Die Anfänge der Philosophie und das Prinzip Fiktion

Jörg Ossenkopp
22 min readDec 4, 2022

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Einleitung

Selten hat man so viel gehört von Narrativen und von Story-Telling wie dieser Tage, ich fasse all das zusammen unter Fiktion. Fiktionen sind Artefakte oder Praktiken, bei denen der Fokus mehr auf die Art und Weise der Präsentation liegt oder der Wirkung auf die Rezipienten als auf eine wie auch immer geartete Gegenstandsrelation. Fiktionen sind Waffen im Informationskrieg und Fiktionen sind Kriegsziele, ein eurasisches Großrussland zum Beispiel. Und gleichzeitig stecken wir in einer Krise der Philosophie, der Wahrheit und der Wissenschaften. Philosophie wird — als reines Mittel eingesetzt — in den culture wars entzwei gerissen, in unserer digitalen Öffentlichkeit hat sich ein truth decay festgesetzt, Wissenschaften werden in ihren etablierten Ergebnissen angegriffen und ihre iterative Vorgehensweise wird nicht mehr verstanden.

Man könnte meinen, Philosophie und Fiktionen seien ein Gegensatzpaar, bei Fiktionen und Wahrheit sind sich viele sogar sicher. Ich habe einen anderen Vorschlag: In der bestehenden Krise der Philosophie möchte ich auf die Anfänge zurück gehen. So lassen sich in einer philosophischen Perspektive Fiktionen pluralistisch in einem Prinzip Fiktion zusammenfassen. Und genau dies legt tatsächlich eine genauere Betrachtung der Anfänge der Philosophie nahe.

Im Folgenden möchte ich also aufzeigen, dass Philosophie mehr als einen Anfang hat und dass bei den Anfängen der Philosophie das Prinzip Fiktion eine zentrale Rolle spielt. Dabei wird noch klarer werden, wie das Prinzip Fiktion überhaupt zu verstehen ist. Dafür thematisiere ich zwei Anfänge der Philosophie. Für den oft als singulär und monolithisch verstandenen Anfang der Philosophie in Griechenland möchte ich zeigen, dass er in sich bereits heterogen ist, dass er in einer Art des Fragens besteht, fragmentarisch beantwortet oder sogar eingerahmt durch das Prinzip Fiktion, wie beim anderen hier vorgestellten Anfang der Philosophie, dem aztekischen. Die aztekische Philosophie hat die Form von Dichtung in einer anderen Konstellation des Prinzips Fiktion. Diese besteht aus der performativen Hinterfragung von in xochitl in cuicatl, Nahuatl für Dichtung, als gleichzeitig dem Zugang zu und der Wirkungsweise von teotl, dem schöpferischen Weltprozess.

Das Fragen als philosophischer Akt

Ein leicht zirkuläres Vorverständnis von Philosophie wäre, um damit sogleich in einen hermeneutischen Zirkel einzusteigen: Philosophie ist das Ensemble aller philosophischen Akte. Dieses Vorverständnis ist nicht vollkommen trivial und tautologisch, weil ein Element ausgemacht wird, eben eine gewisse Handlung oder eine Art des Akts oder der Geste, aus deren Vielzahl sich die Gesamtheit der Philosophie zusammen setzt. Philosophische Akte sind immanent und materiell. Dieses vorgeschlagene Vorverständnis schließt somit unter anderem ein Verständnis von Philosophie aus, in dem der Weltgeist als einheitsstiftende Figur in einer Reihe von historischen Erkenntnisschritten zu sich selbst kommt. Das Durchdenken eines philosophischen Weltgeists ist ein philosophischer Akt; aus einem Ensemble dieser Akte konstituiert sich jedoch kein Weltgeist, der der Philosophie eine innere Einheit stiftet. Wenn sich Philosophie aus philosophischen Akten zusammen setzt, kommt der Philosophie keine innere Einheit zu, sondern die Form der Philosophie muss in immer wieder neu hinzu kommenden philosophischen Akten neu verhandelt werden. Und gleichzeitig umfasst das Ensemble der Orte, an denen Philosophie stattfindet, potenziell den ganzen Planeten und die Zeiten potenziell die Menschheitsgeschichte, darauf gehen wir gleich ein.

Der zunächst folgende Schritt in diesem hermeneutischen Zirkel wäre, etwas weiter auszuführen, was ein philosophischer Akt ist. Der paradigmatische philosophische Akt besteht in der aufs Grundsätzliche gehenden Frage und dem darauf folgenden Versuch des Antwortens: “Was ist das?”, “Ist das richtig?”, “Warum ist das so?”. Dem aufs Grundsätzliche Gehen wohnt etwas Widerständiges inne, ein Stocken im Fluss des Alltags. Platon benennt die aufs Grundsätzliche gehende Frage als thaumazein, als ein Sich-Wundern. Es gibt natürlich viele Arten und Weisen, dann doch nicht in das widerständige und performative Spiel von Frage und Antwort (oder Gegenfrage) einzusteigen, sondern dies abzubrechen. Die realistische oder tautologische Art und Weise: “Es ist, was es ist”. Oder die pragmatische: “Es geht doch eigentlich immer nur um das ergebnisorientierte Handeln”. Oder die fideistische: “Mehr als glauben ist doch schlussendlich unmöglich”.

