Verarmt und allein

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WM 1955 in seiner Wohnung in Tokio, wo er die Nächte durch arbeitet, um über die Runden zu kommen — wachgehalten von seinen kleinen britischen Pillen.

Ist Küssen Kultur?

WM muss Geld verdienen, mehr Geld, als er geplant hatte. Das wird ihm nach wenigen Tagen in Tokio klar. An seinen Mentor Albin Stuebs schreibt er:

„Der Osten ist ebenso aufregend und faszinierend, wie das Leben für unsereins teuer ist.“

Denn er verdient D-Mark, und der Wechselkurs ist alles andere als gut. WM beginnt zu arbeiten wie kaum je in seinem Leben. Themen finden sich zuhauf. Er recherchiert und schreibt über Tagespolitisches wie Kulturelles, über Japans strukturelle Arbeitslosigkeit und den daraus resultierenden Linksruck von Parteien und Gewerkschaften in Richtung China, über den Kronprinzen, japanische Hochzeiten, Theater, Film, asiatischen Mädchenhandel und für den NWDR-Frauenfunk auch Auftragsarbeiten, etwa über „,die Stellung der japanischen Frau‘ (zu schöner Ausdruck)“. Und natürlich, aus der Not eine Tugend machend, einen Artikel über die exorbitanten Lebenshaltungskosten.

Selbst zur Kusskultur recherchiert WM:

„Kinyo Tanaka, die sogenannte ‚Königin des japanischen Films‘, ist bisher nur einmal geküsst worden und erklärte daraufhin: ‚Ich hoffe, dass mir sowas niemals wieder passiert.‘ Vor der Kapitulation war jegliches Küssen strikt tabu in Japan. Bis dahin schnitt die Zensur alle Kussszenen aus Filmen heraus. Als Filmküsse zum ersten Male gezeigt wurden — das war 1946 –, gab es in den Filmtheatern der großen Städte schmetterndes Gelächter. Die Leute vom Lande dagegen waren angewidert. Der Ausspruch des berühmten alten Mütterchens ist folgendermaßen überliefert: ‚Igitt‘, schrie sie auf, ‚die spucken sich ja gegenseitig in den Mund.‘“

WMs kleine englische Pillen

Was sich liest, als sei es mit leichter Hand verfasst, tippt er unter stundenlanger Anspannung mit schwerem Schlag und mehreren Durchschlägen.

„Ich weiß nicht, lieber Herr Stuebs, ob Sie aus den Manuskripten ersehen können, wie viel Arbeit drinsteckt. Es sind mindestens zehn Tage zu je 10 Stunden.“

Nach monatelangem Durcharbeiten weiß WM sich nicht mehr anders zu helfen: Er bittet einen Hamburger Freund um Aufputschmittel. Den „lieben Hans“ erinnert er daran, „dass ich dir seinerzeit auch des Öfteren Tabletten besorgt habe, die du nicht in Deutschland bekommen konntest“. Nun möge er sich bitte revanchieren und „ein paar von den englischen Tabletten“ schicken:

„Ich weiß leider nicht, wie sie heißen und weiß auch nicht, wo sie hergestellt werden. Andererseits muss ich manchmal 20 Stunden hintereinander arbeiten und hätte gerne gerade diese Tabletten, weil sie mir am wenigsten schädlich vorkommen.“

Tokios Nächte — kurz und einsam

Zur Überarbeitung kommt die private Vereinsamung. In Tokio lassen sich Freundschaften kaum schließen. Im Juli offenbart WM seiner Schwester Marianne:

„Langsam finde ich ein bisschen Gefallen an dem Land. Und jetzt kann ich Dir schreiben, dass ich in den ersten Wochen am liebsten wieder abgereist wäre. So hübsch und charmant die japanischen Mädchen sind, so widerlich erscheinen mir die Männer. Am liebsten wäre ich gleich nach Hongkong gegangen. So allmählich fühle ich mich ja wohl, obwohl man doch hier wohl immer verhältnismäßig einsam bleiben wird. Intimitäten sind noch nicht zu berichten. Ich kann mich nicht recht entschließen.“

Die vollständige Vereinsamung, die er als Ausländer erlebt, beschwört er drastischer und poetischer noch in einem autobiographischen Feuilleton für den NWDR herauf:

„Die Nächte sind kurz in Tokio. Es ist sinnlos, sich vor Mitternacht schlafen zu legen. Bevor sich die Moskitos nicht zur Ruhe begeben und die Zikaden und Grillen eingesehen haben, dass sie heute, selbst bei gefährlicher Überanstrengung ihrer Lungen, nicht mehr das bösartige Hupen der wie betrunken umhersausenden Taxis übertönen können, bevor das nicht geschieht, ist an Schlaf nicht zu denken. Gestern Abend muss ich trotzdem eingeschlafen sein; vielleicht hatte der kurze Regen vorher etwas abgekühlt. Ich muss richtig geschlafen haben, denn als ich von einem Pfiff geweckt wurde, war ich noch eine lange Zeit im Niemandsland der Träume. Jemand vor meinem Hause hatte ein paar Takte aus der Traviata gepfiffen, und er wiederholte dieses Signal immer wieder, dass ich langsam hochtaumelte, um nachzusehen, wer mich, verflucht noch mal, so mitten in der Nacht noch besuchen will. Erst, nachdem ich meine Augen tüchtig gerieben hatte, um sie an das grelle Lampenlicht zu gewöhnen, entdeckte ich die Tatamis, diese Strohmatten, mit denen jedes japanische Zimmer ausgelegt wird. So wusste ich plötzlich, wo ich war, in Meguro-ku, Kakinokizaka, in Tokio. Also wusste ich noch etwas: nämlich, dass ich umsonst aufgestanden war. Der Pfiff galt nicht mir.

