Neue Autos, alte Nazis

Dieses fiktive Foto — erstellt mit ChatGPT — zeigt WM auf der Frankfurter Automobilausstellung im Frühjahr 1951, wie er seinen unerschwinglichen Traumwagen bewundert, einen britischen MG Roadster.

Der Verleger steht auf dem Kopf

„Springer war bei manchen Redaktionskonferenzen dabei. Er hat aber so gut wie nie etwas gesagt. Was auch gut war. Das Konzept des Abendblatts stammte ja von Wilhelm Schulze und den anderen Redakteuren aus Berlin.”

So erinnert sich Wolfgang Jahrzehnte später. Er und der zwölf Jahre ältere Verleger Axel Springer haben nur gelegentlich miteinander zu tun, dann aber kommen sie gut miteinander aus. Dazu trägt das Fehlen konkurrierender Interessen bei, sieht man einmal von beider Dauerjagd nach sexuellen Abenteuern ab.

„Für Politik hat der Springer sich damals sowieso nicht interessiert. Yoga war seine Sache. Auf Wilhelm Schulzes Schreibtisch hat er uns einen Kopfstand vorgemacht. So sollten wir leben.“

Ende 1950 stirbt der erste Kollege der neuen Tageszeitung, Chefreporter Gustav A. Doering, 50 Jahre alt und selbstredend ein Ullstein-Veteran. Verleger Springer hält am 8. Januar 1951 die Trauerrede, gefolgt von WM, der im Namen der „jungen Mitarbeiter der Redaktion“ spricht und Doering als Vorbild lobt. Dass WM diese Rolle zufällt, zeigt nicht nur seine Wertschätzung unter den Kollegen des Hamburger Abendblatts. Die Ehre beweist auch, dass Verleger Springer und Chefredakteur Schulze auf ihn setzen.

Der Lokalreporter geht auf Reisen

WM nutzt das hart erarbeitete Ansehen, um die Reichweite seiner Berichterstattung über das Lokale auszuweiten. Im Dezember 1950 hat er bereits eine Reportage über Berlin einstigen Prachtboulevard Kurfürstendamm verfasst. Im Frühjahr 1951 findet nun in Frankfurt zum ersten Mal nach dem Krieg die Internationale Automobilausstellung statt. Wie die meisten der Zeitgenossen ist WM technikbegeistert. Automobile bedeuten ihm damals Ähnliches wie später in den 1980ern Computer: eine fortschrittliche Technologie, die einen Zugewinn an Freiheit verspricht. Leisten können sich ein eigenes Auto erst wenige Bundesdeutsche. Die Sehnsüchte von Millionen aber richten sich auf die Automobilisierung — und nicht minder viele Ängste und Abneigungen, insbesondere der Älteren.

In einem unserer ersten Gespräche erzählte Wolfgang, dass er die Redaktion überredet hat, ihn nach Frankfurt zu schicken. Ein Bericht, der unter seinem Namen erschienen ist, findet sich nicht. Allerdings bringt das Hamburger Abendblatt am 19. April eine Sonderbeilage, in der es vor allem um die angekurbelte Autoproduktion geht:

„Die Konstrukteure sind zu technischen und geschmacklichen Formen vorgestoßen, die Deutschland als autoproduzierendes Land wieder in die erste internationale Linie rückt.“

Die Frankfurter Messe findet überwältigende 570 000 Besucher:

„Im eigenen Auto waren die wenigsten angereist“, schreibt der Spiegel im Rückblick, „die meisten Besucher kamen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit der Bahn. Und die meisten von ihnen würden sich auch in den nächsten Jahren kein eigenes Auto leisten können. Trotzdem drückten sie sich die Nasen an den Scheiben der Autos platt, um einen Blick auf das zu erhaschen, was da nach den Jahren der Entbehrung irgendwann mal kommen könnte.“

WM weiß, was er will: einen MG Roadster fahren

Bundespräsident Theodor Heuss, ein bekennender „Automobilbanause“, äußert in der Eröffnungsrede der Messe seine Skepsis. Autofahren, das er ausschließlich als Beifahrer kennt, sei kein Vergnügen, vor allem über lange Strecken. WM aber erblickt in Frankfurt sein Traumauto: einen der „drahtigen kleinen Sportwagen“ aus britischer Produktion, wie es in der Beschreibung seines Kollegen vom Hamburger Abendblatt mit einiger Bewunderung heißt. Vorerst jedoch gehört WM zu jener Mehrheit der Bundesdeutschen, die sich ihre Träume nicht leisten können. Er muss mehr arbeiten und mehr verdienen.

