Auf dem Boulevard

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt Heinz Ullstein Anfang der 1940er Jahre auf dem Kurfürstendamm. Er ist auf dem Weg nach Hause von der unbezahlten Zwangsarbeit, die er als Jude leisten musste: Kohlenausladen am Güterbahnhof Halensee. In der Realität des Dritten Reichs trug er einen Judenstern . Doch die Regeln von ChatGPT erlauben keine Darstellung dieser Realität.

Nach West-Berlin

Der Umweg, auf dem WM und sein MG ins fernöstliche Tokio gelangen, führt über den näheren Osten. Inmitten der sowjetischen Besatzungszone liegt West-Berlin. Seine Bewohner nennen sich Insulaner.

„Als ich Berlin zum ersten Mal besuchte (abgesehen von einem kurzen Aufenthalt während der Geburt)“, sagt WM einmal, „war ich über 20 Jahre alt und hatte den Auftrag, für das Hamburger Abendblatt etwas über den Kurfürstendamm zu schreiben.“

Abgesandt hat ihn Chefredakteur Wilhelm Schulze. Seinem Förderer liefert WM eine literarische Reportage. Damals, im Dezember 1950, fährt noch eine Straßenbahn den West-Berliner Boulevard herauf und wieder herunter. WM steigt im Morgengrauen ein und schildert die Szene im Zeitstil des filmischen Neorealismus:

„Die Bahn tut, als wäre sie der Wecker für die Straße. Allmählich wird sie wach, lebendig. Reinemachefrauen kommen und löschen die Reklamebeleuchtungen an den Läden. Und bis es hell wird, sieht der Kurfürstendamm aus wie jede andere Straße: dunstig, müde, kalt. Es ist, als lege er für eine Weile sein aufdringliches Kleid ab; seine Schminke, die ihn anders machen soll, als er ist. Aber nur für wenige Stunden. Mit den Verkäufern der Morgenzeitungen kehrt die gleißende Fassade zurück. Dann tut der Kurfürstendamm für zwanzig Stunden so, als wäre er noch immer der, der er früher war.“

Anstrengungen zur Neubelebung gibt es: „Über dreihundert Geschäfte stehen wieder auf dem Kurfürstendamm. 17 Juweliere sind darunter, 15 Antiquitätenläden, sechs Teppichhändler, 13 Modesalons. 46 Geschäfte haben nach der Währungsreform Konkurs gemacht.“

WMs finales Urteil über den Boulevard im Zentrum West-Berlins ist dennoch hart: Einst „Mittelpunkt geistiger, modischer und gesellschaftlicher Extravaganz“ sei der Kurfürstendamm nun „Treffpunkt der geistigen Impotenz“, eine „Straße der zerstörten Illusionen“.

Aufstieg und Fall von Weltoffenheit und Modernität

Den Anfang vom Ende der weltläufigen Lebendigkeit des Boulevards markierte die Nationalsozialisierung der Presse. Boulevardzeitungen hießen so, weil ihre Exemplare nicht — oder nicht primär — über Kioske oder Post-Abonnements vertrieben wurden, sondern von Zeitungsjungen. Die schrien die sensationellen Schlagzeilen auf den Boulevards heraus, auf dass man ihnen die Zeitungen „aus den Händen riss“. Die erste Berliner Boulevardzeitung war die B.Z. am Mittag, erfunden 1904 von Louis Ullstein, einem der fünf Söhne des Verlagsgründers Leopold Ullstein. Ihr ungeheurer Erfolg trug wesentlich dazu bei, dass der Verlag zum größten Buch- und Zeitungskonzern Europas aufstieg.

In den 1920er Jahren publizierte Ullstein, neben Tausenden von Büchern in einem Dutzend Verlagen, eine zweistellige Zahl von Tageszeitungen und Wochenblättern, Monatsmagazinen und Fachzeitschriften. Am auflagenstärksten und einflussreichsten war die B.Z. am Mittag, die Wilhelm Schulze leitete, bevor er 1933 zur eigenen Sicherheit das Land in Richtung Japan verließ. Hohes Ansehen genossen auch die Berliner Morgenpost, Vossische Zeitung und Berliner Illustrirte. Politisch standen sie für weltoffenen Liberalismus und Modernität.