1. Ein Anfang der Philosophie bei den Griechen

Der Name der Philosophie

Bei diesem skizzierten Vorverständnis von Philosophie wäre es merkwürdig, wenn alle philosophischen Akte bewusst als philosophische verstanden werden müssten. Ein philosophischer Akt muss demzufolge nicht selbstreflexiv als philosophisch kategorisiert werden. Das soeben skizzierte Vorverständnis von Philosophie hält philosophische Akte sogar in der Vorgeschichte für möglich und durchaus wahrscheinlich, damals stand die Kategorie des Philosophischen noch nicht zur Verfügung, so weit wir wissen. Es wäre darüber hinaus merkwürdig, wenn der Status des philosophischen Akts davon abhängen würde, dass ein Akt explizit mit dem Wort “philosophisch” benannt werden würde (oder einem anderen etymologisch eng verwandten Wort in einer anderen Sprache). Der Name Philosophie kam im 6. vorchristlichen Jahrhundert auf, wahrscheinlich bei den Pythagoreern, wahrscheinlich auf Samos, vor der Küste der anatolischen Halbinsel. Vereinzelte philosophische Akte muss es schon sehr lange vor deren expliziter Benennung als philosophische gegeben haben. Hier vervielfältigen und verflüssigen sich die Anfänge der Philosophie. Die Medialität eines philosophischen Akts spielt dabei eine Rolle. Philosophische Akte müssen nicht aufgeschrieben sein, können auch in der Sprache vollzogen werden, auch im Denken. Philosophische Akte verfestigen sich, wenn aus ihnen ein persistentes Artefakt hervorgeht, oder wenn sie sich in der Mündlichkeit zu einer tradierten kulturellen Praxis verdichten. Als kulturelle Praxis braucht Philosophie eine gewisse Dichte der philosophischen Handlungen. Es muss genug philosophische Akte geben, man muss sie in einer Kultur als Handlungsoption sehen können, damit sich Philosophie verfestigt und als kulturelle Praxis emergiert. Doch selbst für diese kulturelle Verdichtung philosophischer Akte ist der Name, die Eigenbenennung mittels des Worts “Philosophie” zwar relevant doch genauso gut im Nachhinein — oder durch andere — zu vollziehen. Und wo diese kulturelle Verdichtung auftaucht, die sich als Philosophie bezeichnen lässt, in welcher Stadt, auf welchem Kontinent, das spielt keine Rolle mehr für ihre Bezeichnung als Philosophie. Es muss nicht mehr Samos sein, nicht mehr Griechenland, nicht mehr Europa. Im Gegenteil, in der Weltgeschichte findet man immer wieder Abwertungen von Kulturen, die auf der Abwesenheit einer rein nominell verstandenen Philosophie basieren. Solch eine Abwertung ist eurozentristisch, aufgrund der Herkunft des Namens der Philosophie aus Griechenland, aus Europa.

Philosophische Akte vor dem Namen der Philosophie

So weit man sich bisher in der Philosophiegeschichtsschreibung auf einen einzigen Anfang der Philosophie einigen konnte, so ist er mit dem Namen Thales von Milet verbunden. Milet war eine griechische Stadt an der ionischen Küste im Südwesten Anatoliens, Samos ist die nächstliegende Insel.

Ephesos (Éphèse hier auf der französischen Karte), Samos und Milet sind sehr nah beieinander an der ionischen Küste. Heute liegt Izmir in der Nähe der Ruinen von Milet.

Doch von Thales weiß man nicht viel, es gibt keine schriftliche Überlieferung von ihm und auch keine direkten Zeitgenossen, die von ihm berichten. Was in den Jahrhunderten nach ihm zusammen kam, aus dem kann man schließen, dass er sich mit Mathematik beschäftigte, er soll bewiesen haben, dass alle in einen Halbkreis eingeschriebenen Dreiecke einen rechten Winkel besitzen. Er hat Astronomie, Terraforming und Meteorologie betrieben, soll eine Sonnenfinsternis und eine gute Olivenernte durch Berechnung vorher gesagt haben sowie einen ganzen Fluss umgeleitet. Und er hat sich mit dem Anfang aller Dinge beschäftigt. Anders als vorher bei dem griechischen Dichter Hesiod ist der Anfang, aus dem alles hervorgeht, nicht mehr das mythische Chaos, sondern das gleichzeitig physikalische und mythische Wasser. Anders auch als bei Homer, der meint, Okeanos sei der Ursprung (genesis) alles Lebendigen, ist das Wasser für Thales darüber hinaus der Anfang aller Dinge. Und mehr noch, Thales meint, dass dieser Anfang sich in den aus ihm entstandenen Dingen fortschreibt, die Samen aller Dinge feucht und damit im Grunde genommen aus Wasser sind. Das griechische Wort für Anfang, das Thales für seine Überlegungen zugeschrieben wird und das bei Hesiod nachzulesen ist, jedoch noch nicht bei Homer, ist arché, was ins Deutsche auch mit Prinzip übersetzt werden kann. Das Wasser sei das Prinzip aller Dinge, wird von Thales überliefert. Die Geste, für die Thales berühmt ist, besteht in einem beständigen In-den-Himmel-Starren, wodurch er den Fluss des Alltags verlässt. Dieses mathematisch und astronomisch konnotierte In-den-Himmel-Starren ist einer der ersten philosophischen Akte, die uns aus Griechenland überliefert sind. Von Platon überliefert ist im Theaitetos (174A4–B6), dass Thales beim In-den-Himmel-Starren einen Brunnen in seinem Weg übersah und in ihn hinein fiel, die erste überlieferte Unterbrechung eines philosophischen Akts durch die Realität. Es gibt jedoch keinen einzigen Hinweis, dass Thales selbst seine Aktivität als Philosophie bezeichnet hätte. Thales wird als einer der griechischen sieben Weisen bezeichnet, die gelten jedoch eher als die Urheber von kurzen Sinnsprüchen und politischen oder technischen Errungenschaften. Thales wird als Urheber des Sinnspruchs „Erkenne Dich selbst“ bezeichnet, historisch ist das aber nicht verifizierbar. Das In-den-Himmel-Starren hat den Charakter einer Frage, einer Himmelsbefragung. Auch „Erkenne Dich selbst“ ist eine implizite Frage. Die Suche nach einem gemeinsamen natürlichen Anfang aller Dinge ist eine Frage. All dies sind philosophische Akte ohne Eigenbenennung als Philosophie. Der Name Philosophie für derart philosophische Akte kam erst ein paar Jahrzehnte später auf, direkt überliefert ist er erst für Heraklit.