„Da habe ich meinem Chefredakteur eingeredet, wir müssten so einen Tatsachenbericht bringen, etwas in mehreren Folgen. Der wusste gar nicht genau, was das ist. Ich kannte das aus England und habe dann eine Mordgeschichte aus dem Hamburger Hafen in Fortsetzungen gemacht, mit einem ordentlichen Honorar.“

Berichte über Verbrechen machen WM Spaß, wie fast alle journalistische Arbeit. Ganz plötzlich aber vergeht ihm der Spaß. Denn die Nazis sind immer noch unter den Deutschen. Nicht zuletzt in der Presse: Im Oktober 1951 annonciert das Hamburger Abendblatt eine Serie von Karl Aloys Schenzinger.

WM weiß, was er nicht will: mit alten Nazis arbeiten

WM ist empört. Erregt tippt er einen Brief an seinen Chefredakteur.

„Irgendwo hat alles seine Grenze, finde ich. Meines Erachtens haben solche Burschen heute wirklich nichts mehr in einer anständigen Zeitung verloren.“

Schenzinger ist Verfasser des berüchtigten Romans Hitlerjunge Quex. Die Geschichte vom Leben und Tod des Berliner Druckerlehrlings Heini Völker hat er 1932 zunächst als Fortsetzungsgeschichte im Völkischen Beobachter publiziert, dem „Kampfblatt“ der NSDAP. Schenzingers Held Heini findet in der idealisiert gezeichneten Hitlerjugend moralischen Halt, Kameradschaft und Vaterlandsliebe — bis ihn kommunistische Jugendliche zu Tode martern. Sein qualvolles Sterben wird als Selbstaufgabe für die nationalsozialistische Zukunft verherrlicht.

Was der Roman beginnt, setzt ein Jahr später seine ungemein erfolgreiche Verfilmung fort. Der Untertitel „Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend“ verrät das Programm: die Vorbereitung Minderjähriger auf Krieg und Märtyrertod. Schenzinger ist als Drehbuchautor an der Produktion beteiligt. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels lobt „die künstlerische Gestaltung nationalsozialistischen Ideenguts“. Nicht weniger begeistert ist der ,Führer‘. Er nimmt den Hitlerjungen Quex in seine private Filmsammlung auf.

„Ihre persönliche Anschauung glaube ich zu kennen“, schreibt WM weiter an seinen Chefredakteur, „und darum bitte ich Sie, lieber Herr Schulze, mir nicht böse zu sein, wenn ich auf eine regelmäßige Mitarbeit im Hamburger Abendblatt verzichten muss. Einer muss ja anfangen, leider bin ich es diesmal. Aber gemeinsam mit dem Hitlerjungen Quex möchte ich nicht gelesen werden.“

Auf sein Kündigungsschreiben erhält WM am selben Tag Antwort: „Es freut mich, dass Sie immer noch ein so netter impulsiver junger Mensch sein können, wie sich das in Ihrem Brief ausdrückt“, reagiert Wilhelm Schulze versöhnlich.

WMs Haltung lehnt er jedoch als zu rigoros ab und pocht auf Toleranz gegenüber den Fehlern der Vergangenheit.

„Sie haben wahrscheinlich den Hitlerjungen Quex in einem Augenblick erlebt, wo sie selber Hitlerjunge sein mussten oder sich dieser Angelegenheit mit Sorge entziehen konnten. Für mich ist der Hitlerjunge Quex kein Begriff gewesen. Ich wende auf diesen ganzen Komplex nur die Bereitwilligkeit zum Verstehen und Verzeihen an, die meine Redaktionsführung von Anfang an gekennzeichnet hat.“

Der Chefredakteur zündet seinen Schreibtisch an

Der Chefredakteur bietet ein klärendes Gespräch an. Dazu kommt es. WM nimmt seine Kündigung nicht zurück. Doch die beiden bleiben sich wohlgesonnen. Schulzes Hamburger Tage sind ohnehin gezählt.

Über ein, wie WM sagt, „unglaublich brutales Foto“ kommt es zum Zerwürfnis mit dem Verleger. Schulze weigert sich das Bild zu bringen. Springer wartet, bis „Tokio-Schulze“ zu einem Treffen der ostasiatischen Gesellschaft geht, deren Vorsitzender er ist. Dann hievt der Verleger das Foto in die Ausgabe.

„Schulze kam später ins Büro zurück, sah den Andruck, und da war das Bild drin. Daraufhin hat er die Redaktion zusammengerufen. Er hat den Tresor in seinem Zimmer aufgemacht, alle Papiere auf den Schreibtisch geworfen und sie angezündet. Dann ist er gegangen.“

Nach Berlin. Zurück zu Ullstein.

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12 Endlich Kabarett

Englische Fassung:

Introduction: Who Was WM? Investigating a Televisionary: The Life and Work of Wolfgang Menge

https://www.kulturverlag-kadmos.de/programm/details/wer_war_wm

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Gundolf S. Freyermuth

Professor of Media and Game Studies at the Technical University of Cologne; author and editor of 20+ non-fiction books and novels in English and German