„Das Haus Ullstein“ schrieb Arthur Koestler über den Verlag, für den er in der ersten Nachkriegszeit lange Jahre arbeitete, „war eine politische Macht und gleichzeitig die Verkörperung des fortschrittlichen und kosmopolitischen Geistes der Weimarer Republik.“

Mit der ersten deutschen Demokratie endete auch die Verlagsgeschichte — um mit der zweiten deutschen Demokratie für einen historischen Augenblick neu aufzuleben. 1934 mussten die Ullsteins, von einem ruinösen Boykott bedroht, weit unter Wert verkaufen. Viele Publikationen, darunter die traditionsreiche Vossische Zeitung, stellten die Nazis sofort ein. Den Rest des Konzerns gliederten sie in den Zentralverlag der NSDAP ein. Die Familie ging fast geschlossen ins US-Exil. Heinz Ullstein allerdings, der einzige Sohn des bereits 1933 verstorbenen B.Z.-Begründers Louis, blieb bis zum Ende. Nicht seinem, sondern dem der Nazis.

Auf dem Ku’damm flanieren — mit Judenstern am Revers

In den 1920er Jahren hatte Heinz Ullstein sich als Schauspieler, Filmproduzent, Filmregisseur und nicht zuletzt Lebemann versucht. Nun kämpfte er ums Überleben, „nur relativ beschützt von seiner ‚arischen‘ Frau Änne und seinem berühmten Namen“, wie Will Tremper in seinen Memoiren schreibt:

„Den gelben Judenstern am Revers, ließ er sich scheinbar gleichmütig zu Arbeitseinsätzen zwingen, zum S-Bahnwagenwaschen am Lehrter Bahnhof, zum Kohlenausladen am Güterbahnhof Halensee. Danach spazierte der einst so elegante Müßiggänger, verdreckt von oben bis unten, den Kurfürstendamm hinauf, und wenn er in den Vorgarten-Cafés Bekannte aus alten Zeiten sah, blieb er ostentativ stehen und betrachtete die ausgehängten Preislisten, als ob er, wenn er wollte, immer noch eintreten könnte. Sein Drogist am Viktoria-Luise-Platz hatte auch im letzten Kriegsjahr noch ein Stück Yardley-Seife für den Gedemütigten, und die ‚Mieder-Else‘ von der Lei-La-Li-Bar in der Motzstraße stellte dem maroden Freier, wenn sie ihn über den Hof schleichen sah, ihr Zahnputzglas mit einer Daumenbreite Scotch ans Küchenfenster.“

In der eigenen Familie galt Heinz Ullstein seit den 1920er Jahren als „ungeraten“. Die Befreiung Berlins bringt für ihn, nun Ende Fünfzig, die lange ersehnte Gelegenheit, sich zu beweisen. Er beantragt bei den West-Alliierten die Lizenz für eine Neuauflage der von seinem Vater begründeten B.Z. am Mittag. Über Praxis als Zeitungsmacher verfügt er freilich kaum. Daher vertraut man ihm nur ein kleineres Projekt an, eine Frauenzeitschrift. Ihr Titel: sie. Für die Mitarbeit gewinnt Heinz Ullstein zwei Intellektuelle aus dem Anti-Nazi-Widerstand: die Schriftstellerin Ruth Andreas-Friedrich sowie den Ex-Ullstein-Redakteur und späteren Verleger Helmut Kindler. Die Gründung gelingt. Heinz Ullstein hat sich für Höheres bewährt.

Um die gleiche Zeit kehrt Rudolf Ullstein, Louis‘ Halbbruder und Heinz‘ Onkel, nach Deutschland zurück. Er hat den Krieg in Großbritannien als Fabrikarbeiter überlebt und fordert die Rückerstattung des Familieneigentums. Seine juristischen Bemühungen zeitigen 1952 partiellen Erfolg. Neben Immobilien wie dem Tempelhofer Ullsteinhaus gehören zur Restitution die Lizenzen für zwei Berliner Tageszeitungen.