Verdichtung

Das Wissen des Thales war kein mystisches oder idiosynkratisches, es war wenigstens zum Teil lehrbar, Thales soll mindestens einen Schüler gehabt haben, Anaximander von Milet. Auch Anaximander hat sich mit Mathematik beschäftigt, mit Astronomie und Geographie. Er soll der erste gewesen sein, der eine Weltkarte erstellt hat und der einen Gnomon in Griechenland aufstellte, eine Sonnenuhr, die auch die jahresabhängigen Änderungen des Sonnenstands misst.

Eine Rekonstruktion der Weltkarte von Anaximander. Eingezeichnet ist auch die Richtung, aus Milet gesehen zur Sommer- und Wintersonnenwende sowie zur Tag- und Nachtgleiche die Sonne aufgeht und untergeht. Den Schatten, den ein Gnomon wirft, den kann man sich dazu gut vorstellen.

Dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Thales und Anaximander war jedoch keines der umfassenden Gefolgschaft. Es gab ein ähnliches Feld der Beschäftigungen, doch auch offenen Widerspruch. Am deutlichsten wird das daran, dass auch Anaximander die philosophische Geste wiederholt, alle seienden Dinge auf einen gemeinsamen Anfang oder ein gemeinsames Prinzip, griechisch arché, zurück zu führen. Doch für Anaximander ist nicht mehr das Wasser die arché, sondern das Unbegrenzte, to apeiron. Ein Großteil von Anaximanders Unternehmungen bestand, soweit wir wissen, im Messen, Zählen, im Ziehen von Linien, im herunter skalierenden Nachziehen der Grenze zwischen Wasser und Land auf Papier, im Vergleichen der Linienstrecken, die vom Schatten des Gnomons verursacht durch das Sonnenlicht gezogen werden. Anaximander stellt sich die aufs Grundsätzliche gehende Frage, was all dem Linienhaften, Empirischen, Geometrischen, Zählbaren, Begrenzten und Definierten zugrunde liegt und entwickelt die Auffassung, dass das allen seienden Dingen Zugrundeliegende das Unbegrenzte ist. So wie das Wasser auf Anaximanders Weltkarte die bekannte Welt umschließt, unberechenbar und chaotisch, so umschließt das Unbegrenzte die Welt der seienden und damit messbaren und zählbaren Dinge. Anaximander selbst ist genauso wie wir ein Lebewesen und ein seiendes Ding, mit seiner Identifikation des Prinzips des Unbegrenzten zielt er aus dem Kreis der seienden Dinge heraus, über den Kreis des Alltäglichen und den Weltkreis hinaus. Das Prinzip des Unbegrenzten ist die Abgrenzung der seienden Dinge. Den seienden Dingen kann man geometrische oder mimetische Grenzen ziehen, sie dadurch im Einzelnen definieren. Ihre Gesamtheit ist dadurch definiert, dass sie überhaupt definierbar sind, alles nicht Seiende hat eben keine Grenzen und ist somit nicht definierbar. Das A-peiron ist mittels einer Negation benannt ist, eben das Nicht-Begrenzte oder Nicht-Markierte; das positive Gegenteil des Apeiron ist das Seiende, das durch Messen Erfahrbare, Empirische. Dennoch ist das Apeiron keine Schrumpfform und auch nicht defizitär, es fehlt ihm nichts, im Gegenteil; noch ist es kraft- oder wirkungslos, im Gegenteil. Das wird gleich weiter ausgeführt. Anaximanders philosophischer Akt der aufs Grundlegenden gehenden Frage „Warum ist das alles so?“, deren Antwort er selbst mit dem Prinzip des Unbegrenzten einleitet, führt in der Folge zu einem persistenten Artefakt. Anaximander ist der erste griechische Philosoph, wenn auch noch nicht Philosoph im Wortlaut und eigenen Verständnis, von dem ein Zitat überliefert ist, das in der Philosophiegeschichte als „der Spruch des Anaximander“ bekannt geworden ist.

Der Spruch des Anaximander

Anaximander soll geschrieben, soll also durch seinen philosophischen Akt ein persistentes Artefakt erzeugt haben. Sein Buch war wohl “Über die Natur” betitelt, es ist nicht vergessen worden, weil er es der Öffentlichkeit der polis übergeben hat. Dennoch ist von ihm nur ein einziges Fragment übrig geblieben. Der spätantike Philosoph Simplikios rahmt es in seinen eigenen Worten:

„Woraus aber die seienden Dinge ihre Entstehung haben, dahin erfolge auch ihr Vergehen »entsprechend der Notwendigkeit. Denn sie leisteten einander Recht und Strafe für die Ungerechtigkeit nach der Zeitordnung«, wie er es mit diesen ziemlich poetischen Worten formuliert.“

Die Übersetzung dieses Spruchs ist notorisch schwer und umkämpft, deshalb sollen die einzelnen substantivischen Elemente des Spruchs noch einmal rückübersetzt werden. Die seienden Dinge sind im Griechischen ta onta, die Entstehung ist genesis, das Vergehen ist phthora, die Notwendigkeit chreos, Recht diké, Strafe tisis, Ungerechtigkeit adikia, Zeitordnung tou chronou taxis und die poetischen Worte sind im Griechischen poietikotera onoma.

