Flucht aus guten Verhältnissen

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WM in seinem vollgepackten MG 1955 an einer ostzonalen Transitkontrollstelle. WM verlässt West Berlin in Richtung Tokio.

Erfolgreich unglücklich

Am 10. April 1954, wenige Monate, nachdem er seine Stelle als Ressortleiter der B.Z. angetreten hat, feiert WM seinen dreißigsten Geburtstag. Er ist erfolgreich, und es geht ihm gut, jedenfalls verglichen mit der Situation kurze neun Jahre zuvor, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, den er als Fahnenflüchtiger versteckt im Keller der aufgegebenen schwedischen Botschaft durchlebt hatte, unter ständiger Lebensgefahr.

Halb hat er sich schon etabliert. Der Aufstieg in journalistische Leitungspositionen, der so vielen seiner gleichaltrigen Freunde in diesen Jahren gelingt — Christian Kracht, Claus Jacobi, Conny Ahlers, Peter Boenisch –, scheint vorgezeichnet. In der Babelsberger Straße 52 wird für ihn ein ausgebombtes Dachgeschoss ausgebaut: Atelierraum, Zimmer, Küche, Bad.

Glücklich ist WM dennoch nicht.

Aus zwei Gründen. Der berufliche Erfolg, den er hat, ist nicht der, nach dem er sich sehnt. Feste Arbeitszeiten, Büros, Sitzungen sind ihm zuwider. Das alles stiehlt Lebenszeit; Zeit, in der er schreiben könnte. Wohlstand ist nicht sein vorrangiges Ziel.

„Sehensemalan, ich bin doch in erster Linie kein Geldverdiener und wenn ich mit dem, was ich habe, nicht mehr leben kann, dann ist es noch Zeit genug, sich ein bisserl umzuschauen, was denn so auf dem Markt zu haben ist.“

Raus aus allem

Das wird er bald, nach seiner großen Flucht, an Will Tremper schreiben. Denn: Er muss nicht in Deutschland sein, in Berlin oder Hamburg arbeiten. Einer Freundin, die als Theater-Schauspielerin vom Erfolg bei einem lokalen Publikum abhängig ist, erklärt er:

„Ich bin aber gleichsam vom Publikum ortsunabhängig. Das heißt bei meiner Veranlagung, dass ich noch nicht so schnell zur Ruhe kommen werde, sondern noch rumreisen werde oder zumindest fort sein, bis ich endgültig sicher sein kann, das nicht zu finden, was ich mein Leben lang bisher vergeblich gesucht habe. Wobei ich vielleicht eben nicht den bedeutenden Unterschied zwischen Fortsein und Umherreisen gemacht habe, der diesen beiden Gegebenheiten zukommt. Ich reise nämlich nicht mehr, ich bin nur noch fort. Das bedeutet, ich versuche zu mir zu kommen, ohne die alberne Ablenkung von Kurfürstendamm, Schwabing oder Funkhaus.“

Der zweite Grund seiner Unzufriedenheit ist privat. Er ist allein. Nicht weil niemand seine Nähe suchen würde. Die Zahl der Freundinnen ist im Frühjahr 1954 schwer überschaubar und für ihn logistisch fordernd. Sondern, weil die ständige Nähe anderer ihm Unwohlsein bereitet.

„Anfang der fünfziger Jahre habe ich mir als Junggeselle in Berlin mal ein Dach ausgebaut“, erzählt er Jahrzehnte später, „und da habe ich zwei Betten reingebaut. Mit einer Wand dazwischen. Es macht mich verrückt, mit demselben Menschen immer wieder in einem Bett zu schlafen.“

Doch gleichzeitig sucht er eine Partnerin. Möglichst eine, die nicht nur schauspielern und singen kann, sondern auch tippen und Bücher lesen. „Conundrum“, sagt man auf Englisch — ein Problem, das schier unlösbar scheint.

Will Trempers gutes schlechtes Beispiel

Wie man allerdings auf keinen Fall dieser Herausforderung begegnen sollte, dafür gibt Will Tremper ein gutes beziehungsweise schlechtes Beispiel. Er macht alles falsch, nicht nur in WMs Augen, auch in den eigenen.

