Verliebt, verlobt, nach West-Berlin verzogen

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WMs erste Begegnung mit der noch unbekannten Eartha Kitt bei ihrem Auftritt in einem Nachtclub auf der Hamburger Reeperbahn im Jahre 1953.

Verfrühter Nachruf auf zwei Verrückte

„Da hörte man an einem der letzten Abende im NWDR einen Nekrolog: eine Sendung wurde begraben. Es war wirklich ein bisschen traurig, denn Adrian und Alexander hatte uns manchen Spaß bereitet. Diese so ganz unkonventionelle, ja, ein wenig skurrile Sendung war ein Juwelchen im sonst recht schmucklosen NWDR-Programm. In einer sehr persönlichen, lockeren, privaten Form wurde da geplaudert, gefaxt, ‚geschossen‘.“

So beginnt der Nachruf, den die Neue Ruhr-Zeitung am 16. September 1953 veröffentlicht:

„Warum die Sendung eingestellt wird, wurde nicht ganz klar, jedenfalls schien es nicht an einem Einfallsmangel beim Autor zu liegen. Nahmen etwa zu viele Adrians charmante Bosheit übel? Oder liegt der Grund dort, wohin ein Satz aus eben dieser Abschiedssendung zielte: mit Alexander sei nun auch die letzte Persönlichkeit im NWDR abgetreten, die es noch gewagt hätte, ihre freie Meinung zu sagen! (Und dieser Alexander war ohnehin nur ein komisch-unverständlich-schnatterndes Wesen.) Jedenfalls ist mit dem Ende von Adrian und Alexander ein hübscher Tummelplatz für feuilletonistische Freiheit zugesperrt worden. Und das ist schade.“

An Einfällen mangelt es WM in der Tat nicht. Wohl aber an Zeit. Denn er hat Heinz Ullsteins Angebot angenommen. Der Nekrolog erweist sich jedoch als — ein wenig — verfrüht.

„Nach zweijähriger Laufzeit hatten Wolfgang Menges stehende Figuren Adrian und Alexander sich für immer verabschieden sollen“, meldet Die Zeit am 10. Oktober 1953. „Aber der Protest eines Teiles der Hörerschaft erzwang ihr Weiterleben. Nun wird wieder regelmäßig am Sonnabendabend Adrian seine mehr oder weniger kuriosen Meldungen vortragen und der blubbernde Alexander dazu Schallplatten auflegen.“

Für ein paar weitere Monate jedenfalls.

Eine große Liebe kommt und geht

Neben WMs beruflichen Verpflichtungen stehen mit der bevorstehenden Übersiedlung nach Berlin auch private Bindungen zur Disposition. WM ist verlobt und müsste sich zu einem Heiratsantrag entschließen. Doch dann kommt eine amerikanische Schauspielerin und Sängerin auf ihrer europäischen Tournee durch Hamburg. Sie ist 26 Jahre alt, hat große grüne Augen, eingerahmt von langen schwarzen Haaren, und eine Stimme, die sich unter Tausenden heraushören lässt. Ihr Vater ist unbekannt. Ihre Mutter, eine Landarbeiterin, halb afroamerikanischer Herkunft, halb Cherokee, gab sie kurz nach der Geburt zur Adoption frei. Seit ihrem neunten Lebensjahr wuchs sie in Harlem auf. 1951 hat Orson Welles sie für den Broadway entdeckt. In seiner Inszenierung des Faust besetzte er die junge Schwarze für die Rolle der trojanischen Helena. Seine Entdeckung, sagte Welles der Presse, sei „die aufregendste Frau der Welt“.

Als Sängerin aber wartet Eartha Kitt noch auf ihren Durchbruch. 1953 erhält sie einen Plattenvertrag und spielt mehrere Singles ein, darunter „C’est si bon“. Um Geld zu verdienen, muss sie Engagements im Ausland annehmen. Ein Markenzeichen ihrer europäischen Shows ist, dass sie in mehreren Sprachen singt; Französisch, Spanisch, Deutsch und natürlich Englisch. Auf den Bühnen der verrauchten Nachtclubs, in denen sie auftritt, strahlt sie bereits den Glamour des Hollywood-Stars aus, zu dem sie binnen Jahresfrist werden wird: exotische enganliegende Kleider, auffällige Juwelen, geschmeidige Bewegungen. Ihre Stimme, mal rau, mal sanft, spielt mit dem Publikum in Paris, Zürich, Berlin und auf der Hamburger Reeperbahn.

WM verliebt sich, Eartha ebenfalls.

Nach ein paar Tagen muss Eartha Kitt weiterziehen, zur nächsten Station ihrer Tournee und dann zurück in die USA. Dort explodiert ihre Karriere, sozusagen über Weihnachten — mit dem Welthit „Santa Baby“.