Schematische Darstellung der Struktur des Apeiron

Vier Aspekte dieses Spruchs sollen beleuchtet werden: 1. die Gleichheit der seienden Dinge, die aus der Messbarkeit und Zählbarkeit resultiert 2. die Zeitlichkeit der Prozesse der arché 3. die prozedurale Herrschaft der arché und 4. die dem Spruch innewohnenden Autoritätsbehauptungen

  1. Bei Hesiod entstehen die Götter zwar als erstes in einer Reihung aus dem Chaos, sind aber grundsätzlich unterschiedlich und inkommensurabel, Zeus ist nicht zeitlich der erste aber der mächtigste unter ihnen, der Herrscher, Gaia ist die erste und gleichzeitig die sichtbare Erde und eine Göttin, Tartaros ist die personifizierte Unterwelt, etc. Bei Anaximander dagegen entstehen die seienden Dinge und sind ab dann kommensurabel, miteinander abzumessen und gegeneinander abzuzählen. Die Entstehung der Dinge ist ein Heraustreten aus der Unmarkiertheit und Unzählbarkeit ins Zählbare. Das Verhältnis alles dessen, was zählt, ist gleich, 1:1, und Ungerechtigkeit ist ein Überschreiten dieser Gleichheit. Dabei ist Ungerechtigkeit genauso notwendig wie die auf die Ungerechtigkeit erfolgende, das Recht wieder herstellende Strafe, die im Vergehen besteht. Dieses Entstehen und Vergehen ist die physis, selbst wenn dieses von phyein, wachsen, Frucht tragen stammende Substantiv von Anaximander in diesem Fragment nicht explizit erwähnt wird.
  2. Bei Hesiod ist der zeitliche Anfang die arché. Bei Anaximander gehört die zeitliche Struktur zur arché, das Prinzip des Unbegrenzten hat diese zeitliche Struktur, alles entsteht und vergeht innerhalb dieser gleichen und gleichförmigen Struktur, es entsteht, gerät dann in der Mitte der Zeit durch die Ungerechtigkeit, die im notwendigen Überschreiten des gleichförmigen Maßes besteht, in einen Konflikt, um dann am Ende dieser zeitlichen Struktur, dieser Zeitordnung wieder im Unbegrenzten zu vergehen. Bei allen vielleicht katastrophalen Veränderungen, die sich aus dem Entstehen, Konfligieren und Vergehen ergeben, bleibt die zeitliche Struktur gleich. Ein Ende der Zeit wird nicht thematisiert, wäre aber vorstellbar, wenn nichts mehr aus dem Unbegrenzten emergiert. Sobald etwas aus dem Unbegrenzten emergiert, ist es dieser für alle und alles gleichen Zeitlichkeit unterworfen.
  3. Anaximander benutzt laut Simplikios poetische Worte. Die zeitliche Struktur des Prinzips des Unbegrenzten ist exakt die, die Aristoteles in der Poetik für jede Art von Fiktion als Schema untersucht: Anfang, arché, oder Exposition, Mitte, meson, oder Konflikt, und Ende, telos, oder Lösung. Der Bereich der Dinge hat den Charakter einer Theaterszene, das Unbegrenzte ist das, was außerhalb dieser Bühne geschieht, was das Bühnengeschehen aber bestimmt. Von Anaximander wird zudem auch gesagt, dass er sich wie ein Theaterschauspieler kleidete, worin er sogar von späteren Philosophen nachgeahmt wurde. Die poetischen Worte, die Anaximander benutzt, umfassen diké, Gerechtigkeit, adikia, Ungerechtes, tisis, Strafe. Dies sind Wörter, die viel in Tragödien vorkommen, auch als Motivik oder Thema. Dies sind aber gleichzeitig auch politisch konnotierte Wörter. In Homer gibt es nur das Verb, archô, vorangehen, insbesondere dem Heer, und noch nicht das Substantiv. Im klassischen Griechenland ist arché dann die prozedurale Herrschaft, durch Amt und Institution. Dagegen wäre kratos die Herrschaft durch siegreiche Stärke und kuros die gelingende, glückliche Herrschaft.
  4. Hesiod und Homer ziehen ihre Autorität durch die Musenanrufung, sie sind von den Musen inspiriert und damit autorisiert, das ist Teil der oralen Traditionsübermittlung. Die Autoritätsbehauptung Anaximanders sieht, so weit wir das sehen, anders aus. Ein paar Jahrzehnte später beschreibt Parmenides noch zu Beginn seines Lehrgedichts eine allegorische Fahrt zum „Tor der Bahnen von Tag und Nacht“, die auch in dieser allegorischen Form als Autoritätsbehauptung gegenüber seinem Publikum dient. Im Spruch des Anaximander gibt es zwei Kandidaten für eine Autoritätsbehauptung. Anaximander hat zum einen die Notwendigkeit erkannt, mit der die Prozesse des Prinzips des Unbegrenzten ablaufen, und zum anderen die Ordnung der Zeit. Anaximander könnte also im Namen der Notwendigkeit und der Ordnung der Zeit sprechen, darin bestünde dann seine Autoritätsbehauptung. Untermauert würde diese durch seine Arbeiten in der Geometrie, Kosmologie und Zeitforschung.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die arché, das Prinzip, einen politischen und einen kosmologischen Aspekt hat, nicht nur auf eine einzige polis beschränkt ist, das kann man zusammenfassen als kosmopolitisch. Aus dem zeitlichen Anfang heraus beherrscht es die Abläufe der Mitte und des Endes, in einer starken Verbindung von Politischem, Poetischem und Physischem. Das Prinzip als Apeiron ist eine Negation als Benennung, negiert wird in dieser Namensgebung die Grenze. Gegenübergestellt wird dem Apeiron das Begrenzte, das was zählt und was gleich ist, in einem kosmopolitischen Sinn. Als Prinzip beherrscht es jedoch das Begrenzte, das Empirische geht aus ihm hervor, wird nach physischen und politischen Regeln unter die Gerechtigkeit gebracht, wodurch es vergeht.