Hier pfeift kein Freund vorm Fenster.

Hier bin ich allein, wie jeder andere mit weißer Haut, großen Augen und langer Nase.

Jeden Abend fahre ich nach Hause, in das hoch ummauerte Stückchen Ich, das niemandem gehört und das ich mit niemandem teile. Wenn ich die Tür verschlossen habe, bin ich drin, hoffnungslos verbarrikadiert, kein Passant wird stehen bleiben. Sie gehen alle vorüber, keiner wird klingeln, und erst recht wird niemand draufkommen, um Mitternacht ein paar Takte aus der Traviata zu pfeifen, weil er plötzlich Lust hat, mit mir über die Chagall-Ausstellung im Marounuchi-Building zu sprechen.“

Der deutsche Mief als Motivation

Menschenseelenallein, wie er in Tokio ist, wünscht sich WM einen Freund. Einen, der nichts gegen Langnasen hat. Und am besten einen, der ihm auch beim Geldverdienen helfen kann.

Die höchsten Honorare in Deutschland zahlen die Illustrierten. WMs Exklusivvertrag mit der Welt erlaubt — nach Absprache — die Arbeit für Blätter wie stern, Quick oder Revue. Die jedoch verlangen, ihrem Genre entsprechend, Illustrationen — Hochglanzbilder. Die kann WM nicht liefern. Er ist ja nicht Pressefotograf geworden, wie er es einmal wollte.

Irgendwann in diesem schwierigen Sommer 1955 wird ihm bewusst, dass er einen Fotografen-Freund besitzt. Er muss ihn nur nach Asien locken. Will Trempers nächster Brief trifft Anfang August ein.

„Lieber Wolfgang Menge, dass Sie nicht schreiben, ist nachgerade eine Katastrophe. Wie es der Teufel will, tauche ich morgen plötzlich in Tokio auf und Sie müssen sich furchtbar schämen und um Ausreden verlegen sein. Außerdem — das habe ich mir, glaube ich, schon einmal zu sagen erlaubt — ist doch die ganze Weltreise nur halb so interessant, wenn Sie nicht in Verbindung mit uns bleiben! Wen ich auch frage: Keiner hat was von Olle Menge gehört. Mann, wenn Sie wüssten, wie mich das alles interessiert und wie verzweifelt ich über Sie bin, dass Sie so schreibfaul sind. Sind die Damen wirklich große Klasse? — Ich stelle fest, dass dies jetzt der dritte Brief ohne Antwort ist und dass Sie aufhören sollten, die treuen Seelen zu treten. Das macht sich nicht bezahlt. Toi toi toi.“

Das Interesse seines Ex-B.Z.-Mitarbeiters an Japan und den Erfahrungen, die WM dort macht, ist überdeutlich. Gleichzeitig kolportiert er hilfreiche Interna: nämlich, „dass die ganze Welt-Redaktion (mit ‚ganze‘ untertreibe ich höchstens) gegen Ihre ersten sechs Artikel war, dass aber Zehrer sie wundervoll fand und wirklich schnell hintereinander (in einer Woche habe ich drei gelesen: Volk ohne Raum — Mädchenhandel — Film) zum Abdruck brachte.“

Tremper möchte dem entfliehen, was er den „deutschen Mief“ nennt:

„Ich war übers Wochenende in London und Paris, mit Noucha zu TV-Sendungen, und bin noch ganz elend von der Rückkehr nach Deutschland. Gott sei Dank, dass es wenigstens Berlin gibt.“ Und: „Alle sprechen davon, dass man abhauen müsste, aber keiner haut.“

Weltreisen mit und ohne Will

WM ergreift die Chance. Er verabredet mit Will Tremper, als Team aus Asien zu berichten. Tremper will bis dahin Illustrierten-Aufträge akquirieren, für WMs Texte und seine professionellen Bildberichte.