Mit 26 Jahren ist Tremper zum zweiten Mal verheiratet, seit 1953 mit der Schauspielerin Ursula Lyn. In den Wochen nach WMs dreißigstem Geburtstag arbeiten die beiden Autoren an der nächsten B.Z.-Serie. Doch die Chefredaktion erteilt Tremper einen kleinen Auftrag zwischendurch: Er soll ein Portrait der rumänischen Geigerin Noucha Doina schreiben, die gerade in Berlin gastiert. Tremper fährt zu ihrem Hotel.

„Im Swimmingpool hinter dem Haus schwamm mit aufreizend langsamen Bewegungen eine Frau mit grünen Augen, langes, blauschwarzes Haar wie einen Teppich hinter sich herziehend, in einem ganzteiligen schwarzen Badeanzug.“

Er ist verloren. Binnen Minuten. Noucha Doina schickt ihren Manager und Liebhaber unter einem Vorwand in die Stadt.

Die beiden lieben sich. Sie „verfügte über mich wie über einen Lottogewinn“, erinnert sich Tremper:

„Seit diesem Tag im Sommer 1954 weiß ich, dass Leidenschaft durch nichts anderes entfacht wird als durch Leidenschaft.“

Seine Ehefrau ruft Tremper noch an:

„,Koch‘ heute Abend nicht! Ich muss nach Hamburg, dringende Sache, bin morgen zurück!‘ Und auch das war das letzte, was die liebe Ulla in den nächsten zwei Jahren von mir hörte.“

Das Noucha-Porträt liefert Tremper. Es erscheint am nächsten Tag in der B.Z.. Eine weitere Folge der gemeinsamen Serie erhält WM allerdings nicht mehr. Tremper kündigt bei Ullstein und verschwindet mit Noucha, der „Geigerin aus Leidenschaft“, der „Wildkatze an der Violine“, auf Europa-Tournee. Später wird er an WM schreiben:

„Nachdem ich nun zweimal verheiratet war, mir ganz unnötig in jüngsten Jahren schon allerlei dumme Verantwortung ans Bein gebunden habe, nachdem ich außerdem gesehen habe, wie wirklich großartige Männer durch Familienverpflichtungen völlig gehandicapt sind, noch mal etwas auf die Beine zu stellen — nach dem allen komme ich immer mehr zu der Überzeugung, dass es endlich mal Zeit wird, noch etwas zu erleben und ein paar Jahre in der Welt herumzustelzen, bevor man sesshaft wird.“

WMs Amour fou

Als ihn dieses Bekenntnis erreicht, ist WM längst zu derselben Einsicht gelangt. Dazu hat nicht zuletzt eine dramatische Liebesbeziehung mit der sechs Jahre jüngeren Fotoreporterin Inge Schönfeld beigetragen.

Als Tochter eines jüdischen Vaters hat sie die Nazizeit ausgegrenzt wie WM erlebt. Nach dem Krieg arbeitet sie für die Frauenzeitschrift Constanze, die John Jahr und Axel Springer seit 1948 in Hamburg herausgeben. 1952 gelingt ihr in New York ein Straßenfoto von Greta Garbo, das weltweit nachgedruckt wird. Ein Jahr später reist sie durch Vermittlung der Verlegers Heinrich Maria Ledig-Rowohlt nach Kuba und wohnt zwei Wochen auf Ernest Hemingways Finca. Auch diese Fotos gehen um die Welt — darunter eine Sequenz, die sie mit Selbstauslöser schießt: Hemingway, ein getöteter Speerfisch und sie selbst im Badeanzug. Eine abenteuerlustige junge Frau Anfang Zwanzig von großer Schönheit, selbstbewusst, leichtsinnig, unbekümmert.

WM lernt Inge Schönfeld kurz danach in Berlin kennen und verliebt sich heftig. Die beiden wohnen ein paar Monate zusammen, zwischen Berlin und Hamburg pendelnd. Ein Alltag aus Leidenschaft, Streit, Eifersucht.

Eines Nachts rast WM mit dem MG über die nächtliche Interzonen-Landstraße von Berlin nach Hamburg. Denn er ist sich sicher, dass sie ihn dort in ihrer gemeinsamen Einzimmerwohnung gerade betrügt.