Das Prinzip des Unbegrenzten als das Prinzip Fiktion

Ein Zwischenfazit: Philosophie wird verstanden als das stets changierende Ensemble der philosophischen Akte. Philosophische Akte wurden weiter spezifiziert als aufs Grundsätzliche gehende Fragen. Weder ein reflexives Verständnis dieser Fragen als philosophische ist nötig, noch die explizite Benennung, vom griechischen Wort philosophia, Weisheitsliebe oder -sehnsucht herrührend. Damit wird der Eurozentrismus verabschiedet. Das wird noch einmal untermauert durch eine historische Betrachtung des Thales von Milet, der in der Geschichtsschreibung zwar als Philosoph gilt, dennoch existieren keinerlei Belege, dass er seine Unternehmung selbstreflexiv als Philosophie gefasst hätte, noch dass ihm überhaupt der Name von Philosophie im griechischen Wortschatz zur Verfügung gestanden hätte. Nichtsdestoweniger sind Akte von ihm überliefert, die wir ohne große Zweifel als philosophische Akte kategorisieren. Von Thales wird berichtet, dass er Wasser als Prinzip verstand, aus dem alles entsteht. Das impliziert, dass er sich zu einem gewissen Zeitpunkt Fragen gestellt hat: Kann man wirklich alles auf eine gemeinsame Herkunft zurück führen? Und ist dies wirklich das Chaos, müsste dann nicht alles noch viel chaotischer sein? Das Herausstellen eines Prinzips ist die paradigmatische und oft auch vorläufige Antwort auf eine Frage, die aufs Grundsätzliche geht. (Für Fragen gilt dann natürlich, dass sie natürlich nicht rein rhetorisch oder heuchlerisch sein dürfen. Eine Frage muss offen für Antworten sein, auch unerwartete Antworten.) Anaximander von Milet stellt sich ganz ähnliche Fragen wie sein Lehrer, kommt jedoch zu anderen Antworten. Sein Prinzip des Unbegrenzten ist ein kosmopolitisches und gleichzeitig poetisches. Anaximanders Autoritätsbehauptung besteht so weit wir das sehen können darin, im Namen der Notwendigkeit und Zeitordnung zu sprechen.

Die zeitliche und poetische Struktur des Apeiron

Die Kombination von Notwendigkeit und Zeitordnung ist Aristoteles’ Poetik zufolge das wichtigste Element der Tragödie. Dichtung stellt die Notwendigkeit besser heraus und das Allgemeine, deshalb ist sie besonders philosophisch, philosophischer auch als die Geschichtsschreibung, führt Aristoteles dort weiter aus. Anaximanders Prinzip des Unbegrenzten überschreitet den Bereich des Empirischen, des Messbaren, und der Schau, historia. Es zeigt das Allgemeine und die Notwendigkeit besser auf als Historiographie. Wir können das Prinzip des Unbegrenzten also als Dichtung verstehen, die sich durch das Aufzeigen und Befolgen der Notwendigkeit und Zeitordnung auszeichnet. Und dies ist nicht irgendwelche Dichtung, sondern hat einen generativen Aspekt, beschreibt Gerechtigkeit genauso wie kosmologische Vorgänge, ist eben nicht beliebig, sondern kosmopolitisch. Aus dieser Dichtung oder Fiktion bildet sich das heraus, was zählt. Diese Dichtung ist selbst prinzipienhaft. Das Prinzip des Unbegrenzten ist eine Ausformung des Prinzips Fiktion. Thales von Milet, sein philosophischer Akt der Frage nach dem Ursprung aller Dinge, kann als einer der Anfänge der Philosophie gelten, der Spruch des Anaximander ist das erste Fragment, das uns überliefert ist als Antwort auf eine aufs Grundsätzliche gehende Frage. Anaximanders Prinzip des Unbegrenzten kann verstanden werden als eine Ausformung des Prinzips Fiktion und macht einen der Anfänge der Philosophie aus.

2. Ein anderer Anfang der Philosophie bei den Azteken

1. Verdichtung

Die Möglichkeit einer aztekischen Philosophie stellt viele herkömmliche Verständnisvarianten von Philosophie in Frage. Whiteheads Verständnis zum Beispiel von Philosophie als Fußnoten zu Platon. Oder ein Verständnis von Philosophie als systematischer, rationaler Begriffsanalyse; denn die gibt es in der aztekischen Philosophie in der uns geläufigen Form nicht. Wenn wir jedoch sagen, dass Philosophie das Ensemble aller philosophischen Akte ist, und der paradigmatische philosophische Akt die Frage, die aufs Grundsätzliche geht, so ist Philosophie nicht auf die Nachfolge Platons eingeschränkt, sondern kann überall und zu allen Zeiten aufflackern. Und es braucht auch keine systematische Begriffsanalyse, sondern nur Verdichtung philosophischer Akte zu kulturellen Praktiken und Artefakten, denn ohne solcherart Verdichtungen können wir hier und heute keine Anfänge von Philosophie identifizieren.

