Über die Jungfräulichkeit

und warum sie nicht existiert

Brigitta Buzinszki
7 min readNov 19, 2016

Schreibe darüber, was du kennst

So heißt es in jeder Einführung in das kleine 1x1 des Schreibens

— mit der Nachwirkung einer halben Weinflasche und dem pochenden Echo eines furchtbar erleuchtenden Gesprächs mit einem jungen Mann im Nacken, will ich also über das schreiben, was ich nicht nur kenne, sondern als Meister praktiziere.

Das jungfräuliche Dasein.

Let´s go!

Storytime

Ich hatte John* online kennengelernt, und zwar zögerte ich beim ersten Händeschütteln, wusste ich bis zum Betreten des Pubs bereits, dass ich einen guten Menschen an meiner Seite hatte.

Aufdringliche Draufgänger, verklemmte Stillschweiger und Fetischisten, die nach einer Gelegenheit suchten sich auszuleben — alles gehabt, über alles gelacht; es war aber angenehm zur Abwechslung jemand durchschnittliches zu treffen.

Viel ist daraufhin passiert, geschlafen haben wir miteinander jedoch nicht, wohl hauptsächlich, weil es mir in dem Augenblick nicht passte; ich wäre bei einem weiteren Treffen jedoch nicht abgeneigt.

Keiner von uns suchte etwas Festes, daher hielten wir die Sache auf Distanz — vor allem, weil er lediglich vorübergehend im Land wäre.

Wir wollten uns ein-zwei Mal sehen; nicht mehr, nicht weniger. Allerdings kam es nie dazu; eines Abends entwuchs nämlich einem Nachrichtenverlauf ein Gespräch, dessen Gesamtkontext auf ein einziges Problem reduzierbar war: meiner Jungfräulichkeit.

“Du bist eine unglaublich intelligente, wunderbar attraktive Frau; da bewundere ich dich dafür, dass du so lange enthaltsam warst”* — schrieb er, als sei ich drauf und dran ins Kloster zu ziehen.

“In keinster Weise sehe ich mich daher im Recht, dir einen Lebenswandel aufzuzwingen; weil ich dir daraufhin eben nichts bieten kann. Ich halte mich in der Absicht zurück, dir gegenüber Rücksicht zu zeigen.”*

Oh Junge, junge, das wäre ehrlich nicht nötig gewesen; aber ich will das Beste aus der Situation machen

— ein Musterbeispiel für die Stigmatisierung der Jungfrauen; einem festgesetzten, falschen Bild, das sich in vielen Menschen über eine eigentlich so einfache Sache im Verlauf unserer Geschichte festgesetzt hat.

Es wird Zeit die Einstellung zu verscheuchen, dass das erste Mal etwas hoch-heilig Besonderes sei; und hier ist warum.

Stigmata — Stigmata für alle!

Jungs und Männern, Mädchen und Frauen wird stets vermittelt, die Jungfräulichkeit sei etwas reines, fassbares, was man verlieren könne — denkt man dabei an das Jungfernhäutchen, macht das Bild vielleicht Sinn; allerdings besitzen manche Frauen nicht einmal diese Trennhaut.

In manch einer Kultur verliert jedoch mit der Jungfräulichkeit zuzüglich auch die Frau an Wert. Deswegen gebühre ihr ein wohlüberdachter, behutsamer Umgang — dementsprechend ist das Thema mit einer unglaublichen Zahl an Vorurteilen sowie kulturellen Normen behaftet, thronend auf einem schirr unerreichbaren Podium der hohen Prioritäten.

Bei dieser Präsenz also ist es kein Wunder, dass sich die Jugendlichen wie junge Erwachsene davon unter Druck gesetzt fühlen.

Einerseits sollen vor allem Frauen auf die wertvolle V-Card aufpassen; sie nicht leichtsinnig abgeben, ihre Reinheit, ihre Unschuld vor der Bösen Welt, den gefährlichen Raubtieren wahren.
Andererseits ist ein junger Mann kein wahrer Mann, solange er nicht mindestens einmal seinen Penis an den rechten Fleck befördert hat; weil das so viel mehr zählt als seelische Reife, Anstand und eine gepflegte Intelligenz.