Sowjetische Panzer und amerikanische Filmstars

Die in vier Besatzungszonen aufgeteilte ehemalige Reichshauptstadt existiert auf der Kippe — zwischen kaltem und heißem Krieg, aber auch zwischen Altlasten und Neuanfängen. Eine ideale Zeit für Tageszeitungen. Rudolf Ullstein, fast 80 Jahre alt, beginnt im September 1952 mit der Neu-Herausgabe der Berliner Morgenpost. Als Chefredakteur engagiert er einen Mann, den er aus langjähriger Zusammenarbeit schätzt und der gerade bei Springers Hamburger Abendblatt spektakulär gekündigt hat: Wilhelm Schulze. Zu berichten gibt es genug.

Der Kalte Krieg droht heiß zu werden. Um die Jahreswende 1952/53 führen amerikanische und chinesische Truppen in Korea einen verlustreichen Stellungskrieg. In der sowjetischen Besatzungszone eskaliert die soziale Krise. Die Westberliner Aufnahmelager sind mit Flüchtlingen aus dem Ostteil der Stadt überfüllt. Am 5. März stirbt Stalin. In Moskau tobt der Machtkampf um seine Nachfolge. Später im Monat führt die Feindschaft zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zum Abschuss einer britischen Militärmaschine, die sich in einen verbotenen Teil des Luftraums verirrt hat. Alle sieben Besatzungsmitglieder verlieren ihr Leben. Anfang Juni feiert die britische Garnison die Krönung Königin Elisabeths II. mit einer großen Militärparade in Charlottenburg.

Den Höhepunkt der Gegensätze bringen die nächsten zwei Wochen: Im Ostteil der Stadt rebellieren die Arbeiter gegen das kommunistische Regime. Sie verlangen Freiheit, Demokratie und die Wiedervereinigung mit Westdeutschland. Sowjetische Panzer walzen den Aufstand am 17. Juni nieder. Dutzende Menschen verlieren ihr Leben, Hunderte werden verletzt, über 10 000 verhaftet. Am nächsten Tag, dem 18. Juni, beginnt im Westteil der Stadt, kaum sieben Kilometer entfernt, die dritte Berlinale. Zu dem glamourösen internationalen Filmfestival, ins Leben gerufen und finanziert von der amerikanischen Militärregierung, reisen die Hollywood-Stars Ingrid Bergman, Gary Cooper und Errol Flynn an. Gleichzeitig riegeln russische und ostdeutsche Truppen die Grenze zu West-Berlin hermetisch ab.

WM heuert bei Ullstein an

Heinz Ullstein, inzwischen Verlagsleiter, scheint die Zeit reif, um auch die legendäre B.Z. wiederauferstehen zu lassen, unter seiner Verantwortung. Wilhelm Schulze erhält das Angebot, zusätzlich zur Morgenpost auch Chefredakteur ‚seiner‘ ehemaligen B.Z. zu werden. „Tokio-Schulze“, inzwischen Ende Fünfzig, hat viele neue Stellen zu besetzen. Er kontaktiert den jungen Autor, der ihm serielle Tatsachenberichte eingeredet hat und dann aus Protest gegen die Beschäftigung des Nazis Schenzinger kündigte.

„Schulze sagte“, erinnert sich WM: „,Ich brauche einen Jungen. Ich weiß nicht mehr, was die Jungen wollen.‘“

Mit der satirischen und zeitkritischen Radioserie Adrian und Alexander hat WM sich eine gewisse Prominenz erschrieben. Von Heinz Ullstein erhält er nun, nur wenige Monate, nachdem er sich die Schulden für seinen geliebten MG TD aufgeladen hat, ein gutdotiertes Angebot: Ressortleiter für Serien bei der B.Z. Die erste Ausgabe ist für November 1953 geplant.

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Vorheriges Kapitel:
13 Vom deutschen Adler zum britischen MG

Nächstes Kapitel:
15 Verliebt, verlobt, nach West-Berlin verzogen

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German