Die Azteken oder Mexica in Mesoamerika produzierten sehr exakte Kalender in Stein und in Büchern, angesichts dieser Artefakte können wir davon ausgehen, dass sie sehr aufmerksam in den Himmel schauten. Der Sonnenstein, der zwischen 1502 und 1520 aus einem Monolithen gehauen wurde und der 24 Tonnen wiegt trägt einen Ring von Kalenderglyphen.

Auf dem Sonnenstein ist der Osten, nicht der Norden, per Konvention oben angeordnet

Sehr viel schematischer findet sich in den Glyphenbüchern der Azteken die Form des Sonnensteins wieder, als die Glyphe für die Sonne, tonatiuh.

Die achtteilige Struktur des Sonnensteins oben ist bei der Glyphe tonatiuh leicht wieder zu erkennen, auch die konzentrischen Ringe; aus dem Codex Mendoza (1541)

2. Die aufs Grundsätzlich gehende Frage nach dem Besitz des Herzens

Gab es bei den Azteken auch Artefakte oder Praktiken, die von Fragen zeugen, die aufs Grundsätzliche gehen? Das erste Zeugnis, das sich dafür finden lässt, ist eine Frage, die Tlaltecatzin („Er von der Erde“ oder „Herr Bauer“) von Cuauhchinanco zugeschrieben und somit auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datiert wird. Tlaltecatzin fragt in dem von ihm überlieferten Dichtgesang: wenn mein Herz (yollotl, das Herz, noyol, mein Herz) das ist, was Freude umsetzt auf der Erde, was genießt und Lust empfindet, wenn mein Herz solch “kostbare Realität” ist, wem “gehört” dann mein Herz, angesichts der Tatsache, dass ich sterben werde und die Welt verlasse?

Alone I must go,
sometime it will be,
alone I must go,
I will perish.
I abandon myself,
O my God, Giver of life,
I say: let me go,
my body will be a funerary bundle,
I a singer,
let thus it be.

Is anyone there who will become the owner of my heart?

(alle Zitate aus der derzeit besten Übersetzung, Léon-Portilla [1992], S. 67ff.)

Wenn die Relation zwischen mir und meinem Herzen so fragil ist, dass sie zu einem unbestimmten Zeitpunkt, mit anderen Worten, jeden Tag verschwinden kann, und ich hierbei dermaßen machtlos bin, so ist zunächst unklar, was es bedeuten könnte, dass mein Herz mir gehört.

Glyphe yollotl, Herz, aus dem Codex Mendoza (1541)

Denn eine Eigentumsrelation, die derart kontingent ist und so wenig durchsetzbar, die ist eigentlich keine. Dieses Eigentumsmotiv bereitet Tlaltecatzin vor mit einer Thematisierung einer semantischen Alternative, nämlich dem Motiv des Geliehen-Seins, mit dem er ein poetisches Gegenüber an einer Stelle insgesamt beschreibt:

you only lend yourself,
you will be abandoned,
you will have to go away,
there will be a defleshing

Dass mein Herz als Alternative zum Besitz nur geliehen sein soll ist jedoch genauso schwer vorstellbar, da es ja in meinem Körper als ein Muskel schlägt und da es für die Mexica das ist, womit man alles Schöne auf der Erde empfindet. Daher ist mein Herz in keiner Weise wegzuerklären oder auf etwas anderes reduzierbar.

Im Gegenteil, das Herz oder yollotl ist das Organ der aztekischen Philosophie. Wenn man den engeren Bereich des Gedichts von Tlaltecatzin verlässt und sich aztekische kulturelle Praktiken anschaut, stößt man an prominenter Stelle auf die tlamatinime, die aztekischen Philosophen und Philosophinnen. Tlaltecatzin galt als solcher, war gleichzeitig auch Sprecher, also Herrscher, von Cuauhchinanco.

Das aztekische Bildungssystem war zweigleisig. Zum einen gab es Institutionen, die alles gelehrt haben, was man als Krieger braucht. Zum anderen gab es Institutionen, calmecac genannt, die Priestern, Verwaltern und Sprechern ihr Wissen beigebracht haben, und die Lehrer waren eben jene tlamatinime, Philosoph*innen. Grundlage dieser Lehre waren Bücher mit Bildern, Wort- und Kalenderglyphen wie zum Beispiel jener Glyphe für die Sonne, tonatiuh, oft auch nur in roter und schwarzer Tinte gemalt. Daher ist “rot und schwarz” tlilli, tlapalli die Bezeichnung in Nahuatl für Schreiben oder Wissen. Eine Eigenart des Nahuatl ist der difrasismo, zwei beigeordnete Wörter, die in der Kombination etwas Drittes bedeuten, wie eben tlilli tlapalli. Dieses Wissen lässt sich unterteilen in Religion, Astronomie, Geschichte und nicht zuletzt Dichtung, auf Nahuatl: in xochitl in cuicatl, direkt übersetzt: Blumen und Lieder, ein weiterer difrasismo. Und damit wird den Schülern jener Philosophen, so die Redewendung, “Gesicht und Herz”, in ixtli in yollotl, beigebracht. Es gibt also einen engen Zusammenhang von Dichtung und Herz, Dichtung bildet das Herz heraus. Die poetische Antwort des Dichters auf seine aufs Grundsätzliche gehende Frage nach dem Besitzer seines Herzens in den auf die zitierte Frage direkt folgenden Zeilen ist demnach gleichzeitig eine Nicht-Antwort

Alone I must go,
my heart covered with flowers,

Der Besitz des Herzens wird nicht nur assoziiert mit der Sicherheit des eigenen Überlebens, die nicht gegeben ist, sondern auch mit der Frage nach Allein-Sein oder nicht, in der konzediert wird, am Ende ist man allein. Das Herz ist bedeckt mit Blumen, was ein Hinweis ist auf die Verbindung von Herz und Dichtung. Und eben nicht nur Dichtung.