„Ich komme mit Fotoausrüstung ziemlich sicher noch vor Weihnachten.“

WM stellt seine Pläne darauf ein. Im Juli hatte er noch den Eltern geschrieben:

„Vor allem werde ich ja nicht ewig hierbleiben, sondern mir noch mehr von der Welt ansehen. Wenn nichts dazwischenkommt, werde ich nach meiner Berechnung nächstes Jahr um diese Zeit langsam nach Südamerika fahren, dort ein bisschen bleiben und dann zurückkommen, um von Europa aus nach Afrika zu fahren.“

Nach dem Briefwechsel mit Will Tremper kündigt er nun an, dass sich diese Pläne „jeden Tag durch irgendetwas ändern können“:

„So wird einer meiner ehemaligen Reporter von Ullstein, der immer sehr an mir gehangen hat und ausgezeichnet arbeitet und ein blendender Fotograf ist, nach hier kommen. Vielleicht werde ich dann mit ihm zusammen eine Weile in der Welt rumkutschieren und für Illustrierten arbeiten, d.h. auf Deutsch, eine Weile Geld machen.“

Millionäre müssen sparen

Denn so viel er auch für die Welt, den NWDR und seine wenigen anderen Abnehmer schreibt — es reicht nicht hin. Als absolutes Existenzminimum benötigt er in Tokio monatlich 1000 Mark. Dem steht die geringe Höhe der Honorare gegenüber, die er aus Deutschland erhält. Die Pauschale der Welt betrug 400 Mark, seit Juli nun sind es 500 Mark im Monat. Sie wird verrechnet mit einem Zeilenhonorar von 50 Pfennig. WM hat versucht, mehr zu liefern, als das Garantiehonorar abdeckt. Doch die überschüssigen Artikel veröffentlicht die Redaktion schlicht nicht, um sie nicht extra vergüten zu müssen. Der NWDR zahlt für eine halbstündige Sendung zwischen 70 und 90 Mark. Der Bayerische Rundfunk, den er inzwischen ebenfalls beschickt, eher schlechter. Der Süddeutsche Rundfunk zieht vorab die Einkommenssteuer ab, weshalb WM nichts mehr für den Sender schreibt. Die Zeilenhonorare der regionalen Zeitungen südlich der Mainlinie wie Rhein-Neckar-Zeitung oder von Fachzeitschriften wie dem Münchner Informationsdienst für die Fernseh-Wirtschaft, für die er schreiben darf, liegen im Pfennigbereich.

Gleichzeitig muss er als Auslandskorrespondent auf dem Laufenden bleiben, sich informieren, was in Deutschland geschieht. Zeitungen, per Luftfracht eingeflogen, sind sehr teuer. Um seine Kosten zu reduzieren, schreibt er an seinen Ex-Verleger Heinz Ullstein und bittet um die Zusendung von Gratis-Exemplaren. Der Millionär antwortet zur Abwechslung prompt:

„Ihrem Wunsch, Ihnen regelmäßig Zeitungen zu schicken, kann ich wirklich nur an hohen Staatsfeiertagen stattgeben. Denn uns kommt das Exemplar bei den Versandkosten auf DM 1,07.“

Wo die Tausender flitzen

Zusätzlich zu seinem eigenen Lebensunterhalt hat WM jeden Monat die 250 Mark zu verdienen, mit denen er Eltern und Schwester unterstützt. Die Familie vermag ihre großstädtische Berliner Miete dennoch nicht mehr zu zahlen und muss ins billigere Braunschweig übersiedeln, zu Verwandten. „Ich kann leider im Augenblick finanziell gar nicht helfen“, schreibt WM. Er sieht wenig andere Möglichkeiten, als in den sauren Illustrierten-Apfel zu beißen. Auch wenn er diese Sorte Publikationen nicht schätzt.

„Ich kann natürlich, um meinen notwendigen finanziellen Bedarf zu decken, auf Illustrierte umschwenken, von denen ich einige Angebote vorliegen habe“, vertraut er Albin Stuebs an. „Damit würde ich mehr Geld verdienen für weniger Arbeit, ich brauche nur kleine Mädchen zu fotografieren, die vielleicht Schuhe putzen oder auf dem Fußboden sitzen, und schon flitzen die Tausender.“

Freilich nur, wenn die Bilder der „kleinen Mädchen“ die geforderte Qualität besitzen. Mit dem stern konnte er durch Vermittlung seines alten Freunds Richard Gruner, nun Ko-Verleger der Illustrierten, einen Vertrag abschließen. Die Themen sind verabredet. Doch mit der Erfüllung der Aufträge muss er auf Fotoreporter Tremper warten. Bis dahin tippt er weiter die Nächte hindurch. Dass die Aufputschmittel inzwischen eingetroffen sind, sieht man ihm an.

„Ich glaube übrigens“, schreibt er an seine Eltern, „dass ich tatsächlich wieder etwas schmaler geworden bin. Doch nur im Gesicht. Sonst werde ich ja nie dicker oder dünner. Ganz egal, was ich esse. Aber das liegt nicht etwa daran, dass ich nicht genug esse oder ausschweifend lebe — wenn ich einmal in meinem Leben solide gewesen bin, dann hier –, sondern sicherlich daran, dass ich so viel Ärger habe oder gehabt habe und so viel arbeiten muss.“

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Vorheriges Kapitel:
17 Fremd in Japan

Nächstes Kapitel:
19 Funkstille
(Link folgt am 18. August)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German