Fremd in Japan

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt, wie WMs Frachtschiff nach zweimonatiger Reise aus Europa im Mai 1955 in den Hafen von Tokio einfährt.

Zwei Monate auf hoher See

Der 28. Mai 1955 ist „jener Tag, an dem Japan das Vergnügen hatte, mich kennenzulernen“. Das verrät WM in einem NWDR-Feuilleton, in dem er sich Anfang Juni zum ersten Mal aus dem Land meldet, „das mit dem Flugzeug in drei Tagen, mit einem schnellen Schiff in zwei Monaten zu erreichen ist“.

Wie er nach Tokio gelangt ist, lässt sich nur erschließen. Der Luftweg hätte ihn mehrere Monatsgehälter gekostet. Zudem ist er beschwerlich. Direktverbindungen von Deutschland oder aus anderen Ländern Europas nach Japan existieren nicht. Erst gegen Ende des Jahrzehnts werden Düsenmaschinen auf transatlantischen Linienflügen eingesetzt. Propellerflugzeuge wie die Lockheed Constellation oder die Douglas DC-7 aber fliegen nicht nur langsam, ihre Reichweiten sind kurz. Auf dem Luftweg von Berlin oder Hamburg nach Tokio zu gelangen, erfordert mehrfaches Umsteigen plus zahlreiche Tankstopps — in Zürich oder London, Athen oder Istanbul, Beirut oder Teheran, Karachi, Bombay oder Kalkutta, Saigon, Manila oder Bangkok.

PKWs mit zivilen Maschinen aus Europa nach Asien zu transportieren, ist zudem praktisch unmöglich. Der Frachtpreis würde den Wert selbst von Luxusfahrzeugen übersteigen. Der rote MG ist also definitiv per Schiff nach Japan gereist. Schon aus Kostengründen dürfte WM den Wagen begleitet haben. Dass er mit dem Schiff reiste, darauf deutet auch der Nachdruck, mit dem er in ein paar Monaten seinem Freund Will Tremper empfehlen wird, genau das nicht zu tun: also kein eigenes Auto nach Japan zu importieren und sich die Torturen und verlorene Zeit einer solchen mehrwöchigen Schiffsreise zu ersparen.

Ankunft in Tokio

Die Einfahrt allerdings belohnt für die Strapazen. Kommen die Schiffe aus Übersee durch den Uraga-Kanal in die Bucht von Tokio, erscheint vor den Augen der Passagiere ein Panorama der Kontraste: auf der einen Seite der gewaltige Mount Fuji, schneebedeckt noch im Frühling, auf der anderen Seite die Industrielandschaft von Yokohama mit ihren gewaltigen Stahlkränen und Lagerhäusern aus Beton. Mit der Annäherung an Tokio wird der Schiffsverkehr dichter. Zwischen den Frachtern und Fähren, die in langen Reihen in Richtung des Hafens ziehen, navigieren Hunderte kleiner Fischerboote mit ihren traditionellen Lateinersegeln.

Anders als in Berlin oder Hamburg finden sich in Tokio kaum noch Spuren der Zerstörungen des Krieges. Nur indirekt lassen sie sich erkennen: Amerikanisch anmutende Wolkenkratzer, in den zerbombten Vierteln binnen weniger Jahre aus dem Boden gestampft, dominieren die Skyline. Zwischen ihnen steht zwergenhaft, was vom alten Tokio übriggeblieben ist oder restauriert wurde: zweistöckige Holzhäuser mit kleinen Terrassen, Minka genannt, gebaut auf Pfosten, die Wände aus Lehm und Bambus. Die meisten haben Gärten mit Zierpflanzen und Wasserteichen. Zwischen ihnen verlaufen enge Gassen mit einer Vielzahl kleiner Gaststätten und Tavernen. Die Gäste in ihnen verdoppeln die Gegensätze der Architektur: Westliche Anzüge und Kostüme mischen sich mit traditionellen Kimonos und Haoris aus Seide oder Baumwolle.

Für die ersten Nächte hat WM ein Zimmer im Hotel Imperial gebucht, erbaut von Frank Lloyd Wright in den 1920er Jahren. 1951 unterschrieben dort die Alliierten und Japan den Friedensvertrag. Das westliche Hotel ist für seinen Luxus berühmt — und daher auch kein Platz, den WM sich länger leisten kann. Glücklicherweise hat ihm ein Bekannter den Kontakt zur deutschen Botschaft vermittelt:

„Von Günther Diehl, Legationsrat im Auswärtigen Amt und ehemaligen Redakteur vom Abendblatt, bin ich hier groß angekündigt worden, als genialer, aber individueller und etwas schwieriger Mensch.“

Ein Angehöriger der Botschaft hat gerade ein Haus gemietet. Seine Familie kommt erst im Oktober nach. WM kann dort erst einmal zur Untermiete wohnen:

„Sechs Zimmer, zwei Mädchen, großer Garten mit Palmen, Pinien und einigen Pflanzen, deren Namen ich nur auf Japanisch gelernt habe. Es hängen aber Früchte dran, die nach Ansicht vieler Bewohner essbar sein sollen. Nachts haben wir einen großen Frosch, der im Garten herumhüpft, aber nie in die Zimmer kommt.“