3. Das teotl

Tlaltecatzins philosophisches Gedicht ist eines, das nach dem Herzen fragt und es so herausbildet. Im Verlauf dieser philosophischen Herausbildung des Herzens mittels einer Frage, auf die es keine Antwort gibt, die im Singen des Liedes performativ vollzogen wird, gerät man zudem in eine Relation zum Göttlichen. Das wird gleich in der dritten und vierten Zeile des Gedichts angesprochen:

with flowers is painted
The Giver of life, the community.

Wir haben hier einen Hinweis auf Bilder in Büchern, der aztekischen Form des Wissens, auf Blumen, jenen ersten Teil des difrasismo Blumen und Lieder, und die Relation von Bildern und Dichtung zu Ipalnemoa, Life Giver, der mit Blumen gemalt ist, was wiederum in einer assoziativen Relation zur Gemeinschaft steht.

Das Göttliche wird einerseits als göttliches Prinzip thematisiert und andererseits als ein poetisches Gegenüber, der und die personenhafte Züge trägt. Ipalnemoa hat personenhafte Züge, teotl weniger, im Gedicht wird die Form noteuh benutzt, so wie noyol mein Herz bedeutet, so bedeutet noteuh mein Göttliches, was eine enge Verbindung anzeigt aber gleichzeitig auch eine Parallele in der Unsicherheit der Verbindung, die blumenhaft ist, schön, intensiv und vergänglich. Die Glyphe für teotl ist eine Hälfte der Glyphe für tonatiuh, was die enge Verbindung von teotl und tonatiuh anzeigt, eine Bedeutungsüberschneidung.

Die Glyphe teotl, das Göttliche, aus dem Codex Mendoza (1541), besteht aus der oberen Hälfte der Glyphe tonatiuh, Sonne (siehe oben)

Das Lied, die Dichtung, in xochitl in cuicatl transzendiert Alltagsvollzüge und bringt einen in eine Relation zum göttlichen Prinzip, teotl. Das Herz, das zum teotl in einer Relation steht, ist weiterhin von Vergänglichkeit betroffen, das Radikale der Frage des Tlaltecatzin bleibt bestehen. Die Antwort auf seine Frage ist das Singen seines Lieds, die Annäherung an das teotl und der generativen Schaffensweise des teotl, das eben selbst sich und die Welt poetisch, mittels Bildern und mittels Dichtung produziert, und somit in allen Formen Vergängliches erschafft, und das in der Variation der performativen Dichtung in der Oralität immer neue Formen annimmt, Ipalnemoa oder Life Giver ist nur eine von ihnen.

Die Dinge haben kein festes, der Vergänglichkeit enthobenes Vorbild, und so endet das Lied mit den Zeilen:

Nowhere on earth is their model,
thus let it be,
but let it be without violence.

In xochitl in cuicatl ist die Art und Weise in der sich das Prinzip Fiktion in der aztekischen Philosophie darstellt. Sowohl die schöpferische Tätigkeit des teotl geschieht durch in xochitl in cuicatl als auch die der Philosophendichter, der tlamatinime. Das heißt der solare Weltprozess selbst, in dem wie er sich selbst erschafft, trägt die Charakteristika von Dichtung, die Schönheit, die Intensität und die Vergänglichkeit: Paradiesvogelfedern, Gold und Jade sind wunderschön und ergreifend und vergänglich. Das teotl selbst ist wunderschön und ergreifend und vergänglich wie auch die durch es erschaffenen Dinge, die stets in seinem Fluss der ineinander übergehenden Gegensätze wie zum Beispiel Leben und Tod, Alleinsein und Gemeinschaft, Freude und Leid verbleiben.

Zapotekische Dualitätsmaske aus Soyaltepec, Oaxaca (ca. 600–900)

Das teotl ist göttlich und dennoch immanent und monistisch. Und im Singen genauso der Dichterphilosoph und seine Schüler und Zuhörer, die sich selbst erkennen als erschaffen durch in xochitl in cuicatl. In der Ausübung dieser dichterischen Kreativität nähern sie sich dem teotl und seinen personalisierten Formen, Live Giver und Ever Near, erfassen so die Art und Weise der Kreativität des schöpferischen Weltprozesses und erschaffen sich so in gewisser Weise selbst, eine Selbsterschaffung in der Art und Weise, in der sie vom Weltprozess selbst geschaffen wurden: wunderschön und ergreifend und vergänglich, selbst wie Blumen und Lieder, und gleichzeitig mithilfe des Mediums der Lieddichtung als auch in ihm und von ihm ergriffen.

4. Das Prinzip Fiktion in der aztekischen Philosophie als subversiver Widerstand

Das ist die spezifische Form, die das Prinzip Fiktion in der aztekischen Philosophie annimmt. Es gibt einen generativen Aspekt, der in der Schöpfungsenergie von teotl besteht. Teotl erschafft sich selbst und die Welt, ohne dass dafür ein Anfang auszumachen ist. Und es gibt einen epistemischen Aspekt. Der größte Experte für aztekische Kultur, Léon-Portilla, bestätigt das, indem er sagt, dass Wahrheit durch philosophische Dichtung ausgedrückt wird. Und es gibt den Aspekt der Handlungsorientierung, der besagt, dass man durch Dichtung das Herz ausbildet, was einem ermöglicht auf der “rutschigen Erde” keine Ausrutscher hinzulegen sondern auf dem richtigen Weg zu bleiben.