„Das hätte auch schiefgehen können.“

Wenn Wolfgang später von dieser Zeit spricht — und Fotos zeigt, auf denen er und Inge zu sehen sind –, pflegt er den Kopf zu schütteln und selbstironisch zu grinsen: „Kompletter Wahnsinn.“

Vier Jahre später wird Inge Schönfeld auf einer Rowohlt-Party in Hamburg einen italienischen Verleger kennenlernen und heiraten. Danach heißt sie Inge Feltrinelli.

Ist Tokio sicherer als Berlin?

1954 aber erkennt WM: Er muss sein Leben ändern. Über fünf Jahre sind vergangen, seit er aus Großbritannien nach Deutschland zurückgekehrt ist. Unfreiwillig und mit der festen Absicht, nicht zu bleiben. Es kam anders. Heraus aber will WM immer noch, mehr denn je. Wo und wovon soll man am Ende leben? Und mit wem?

Keine der Frauen, mit denen er gerade Verhältnisse hat und die ihn zu einer festen Bindung drängen, scheint ihm die richtige. Er muss fort. Für das geliebte England aber besteht weiterhin Einreiseverbot. Wilhelm Schulze überlebte die Nazi-Zeit in Tokio. WM beschließt, in die Fußstapfen seines Mentors zu treten und sich aus dem privat wie professionell brenzligen Berlin in die Sicherheit Tokios zu bringen.

Freilich benötigen Boulevard-Blätter wie die B.Z. kaum politische Korrespondenten, ganz im Gegensatz zu seriösen und überregionalen Zeitungen. Und natürlich öffentlich-rechtlichen Rundfunksendern.

Springer als Sprungbrett

Es fügt sich, dass WM seit kurzem gute Verbindungen zu einer überregionalen Tageszeitung besitzt. Die britische Besatzungsmacht musste die liberale Welt abstoßen, die sie 1946 gegründet hatte. Die Auflage, die 1949 noch über einer Million lag, war seit der Gründung der Bundesrepublik und Liberalisierung des Zeitungsmarkts stetig gefallen, auf unter 300 000 Exemplare. Mehr als ein Dutzend Interessenten bewarben sich um das angesehene Objekt, darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Zeit-Verleger Gerd Bucerius und selbstverständlich WMs Arbeitgeber, die Ullsteins. Sie fanden die größte Gunst der Briten. Doch der später hinzukommende Mitbewerber Axel Caesar Springer sicherte sich die Unterstützung des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Und bot am Ende auch mehr Geld als die Konkurrenz.

Nach monatelangen Verhandlungen, geführt in London von WMs Freund Christian Kracht, übernahm der Springer-Verlag die überregionale Tageszeitung zum September 1953 für 2,7 Millionen Mark plus einer Beschäftigungsgarantie für die 1000 Mitarbeiter. Zwar installiert der Verleger sofort seinen „jungkonservativen“ Freund Hans Zehrer, den Nachkriegs-„Erfinder“ der Welt, als neuen Chefredakteur. Dennoch bleibt die Tageszeitung zunächst so vielstimmig, wie die Briten sie angelegt haben. 1954 arbeiten noch linke und liberale Autoren wie Ernst Kuby, Sebastian Haffner und Conrad Ahlers für die Zeitung.

WM lässt seine Kontakte zu Christian Kracht und Axel Springer spielen. Die Welt gewährt ihm einen Exklusivvertrag als Südostasienkorrespondent. Mit der monatlichen Pauschale ist die Berichterstattung für andere deutschsprachige Tageszeitungen nördlich der Mainlinie ausgeschlossen. Fürs Radio aber darf er gleichzeitig arbeiten, für Illustrierte nach Absprache. Sein NWDR-Mentor Albin Stuebs sagt die Abnahme mindestens einer Sendung pro Monat zu.

Nach Asien

Im Frühjahr 1955 bricht WM seine West-Berliner Zelte ab. Aus seiner Anstellung und allen Beziehungen flieht er ähnlich abrupt und überstürzt wie im Sommer zuvor Will Tremper. Familie und Freundinnen bleiben zurück, mehr oder weniger überrascht, und in der Babelsberger Straße — WM überlässt die Wohnung einem Freund, dem Schauspieler Klaus Kammer — sogar der in Asien benötigte dicke Mantel. Aber immerhin keine Ehefrau.

***

Vorheriges Kapitel:
15 Verliebt, verlobt, nach West-Berlin verzogen

Nächstes Kapitel:
17 Fremd in Japan

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

--

--

Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German