WM hat derweil die Verlobung mit seiner Hamburger Freundin gelöst und arbeitet in West-Berlin, wie er an Eartha Kitt schreibt. Seine offizielle Anmeldung in der sogenannten Frontstadt datiert auf den 29. Dezember 1953. Eartha antwortet, am 15. Februar aus San Francisco:

„Dear Wolfgang: Thanks so much for your letter. I enjoyed hearing from you. Then too, it started me thinking back on what we had done when we were together. It was fun, wasn’t it? … Write me again soon, Wolfgang.“

Leben und Arbeiten In der Frontstadt

Ganz allein ist WM allerdings nicht nach West-Berlin gegangen. Mitgenommen hat er seine arbeitslosen Eltern und die jüngere Schwester. Marianne ist achtzehn Jahre alt und seit einer missglückten Mandeloperation schwerbehindert. Seit langem schon unterstützt er die Familie jeden Monat mit 250 Mark. Die Summe entspricht der guten Hälfte des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens. Der Schreibtisch, an dem WM sein hohes Gehalt verdienen muss — als Ressortleiter für Serien bei der B.Z. –, steht im Ullsteinhaus.

Den gewaltigen Klinkerbau am Tempelhofer Hafen ließ Heinz Ullsteins Vater Louis im Stil des Backstein-Expressionismus erbauen; für die leistungsfähigste Druckerei Deutschlands. Mit 80 000 Quadratmetern ist das Ullsteinhaus bei seiner Eröffnung 1927 doppelt so groß wie der Reichstag und zudem mit 77 Metern das höchste Haus der Weimarer Republik. Seine Fassade zieren kunstvolle Ornamente aus Kragsteinen und Travertin-Blöcken. Den Haupteingang umrahmt ein dreiteiliges Relief. Es symbolisiert die drei Sparten: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher.

Nach ihrer Übernahme des Verlags benannten die Nationalsozialisten das Ullsteinhaus in „Deutsches Haus“ um und produzierten hier Propaganda-Zeitschriften wie Das Reich und Der Angriff. Während des Krieges nutzten auch Gestapo und SS die Räumlichkeiten — für Verhöre und Folterungen. Erst 1952, sieben Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes, erhält die Ullstein-Familie das Gebäude zurück.

Wenn WM in seinem roten MG dem ebenfalls roten Backsteinbau entgegenfährt, sieht er von weitem dessen hohen Uhrenturm mit den schmalen Fenstern. Sie leuchten wie die Augen einer Eule. Die Assoziation drängt sich auf. Denn das glänzende Kupferdach ziert eine veritable Eule, fast drei Meter groß, aus Bronze und anderthalb Tonnen schwer, das Wappentier der Ullsteins.

Ullsteins illustre Redakteure

In den Redaktionen von Morgenpost und B.Z. trifft WM auf journalistische Veteranen wie seinen Mentor Wilhelm „Tokio“-Schulze, aber auch auf Nachwuchs, so jung wie er oder noch jünger. Einige werden zu bundesdeutschen Star-Autoren heranwachsen.

Henry Kolarz etwa, Jahrgang 1927. Mitte der sechziger Jahre erlangt er mit einer stern-Serie über den britischen Postzugraub und vor allem mit dem darauf beruhenden Drehbuch zu dem TV-Dreiteiler Die Gentlemen bitten zur Kasse Bekanntheit.

Oder Oswalt Kolle, Jahrgang 1928. Noch ist er Filmredakteur. Während der „Sexwelle“ der sechziger und siebziger Jahre steigt er zum populärsten „Aufklärer“ der Republik auf.

Oder Will Tremper, ebenfalls Jahrgang 1928, ein schmaler, nicht sehr großer Mann mit schwarzgerahmter Brille. Er wird WM als engster Mitarbeiter zugeteilt und ist beeindruckt.

„Auf den alten Fotos von damals würde ihn heute niemand mehr wiedererkennen, denn Wolfgang hatte richtig viel Haare auf dem Kopf“, schildert Will Tremper in seinen Memoiren den ersten Eindruck. WM „war ein sehr gutaussehender Typ, im Stil etwa mit dem späteren Robert Redford zu vergleichen — wer lacht da? Für mich war so einer, der Pfeife rauchte, einen dröhnenden englischen MG fuhr, schon damals fabelhaft kochen konnte, mit Eartha Kitt ein Verhältnis gehabt hatte und gerade hinter einer Miss Germany her war, etwas Neues; wir verstanden uns auf Anhieb und verbrachen eine ganze Anzahl B.Z.-Serien zusammen.“

WM trifft sein Alter Ego

In der Zusammenarbeit entdecken beide, was sie verbindet: ähnliche Kriegserlebnisse, ähnliche Ambitionen, ähnliche Zukunftssehnsüchte — und Ängste.

1944, als WM in Polen stationiert war, erhielt Will Tremper, gerade sechzehn Jahre alt und „Bildberichterstatter i.A.“ — also: „in Ausbildung“ — vom „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“ die Anweisung:

„Machen Sie eine Reportage: ‚Ukrainische Jugend hilft mit am Wiederaufbau Europas‘“.

Unterzeichnet war der Din-A4-Marschbefehl „i.A.“ — also: „im Auftrag“ — von einem Ministerialdirektor, darunter prangte ein Stempel mit Hoheitsadler.