Die aztekische Philosophie ist eine Form des subversiven Widerstands. Die Kriegsführung der Spanier war extrem erfolgreich. Sie umfasste das Ausnutzen innerer Konflikte unter den mexikanischen Staaten, überlegene Waffentechnologie, unbeabsichtigt mitgebrachte Krankheiten, die spanische Inquisition, radikale Vernichtung der kulturellen Artefakte und Unterdrückung der kulturellen Praktiken. Innerhalb weniger Jahrzehnte starben Millionen von Azteken. Eine der größten Städte der damaligen Zeit, Tenochtitlan, die deutlich größer als die spanische Hauptstadt war, Toledo, und fast so groß wie die so weit uns bekannt größte Stadt jener Zeit, Paris, wurde gebrandschatzt und entvölkert. Es ist keine Übertreibung, das einen Genozid zu nennen. Dennoch versuchten die Überlebenden, an ihrer Kultur festzuhalten, die unter ihren Händen gewaltsam in eine christliche und frühkapitalistische transformiert wurde. Die Azteken bezahlten nicht mit Gold sondern mit Kakaobohnen, Tlaltecatzin beschreibt

the flowering chocolate drink is foaming,
the one which intoxicates men with its flowers.

Christliche Mönche hatten große Schwierigkeiten, ihren Ritus in Mexiko einzuführen. Die aztekischen Lieder haben einen eigenen ästhetischen Sog, wie der Franziskaner Bernardino de Sahagun feststellte. Die Mexica hörten nicht auf, waren nicht davon abzubringen, sie zu singen. Daher gingen die Mönche dazu über, die Lieder zu erforschen und sie in der lateinischen Alphabetschrift niederzuschreiben. Nur deshalb ist das Lied von Tlaltecatzin in dieser Form für uns überliefert. Die Mönche etablierten nach ihren Kategorien Autoren, Tlaltecatzin unter ihnen, und etablierten sie als Stimmen kritisch gegenüber der aztekischen Tradition. Das aztekische teotl zum Beispiel wurde gleichgesetzt mit dem christlichen dios. Die Azteken dagegen übernahmen Motive und Namen der christlichen Tradition und führten sie in ihre Lieder ein, die sie weiter in ihrer performativen Tradition sangen und sie unterwanderten durch ihre Ästhetik und Schönheit die christlichen Inhalte und pflegten ihre Gemeinschaft somit weiterhin durch in xochitl in cuicatl. Der gewaltsame Kulturkontakt und die damit einhergehende Machtausübung durch die Bewertung von aztekischer Kultur als primitiv, unmenschlich, unphilosophisch und der spanischen Kultur als modern, humanistisch und als Hochkultur ist eine Form des aufgezwungenen Kosmopolitismus. In dem man versucht, Tlaltecatzin eine Stimme zu geben, das aztekische in xochitl in cuicatl zu verstehen, das Philosophische darin wieder freizulegen, die aztekische Erfahrung somit anzuerkennen, kann man versuchen eine neue Art eines wirklich inklusiven und diversen Kosmopolitismus zu entwerfen. Abgesehen davon, vor den Gefahren eines aufgezwungenen Kosmopolitismus zu warnen, das Politische und die Gemeinschaftsbildung im Widerstand, in der Performativität von Musik und Dichtung zu erkennen, wäre eine aztekische Inspiration, das Immanente und Monistische des solaren Weltprozesses teotl aufzugreifen. Es gibt keine Zwei-Welten-Theorie, weder bei der Wahrheit, noch in der Religion, noch im Verhältnis von Natur und Kultur.

3. Schluss und Ausblick

Auch das Prinzip Fiktion ist ein planetarisches und kosmopolitisches, sowohl wenn man seine Verteilung anschaut als auch wenn man seine unterschiedlichen Ausprägungen versucht zu verstehen. Unsere derzeitige Krise der Philosophie kann am Ende immer nur als ein Anlass und Aufruf zur Erneuerung verstanden werden. Es geht nicht nur darum, die Krisenphänomene zu kartieren und zu verstehen, es geht auch darum, sie herzuleiten. Ein Blick auf die Anfänge der Philosophie ist ein Element solch einer Herleitung. Darin zeigt sich, eine neue Form des Kosmopolitismus ist Antwort und Voraussetzung für die drängenden Zeitfragen.

Das Prinzip Fiktion ist aktuell, weil es eine reichhaltige und umfassende Geschichte erzählt, in der wir uns alle wiederfinden können. Das Prinzip Fiktion ist beiordnend und inklusiv, wie wir gesehen haben kosmopolitisch im eigentlichen Sinn, Politisches und Kosmologie verbindend. Das Prinzip Fiktion verbindet auch Heterogenes mit einer beiordnenden Konjunktion, einem irenischem “Und”, in dem es zunächst darum geht, dass jedes beigeordnete Element in einer planetarischen Perspektive narrativen Platz erhält und eine Stimme, die zählt, und dass nicht sofort schon wieder gegen diese pluralistische Ausrichtung eine aufgezwungene überkommene Wertestruktur oder gar eine Zwei-Welten-Theorie als gegeben vorausgesetzt wird.

Für jetzt bleibt offen, wie das Prinzip Fiktion sich in anderen Kulturkreisen ausformt, in Afrika und in Asien, das ist eine Aufgabe für die Zukunft.

Diese Ausführungen sind entstanden für eine Präsentation im Rahmen von PhenCoCo

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership