Das Leibniz Kolleg

Ein Besuch im Tübinger Leibniz Kolleg

Tübinger Geschichten
4 min readFeb 20, 2015

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Kaum ein Einwohner weiß, dass es existiert. Mitten in der Stadt versteckt sich das Leibniz Kolleg, hunderte Jugendliche aus ganz Deutschland hoffen jedes Jahr, in den neuen Jahrgang zu kommen. Ein Einblick in ein ganz besonderes Lern- und Lebenskonzept.

Februar 2015, ein normaler Wochentag in Tübingen: Studenten hetzen über die Wilhelmsstraße, zwischen Mensa, Bibliothek, Kupferbau und den Instituten hin und her. Direkt nebenan liegt, völlig unbeachtet und den meisten Tübingern unbekannt, das geschichtsträchtige Leibniz Kolleg. Das alte, dreistöckige Gebäude steht gemächlich direkt hinter dem Parkhaus der Unibib.

Doch der ruhige Schein der Nebenstraße trügt: In dem historischen Gebäude geht es drunter und drüber. 53 Kollegianer — Kekse, wie sie sich selber nennen — wohnen, leben und lernen in diesem Haus. Die meisten haben gerade das Abitur hinter sich und versuchen durch das 9- monatige Studium Generale, sich ihrer Berufs- und Lebensziele klarer zu werden.

Interdisziplinarität als höchstes Gut

Interdisziplinarität als höchstes Gut So auch die 20-jährige Anna*: Nach einem erfolglosen Bewerbungsversuch direkt nach dem Abi hat sie es nun ein Jahr später endlich in das Kolleg geschafft. In der Zwischenzeit hat sie aus Spaß ein Semester Philosophie und Psychologie studiert, doch das spezielle Programm des Kollegs findet sie immer noch interessant: Von Sprachen über Statistik, bis hin zu Jura und Astronomie ist hier alles möglich. Einzige Vorgabe bei der Stundenplangestaltung: Mindestens jeweils einen Kurs aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften.

Genau diese Interdisziplinarität war der französischen Militärregierung, die das Kolleg 1948 als Institut der Uni gründete, besonders wichtig. Im Nachkriegsdeutschland sollte bei der jungen Generation ein umfangreiches geschichtliches und demokratisches Verständnis geschaffen werden. Inzwischen gehört das Kolleg nicht mehr zur Universität, da diese mit ihren durch den Staat bezogenen Geldern die Elitenförderung nicht unterstützen darf.

Elitenförderung? Nein, aber…

Bei den Keksen handelt es sich gewiss nicht um die typischen Vertreter der elitären Schicht Deutschlands. Trotzdem bekommt nicht jeder einen Platz im Jahrgang: Ohne gute Noten, ehrenamtliches Engagement und umfangreicher Beschreibung der eigenen Interessen und Fähigkeiten wird die Bewerbung erfolglos bleiben.

Finanziell getragen wird das Kolleg vom Förderverein und den Studenten: Pro Monat sind 470 Euro für Miete und Studium zu zahlen, in manchen Fällen ist eine Ermäßigung möglich.

Alleine sein? Fast unmöglich.

Anna öffnet die Tür zur quirligen Gemeinschaftsküche — in den Stoßzeiten erinnert der Raum an einen asiatischen Wochenmarkt voller Menschen und Kochgerüche. Jeder hat hier ein Fach im Schrank und einen kleinen eigenen Abschnitt im Riesen-Kühlschrank. Selbstverpflegung statt Vollpension. Alleine ist man hier praktisch nie: „Auch um 3 Uhr nachts wird hier noch gekocht.“

Alleine, ein Wort, das nicht wirklich in dieses Haus passt. Für die 53 Kollegianer gibt es drei Einzelzimmer und 50 Doppelzimmer — gerade einmal 15 Quadratmeter Platz für zwei sich bis dahin fremde Menschen. Doch viel Zeit verbringen Anna und ihre Kommilitonen in ihrem Zimmern sowieso nicht: Zum selbst zusammen gestellten Stundenplan mit rund 20 Wochenstunden kommen gemeinschaftliche Wochenendseminare, umfangreiche Trimesterarbeiten und Gemeinschafts-Workshops bis spät in den Abend.

Wer so eng aufeinander lebt und rund um die Uhr gemeinsam arbeitet, lernt sich schnell kennen. Sechs Pärchen gibt es inzwischen, eines sogar schon seit dem zweiten Tag. „Wir sind echt ein Pärchenjahrgang, ich glaube, so viele gab es noch nie“, sagt Anna und grinst. Die intensiven neun Monate im Kolleg formen ohne Frage Freundschaften fürs Leben.

Keine Noten, aber eigener Leistungsdruck

Obwohl es für die im Kolleg erbrachten Leistungen keine Noten gibt, liegt eine gewisse Spannung in der Luft. Wer sich erfolgreich beworben hat und ein Jahr im Leibniz Kolleg verbringen darf, sticht durch überdurchschnittliche Interessenvielfalt und Leistungsbereitschaft heraus. Wenn man dann etwas macht, möchte man es richtig machen. Und im Kolleg macht man viel.

„Man muss sich schon zwischendrin immer wieder klar machen, dass diese Zeit der Orientierung dient und auch Spaß machen soll. Die Anforderungen sind zwar schon hoch, aber unter manchen Studenten findet zusätzlich so ein indirekter Konkurrenzkampf statt. Das würden die meisten nicht zugeben, aber ich denke, jeder fühlt diesen Druck.“

Es geht die Treppe hoch, Anna öffnet die Tür zu ihrem Reich: Sie hat in diesem Trimester eins der raren Einzelzimmer bekommen. Ein paar wertvolle Quadratmeter Privatsphäre in einer turbulenten Umgebung, in der man eigentlich nur im Badezimmer noch für wenige Momente alleine ist. Doch so richtig alleine ist sie auch hier nicht. Aus dem Nebenzimmer erklingen Gitarrenakkorde, aus dem unteren Stockwerk ein klassisches Klavierstück. Noch eine halbe Stunde Pause, dann geht es weiter: Statistikseminar bis 23 Uhr.

*Name von der Redaktion geändert

Weiterführende Links:

Leibniz Kolleg

Campusmagazin “Kupferblau” über das Kolleg

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