert Individuen darin, „to engage in various proactive career behaviors, such as career planning, skill development, career consul-tation and network building“ (vgl. Taber und Blankemeyer 2015).

Eine weitere Untersuchung zeigt, dass vor allem Karriereerkundungen zu Veränderungen des eigenen FWS führen. Die Forscher empfehlen daher, dass Lehrer*innen Interventionen gestalten, die das FWS fördern, weil dies einen positiven Effekt auf sowohl die Karriereanpassung als auch die Karriereerkundung nimmt, also z. B. das Gestalten neuer Arbeitswelten. Dabei basiert eine solche Förderung des FSW auf dem Dreiklang aus dem Ziel der Karriereplanung, die Fähigkeiten der Entwicklung und dem Aufbau eigener Netzwerke.

Im Zentrum muss daher die Vermittlung der Kompetenzen „know why“, „know how“ und „know whom” stehen, welche das wesentliche Fundament eines proaktiven Karriereverhaltens bilden und in Zeiten „boundaryless careers“ immer wichtiger werden (vgl. Taber und Blankemeyer 2015).

Die BStO stellt ein wesentliches Instrument dar, um den Einzelnen in Form von der Förderung des FWS auf die Zukunft und den Wandel der Arbeitswelt vorzubereiten. Im Rahmen der BStO an Berliner Schulen unterstützen z. B. das Berliner Rahmenwerk sowie die Handreichungen zur BStO darin, wesentliche Prozesse wie Potentialanalysen oder Bewerbungstrainings zu vermitteln. Die Themen „know why” und „know whom” werden jedoch wenig bis gar nicht thematisiert (vgl. SenBJW 2015; LISUM 2011). Zudem stehen im Zentrum der Vermittlung meist starre und klassische Berufsbilder und das Thema Wandel und neue Arbeitsweisen der Zukunft wird inhaltlich nicht aufgegriffen.

Wie wird auf Berufe vorbereitet, die es heute noch nicht gibt und wie werden Schüler*nnen dafür sensibilisiert, dass sich aktuell, wie in diesem Blog umfassend dargestellt, zahlreiche Berufsbilder im Wandel befinden, es daher zu Kompetenzverschiebungen kommt und immer mehr berufliche Selbständigkeit gefordert wird?

Neben dem Wissen zu Berufen der Zukunft und zu der Zukunft der Berufe, sowie Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts (21. Century Skills,), erfordert es vor allem seine eigenen Fähigkeiten genau zu kennen. Die wichtigste Kompetenz sei hier die Zukunftskompetenz, d.h. „zu wissen was man braucht und es sich selbst zu holen“ (Lotter 2017). Das wichtigste Ausbildungsfach, so Wolf Lotter, muss hierfür im Rahmen des Wandels die Selbständigkeit sein. So heißt es in der Brandeins Ausgabe „Neue Arbeit“, es müsse an dem Umbau einer „Kompetenzgesellschaft“ gearbeitet werden, d.h. im Vordergrund müsse zunehmend die Anwendbarkeit von Wissen stehen, „die Fähigkeit, es in konkreten Situationen zu mobilisieren“ (Lotter 2017).

Kompetenzkonzept

Um mit den immer anspruchsvolleren technologischen Entwicklungen Schritt halten zu können und den höheren Anforderungen der Arbeitswelt an sozialen und personalen Fähigkeiten gerecht zu werden bedarf es neben neuen Formen des Wissens zunehmend vor allem neuer, vielfältig einsetzbarer Kompetenzen, wie z. B. Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit oder die Fähigkeit „längerfristige Prozesse zu überblicken und auch bei Rückschlägen durchzustehen“ (vgl. Poltermann 2013). Bei dem Begriff der Kompetenz handelt es sich um die Fähigkeit bestimmte, meist komplexe, Anforderungen in einem bestimmten Kontext erfolgreich zu erfüllen. Sie basiert nicht nur auf kognitiven Fähigkeiten, sondern auf einem System bestehend aus ethischen, sozialen, emotionalen und verhaltensbezogenen Komponenten. Dabei bilden Kompetenzen ein Konglomerat aus den Elementen Wissen, Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten, Motive sowie emotionale Dispositionen. Im Zeitalter der Wissensgesellschaft wird das Kompetenzkonzept nach de Haan (2007) zunehmend wichtiger und bringt folgende Vorteile:

  1. Deutlicher Bezug zur Lernbiografie
  2. Anerkennung von Erfahrungswissen (auch außerschulischem Wissen)
  3. Stärkung der Handlungsfähigkeit
  4. Verknüpfung von retroaktiven Lerndimensionen mit Antizipationsfähigkeit
  5. Berücksichtigung von Motiven, Emotionen, des Willens
  6. Explizier-, Interventions- und Evaluationsaspekte
  7. Stärkung der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten.

In den letzten Jahren wurden hier von Institutionen verschiedene Kompetenzkonzepte und Rahmenwerke, sogenannte Kataloge von 21. Century Skills, herausgebracht. Mit dem „DigComp“ hat die EU-Kommission 2013 ein zentrales Kompetenzkonzept herausgeben, welches vor allem auf eine soziale Inklusion, die persönliche Entwicklung, Beschäftigung und eine aktive Bürgerschaft abzielt (vgl. EK 2013). Aber auch andere Organisationen, wie z. B. das World Economic Forum, das Netzwerk „Partnership for global Education“, die RAND oder die OECD, haben vergleichbare Konzepte entwickelt, die sich in einigen Punkten überschneiden. So taucht das Lösen komplexer Probleme, kritisches Denken sowie Kommunikation, Kreativität und Kollaboration in allen Konzepten auf. Dabei unterscheiden sich solche Kompetenzen des 21. Jahrhunderts zunehmend von dem, was klassisch unter dem Kompetenzbegriff verstanden wurde, und bilden vielmehr “soft skills”, da es sich vorrangig um Attribute sozialer Fähigkeiten handelt: netzwerken, kommunizieren, verhandeln, Teamarbeit oder Problemlösung und damit vor allem um „non-kognitive Fähigkeiten“ (vgl. PISA 2015). So wird im jüngsten PISA Report der OECD die Kompetenz der kollaborativen Problemlösung als eine der zentralen Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert genannt (vgl. PISA 2015).

Im Mittelpunkt gegenwärtiger Entwicklungen, wie der Sharing Economy und dem übergreifenden Arbeiten, steht zunehmend die Kollaboration (lat. co- ‚mit-‘, laborare ‚arbeiten‘). Der dänische Philosoph Alfred Birkegaard (2015) hat sich diesem Phänomen in einer umfangreichen Forschung gewidmet und die Idee der Collaborative Society entwickelt. Dabei bezeichnet er die globale Vernetzung als den zentralen Treiber für eine Entwicklung bei der zunehmend weg von geschlossenen Märkten, Wissenschaft und Denken und hin zu mehr Inter- und Transdisziplinarität in unserem Denken und Arbeiten. Diese Inter- und Transdisziplinarität muss gelernt werden. In Finnland ist Kollaboration daher bereits ein exklusiver Teil des finnischen Curriculums (vgl. OPH 2015).

Da sich Kompetenzkonzepte häufig aus Anforderungen zusammensetzen, die vom Markt, der Globalisierung oder der Zukunft gestellt werden, nicht aber vom Menschen selbst, stößt dieses im Bildungswesen teils aber auch auf Kritik (z.B. Liessmann). Kompetenzen, die sich an Referenzlisten orientieren, passen nicht immer zu der „Selbstreferenz der Lernenden“ (vgl. de Haan 2007). Zudem können solche Anforderungen dazu verleiten, den Fokus auf eine ökonomische und organisatorische Funktionalität (Effizienz) von Bildungsprozessen zu setzen. Bildung und Kompetenzen aber sind nicht das Gleiche. So gelten Kompetenzen als objektivierbar und messbar, wo hingehen Bildung individuell sein sollte und sich nicht vergleichen lässt.

Die Integration des Kompetenzkonzepts stellt Schulen dabei aktuell vor Herausforderungen, da es ein komplettes Umdenken erfordert. So reicht es nicht aus, Kompetenzen nur als Ergänzung, z. B. im Rahmen der BStO zu integrieren, stattdessen müssen sie sich logisch in den Gesamtschulalltag und fächerbezogen einbinden lassen. Der populärwissenschaftliche Philosoph Precht, der mit seiner Kritik am Bildungssystem jüngst große mediale Aufmerksamkeit erhielt, kommentiert:

„Wir stellen die Liegestühle auf der Titanic um.“ (Precht 2013)

Das Bildungssystem als untergehendes Schiff, dessen Besatzung sich mit Kleinigkeiten aufhält, anstatt das Ruder rumzureißen. Bildungsforscher und Bildungspraktiker machen schon lange darauf aufmerksam, dass aufgrund der steigenden Bedeutung der Digitalisierung, die „Bildungsungerechtigkeit“ in Deutschland zu steigen droht, wenn Schulen sich nicht an die neue Welt und den Wandel der Arbeit anpassen. Hier gerät das schulische Bildungssystem unter dem Druck der Digitalisierung zunehmend tiefer in ein Netz verschiedener, vor allem wirtschaftlicher Anspruchsgruppen, wie die häufige Verwendung von Begriffen wie Bildungsmarkt und Bildungskapital zeigen. Die Tatsache, dass die Zahl der Privatschüler in Berlin von 17.617 in 2003/2004 auf 35.229 (2016) gestiegen ist, was eine Steigerung von über 99% ausmacht, und der kostenpflichtige Nachmittagsmarkt als Ergänzung zum Schulunterricht wächst, zeigt, dass Eltern zunehmend unzufriedener mit öffentlichen Schulen sind (SenBJW 2018, S. H1). Immer mehr Bildungsexperten, Lehrer oder Eltern, als auch Menschen, die die Schule schon längst verlassen haben, glauben, dass sich die Schule nicht mehr als ein Ort der Bildung, sondern vorrangig nur als ein reiner Ausbildungsort versteht, der sich noch immer am Paradigma des Entstehungskontextes orientiert. Die Unzufriedenheit am Bildungssystem ist nicht neu, dennoch sind es vor allem die jüngeren Entwicklungen im Kontext der digitalen Revolution und neuen, zukünftigen Arbeitswelten, die den Zweck von Schule und dem Bildungsbegriff in der Wissensgesellschaft vor neue Herausforderungen stellen.

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis senden wir dir gern zu. Die Inhalte des Artikels entstammen der Masterarbeit der Gründerin Aileen Moeck, die 2018 am Institut Futur der FU Berlin veröffentlich wurde .

--

--

Aileen
Die Zukunftsbauer — was ist deine Mission?

Futurist, visionary & strategic mind, founder & activist, transformation, innovation and imagination @dieZukunftsbauer & @DasZukunftsbauerInstitut