Ich rufe nun Bullshit, Blödsinn, kompletter Quatsch.

Liebe Jungs und Männer — ihr schlaft vielleicht mit einer Frau, aber der Rest der Welt wird davon kaum etwas mitkriegen; ihr zeichnet euch demnach nicht mit eurer sexuellen Erfahrung, sondern mit eurem Auftreten aus.

Seid die beste Variante eures Selbst und jeder wird es euch danken, euch anerkennen.

Junge Frauen — Frauen jeglichen Alters, ihr seid und bleibt wertvoll, ob nun vor oder nach dem ersten Sex.

Die Idee dem sei nicht so, entspringt einer Zeit, in der Verhütung lediglich ein weitentfernter Traum hätte sein können. Heute ist die Möglichkeit den Sex lediglich als Spaß zu sehen, in jedem Supermarkt und jeder Apotheke zu erwerben — mit der Pille, dem Kondom und deren richtigen Einsatz ist er ohne wesentlichen Konsequenzen zum freien Genuss, für jeden da.

Sex

Sobald sich also jemand bereit fühlt, denkt, dass der richtige Mensch, der richtige Augenblick gekommen sei — die Partner völlig aufgeklärt, über das Mindestalter hinaus und komplett einvernehmlich dabei sind, warum sollte sich jemand dann nicht auf eine wunderbare und natürliche Nebenbeschäftigung einlassen?

Weil die Eltern dagegen wettern — die Mutter vor der Schwangerschaft warnt, der Vater bereits das Messer wetzt?

Oder weil vielleicht jemand Schlampe hustet oder Gerüchte in die Welt setzt?

Ja, ich kann mich an meine Jugend erinnern — ich weiß, dass die Familie einem ehrliche Angst unter die Haut treiben kann und Kommentare der Mitschüler das Selbstwertgefühl in den Keller befördern, dass man bloß in den Boden versinken möchte.

Aber hier sitze ich nun, meinen Pickeln, dem Babyspeck und den Hormonschwankungen — meistens zumindest — entwachsen, mit einer geringen Lebensweisheit und sage: du bist du und nur du weißt, was für dich richtig ist.

Genau das Gleiche gilt im umgekehrten Fall.

Kein Sex

Was, wenn ich nun entgegen jeglichen Erwartungen keinen Sex haben will, kann — oder es sich einfach nicht ergeben hat?

Schart euch um mich meine jungen Padavane, dem Yoda der Jungfräulichkeit.

Genau wie Männer den sozialen Druck bereits im jungen Alter spüren, genau so baut sich auch bei Frauen Druck von Außen auf, sobald ein gewisses Alter überschritten wurde.

Für beide gilt jedoch wieder: was die Welt um einen herum denkt, darf gerne von euch abperlen.

Ja, es braucht Kraft und Selbstbewusstsein, um über der Sache zu stehen.

Es braucht furchtbare Geduld Leuten die Sachlage zu erklären, wenn man darauf zu sprechen kommt.

Und es braucht vielleicht Mut mit der Geschichte auszupacken, die jeder von uns im Rucksack trägt, warum er oder sie Mitte Zwanzig, Ende Dreißig, Anfang Vierzig (noch) mit niemanden geschlafen hat.

Meine Geschichte ist ehrlich nicht spannend, aber umso häufiger.

Lass los

Ich war ein furchtbar schüchternes Mädchen und fühlte mich auf jeder Party, in jeder Disco, in jedem Pub fehl am Platz.

Später änderte sich das — hauptsächlich durch die Liebe zu Bier und Wein sowie guten Unterhaltungen;

was jedoch blieb, war die Erinnerung an meine unglückliche Jugend. Das Selbstbewusstsein im Keller, verursachte jedes Gespräch mit Unbekannten Schweißausbrüche.

Bin ich nun weniger wert? Habe ich eine Validierung meines Erwachsenseins verpasst? Bin ich überhaupt eine richtige Frau?

So gelesen sind das ehrlich dumme Gedanken. Für mich — für viele in meiner Situation — aber sind sie fassbar echt.

Ich durchforstete mein Gehirn nach einem Grund, warum ich keinen Sex gehabt hatte.

War ich unattraktiv? War ich seltsam, unlustig, langweilig — etwa unfähig zur Liebe?

Dass ich lieben konnte, fand ich bald heraus; und ich glaube mich gerne lustig, auch wenn mein Humor von der Norm abweichen kann.

Ich bin hässlich — folgerte ich. An meinem Aussehen, so sehr ich auch wollte, konnte ich aber leider nichts ändern.

Inzwischen war ich zwanzig und ohnehin zu spät zum Klubtreffen der eingeweihten Wesen mit Geschlechtsverkehr; also dachte ich mir: was soll´s.

Ich hörte einfach auf, darüber nach zu denken.

Und hier halte ich kurz inne, weil eine wunderbare Sache passierte.

Sobald ich mich entschied, dass Sex nicht wichtig war, fiel jeglicher Druck von meinen Schultern — und plötzlich lief alles so furchtbar leicht.

Ich definierte mich über andere Dinge, fand Bestätigung in meiner Arbeit, meinem Studium und bastelte an meinen Freundschaften herum; ich ging aus und ließ mich ohne Vorbehalte auf neue Leute ein

— dabei erkannte ich, dass es so viele wichtige Dinge gab, über die man sich tagtäglich den Kopf zerbrechen kann und muss:

Arbeit, Steuern, die körperliche wie geistige Gesundheit, der leere Kühlschrank, Trumps Truppe, der Krieg in Syrien, die Endszene von Inception

— Sex wiederum, reiht sich beim besten Willen nicht ein.

Aus dieser Entspannung heraus

Ich sagte bereits, dass plötzlich alles furchtbar einfach wurde.

Ich brach mit allen Stigmata, verabschiedete mich von dem Gedanken, dass die Jungfräulichkeit etwas wichtiges gewesen war, was ich nun loswerden müsste.

Ich hörte auf, daran zu glauben, dass es sie überhaupt gab.

Den ersten Sex? Ja. Aber die “Jungfräulichkeit” wie sie unsere Kultur erschaffen hatte? Nein.

Und hier will ich den Kreis schließen, um auf Johns Nachricht zurückkommen.

Ich suche mir stets die Männer aus, die wir mit aller Liebe als “anständig” und “wohl erzogen” bezeichnen können — hier klopfe ich mir gerne auf die Schulter; allerdings unterlegen sie als solche dem Eindruck, dass der erste Sex ein weltbewegendes Ereignis für die Frau sein muss und fühlen sich prompt verantwortlich.

Und das ist nicht immer der Fall — vor allem Frauen in meinem Alter trennen den Sex von der Beziehung; ob nun erfahren oder unerfahren, tut das ehrlich nichts zur Sache. Das heißt, dass das Bild der “anhänglichen Jungfrau” mit dem Rauch davongetragen wird.

Aufgeschlossenheit, Unabhängigkeit, Neugier und die Liebe zum Leben — das sind Züge, die ich in vielen Frauen und Männern sehe, die mit mir in einem Boot sitzen. Sie wären die Letzten, die gehobene Ansprüche an ihre jeweiligen Partner stellen und mit naiven Bambiaugen nach der Nacht die Hochzeit planen.

Dafür ist unsere Generation zu abgeklärt.

Ich hoffe, ich konnte zum Thema einen produktiven Beitrag leisten — und wenn ich nur ein-zwei Personen erreicht habe, war dieser schwierige Artikel es bereits wert, mir die Zähne dran auszubeißen.

*Namen, Umstände sowie Textauszüge wurden so abgeändert, dass die jeweilige Identität der beteiligten Personen gewahrt wird.

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Brigitta Buzinszki

Lehrerin und Mutter // meine Meinung meist mit Humor verfeinert // Writes occasionally in English about Germany, Hungary and Brazil