Vierfach geschockt

Die ersten Tage verbringt WM damit, Tokio zu erkunden und Verbindungen zu knüpfen. Was das Stadtbild so deutlich demonstriert, prägt auch das Alltagsleben: ein Nebeneinander von jahrhundertealten Traditionen und Anstrengungen zur Modernisierung. Die Traditionen überwiegen. Nicht zuletzt die Geringschätzung von Ausländern. Man mag sie nicht und meidet sie. Was WM erlebt und in Dutzenden von Briefen zu reflektieren versucht, ist eine Kombination von viererlei Schocks: Er empfindet sich in Tokio als existentiell fremd. Die Stadt ist so teuer, dass er finanziell verarmt. Seine deutschen Freunde und Redakteure scheinen ihn zu vergessen. Und er fühlt sich vereinsamt wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Die Krise lähmt ihn. „So zögerte ich fast sechs Wochen, irgendeine Zeile zu schreiben, die mehr sein musste als ‚Vermischtes‘.“ Was die finanziellen Sorgen nicht mindert. Die Entfremdung, die er empfindet, erscheint ihm als Rätsel, als asiatisches Mysterium, das rationaler Entschlüsselung bedarf. Er besinnt sich auf sein Handwerk, die Verfahren des Tatsachenberichts. Was ist so gänzlich anders an und in Tokio? Warum fühlt er sich so komplett aus der Welt gefallen?

Wirklichkeitssuche auf der Ginza

Vor fünf Jahren hat er den Charakter West-Berlins analysiert, indem er dessen zentralen Boulevard beschrieb, den Kurfürstendamm. Das Äquivalent in der japanischen Hauptstadt heißt Ginza.

„Die Ginza ist die Hauptgeschäftsstraße im Zentrum Tokios. Von Norden nach Süden führt sie durch die Achtmillionenstadt. Hier gibt es über 10 000 Geschäfte, mehr als 5000 Restaurants, 9 Riesenkaufhäuser, Banken, Büros, Kinos und alles, was halt an technischen Einrichtungen zu einem Boulevard gehört. Aber die Ginza ist kein Boulevard. Sie kann es nicht sein, weil Tokio keine Stadt ist, will sagen, kein New York, kein Paris, kein Berlin. Tokio mag die Hauptstadt eines wichtigen Landes sein, sie ist keine Metropole. Eine Stadt besteht nämlich nicht aus einer gewissen Anzahl von Bewohnern, aus vielen tausend Quadratmetern an Boden, aus Wolkenkratzern oder Villen, nicht aus Straßenbahnen, Omnibussen oder Kinos. Eine Stadt lebt von einer intellektuellen, künstlerischen und gesellschaftlichen Elite, von einer Handvoll Menschen vielleicht nur, aber die müssen miteinander reden. Sie müssen sich treffen. Sie machen den Geist einer Stadt. Ohne sie ist eine Stadt, ein mehr oder weniger flüssig funktionierendes Aggregat technischer Mittel.“

Natürlich leben Zehntausende Künstler und Intellektuelle in Tokio, Wissenschaftler, Politiker, wohlhabende Geschäftsleute. Sie alle sind jedoch isoliert voneinander, kennen sich nicht, beobachtet WM. Es gibt keine sozialen Orte, an denen sie zusammenkommen:

„Sie arbeiten im leeren Raum, sie vergnügen sich getrennt, und sie verhindern den Geist, der eine Stadt zur Stadt macht, zu einem lebenden Wesen. Deshalb ist die Ginza nur eine Geschäftsstraße, in der man wohl einkauft, auf der man sich jedoch nicht trifft, eine Straße, auf der man spazieren gehen kann, aber allein. Deshalb gibt es auf der Ginza auch nichts, was es nicht ebenso gut in den anderen Stadtteilen Tokios geben kann, wobei unter Stadtteil wiederum nicht das verstanden werden sollte, was man unter Eppendorf oder Wilmersdorf versteht, unter Saint Germain oder Chelsea. Hier sind es Dörfer, hier sind es für sich lebende Teile eines zusammengepressten Ganzen. So gehören diese Stadtteile ebenso zur Umgebung der Ginza wie Singapur oder Manila.“

Hoffnung im gemeinsamen Menschsein

Das ist die erste Erklärung, die WM für die Andersartigkeit Asiens findet: In Tokio, in Japan existiert keine Gesellschaft im europäischen Sinne. Und insofern findet sich auch kein Platz für einen, der an ein solches soziales und kulturelles Leben gewohnt ist. Diese Einsicht in die Unabänderlichkeit seines Fremdseins — was es nicht gibt, kann er nicht finden — befriedigt ihn jedoch nicht. Das zeigt der Schluss seiner Überlegungen:

„Es ist der Ferne Osten, in dem Menschen leben, die auch nicht gern sterben, die sich in kleine Mädchen verlieben und sparen, um sich demnächst einen Schaukelstuhl zu kaufen. Es sind Menschen, die wohl aus einer anderen Welt geboren wurden, aber es sind immerhin Menschen mit Herz, Nieren, zwei Augen, zwei Beinen und mit einem Kopf.“

In der Reflexion auf das gemeinsame Menschsein deutet sich Hoffnung an. Vielleicht lässt sich die eingeborene Fremdheit am Ende doch überwinden?

***

Vorheriges Kapitel:
16 Flucht aus guten Verhältnissen

Nächstes Kapitel:
18 Verarmt und allein

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

--

--

Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German