So jedenfalls beschreibt Will Tremper den Einsatz, der ihn in den Kessel von Minsk führte. In letzter Minute entkam er der Roten Armee per Flugzeug. Schließlich landete er wieder in Berlin. Aber auch in der Hauptstadt konnte er nicht lange bleiben. Er floh „zu Fuß von Berlin nach München, wohin sich die Reste der Berliner-Illustrierte-Redaktion geflüchtet hatten. Doch statt in einer Redaktion fand ich mich in einem Filmlabor der ersten amerikanischen Wochenschau Welt im Film wieder, die in Geiselgasteig ihren Betrieb aufgenommen hatte.“

In den Jahren nach Kriegsende arbeitete er als Fotoreporter und Autor, einige Zeit auch als Ghostwriter für Curt Riess.

Riess war in den 1920er Jahren Theater- und Filmkritiker für die Neue Berliner Zeitung: Das 12 Uhr Blatt, die einzige Konkurrenz der B.Z. am Mittag. Nach der Machtübernahme floh er in die USA, berichtete aus Hollywood für zwei Dutzend europäische Zeitungen und veröffentlichte eine Reihe von Anti-Nazi-Sachbuch-Beststellern. Bei Kriegseintritt der Vereinigten Staaten meldete er sich als Berichterstatter zur US-Armee. In den ersten Nachkriegsjahren schrieb Riess über die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse und verfasste eine Goebbels-Biografie, die 1948 in New York erschien.

Die Erfahrungen, die Tremper bei der Arbeit für Riess sammelte, gleichen denen, die WM während seiner Lehrjahre in London und ebenfalls unter emigrierten Journalisten machte. Beide entwickeln durch ältere, angelsächsisch geprägte Exil-Autoren ihre Neigung zu Tatsachenberichten — und erlernen von ihnen deren narrative Aufbereitung.

„Abenteuer des Alltags interessierten ihn, kurz skizziert, aber optisch packend inszeniert: rüde Geschichten von der Straße“, charakterisiert Norbert Grob die „Vorliebe für Schlagzeilen-Geschichten, für knappe Fakten und knallige Pointen“, die Will Trempers journalistisches wie filmisches Werk auszeichnet. Fast alles davon stimmt auch für WM. Die Wege, auf denen beide jungen Kriegsteilnehmer in den Journalismus gefunden haben, decken sich in hohem Maße. Will Tremper zitiert zur Erklärung gerne Billy Wilder, der seine Karriere auch als Reporter begann:

„Wer nicht weiß, was er werden will, sollte Journalist werden; der Journalismus führt überallhin!“

Die Faszination alltäglicher Verbrechen

Zu den ersten Erfolgen des B.Z.-Teams Menge und Tremper zählt die Serie „Courbierestraße Nr. 6“. Sie erzählt, wie Tremper schreibt, „die Geschichte eines durchschnittlichen Berliner Mietshauses von der Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre. ‚Wir haben einfach den Finger auf den Stadtplan gelegt‘, versicherte Wolfgang in der Ankündigung den Lesern, ‚und unter das Dach geschaut …‘ Reiner Zufall, dass die bekannteste Berliner Wahrsagerin Ursula Kardos in diesem Haus wohnte, dass mysteriöse Mordfälle ihre Schatten auf die Mieter warfen, geheimnisvolle Leichenteile im benachbarten Landwehrkanal gefunden wurden und gleich nach dem Bau des Hauses schon der Friseur im Erdgeschoss umgebracht worden war. Als Leser monierten, das sei doch kein x-beliebiges Mietshaus, haben wir sie vom Gegenteil überzeugt und, mit Hilfe unseres ausgezeichneten Polizeireporters Ewe Wildberger, in jedem anderen Haus, das sie uns nannten, eine Schaurigkeit oder zwei gefunden.“

Insofern stellt die B.Z.-Serie ein Gegenstück zu der Reportage dar, die WM vier Jahre zuvor für das Hamburger Abendblatt über „Ein ganz normales neues Haus“ verfasste. Die Perspektive hat sich auf charakteristische Art und Weise verschoben. An die Stelle der Wiedergewinnung von Normalität nach den Zerstörungen und Wirren des Krieges tritt die Suche nach den Geheimnissen, die sich hinter der Oberfläche des Alltags verbergen, die Aufdeckung seiner „Unheimlichkeiten“. Der Ansatz zielt mehr auf Sensationsjournalismus, denn auf Tatsachenbericht. Darin verrät sich Will Trempers Einfluss. Gleichzeitig deutet der Perspektivwechsel aber auch voraus — auf das Markenzeichen der frühen Erfolge WMs in Film und Fernsehen: semi-dokumentarische Inszenierungen alltäglicher Verbrechen und ihrer Bekämpfung.

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Vorheriges Kapitel:
14 Auf dem Boulevard

Nächstes Kapitel:
16 Flucht aus guten Verhältnissen
(Link folgt am 28. Juli)

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German