Über Prinzipien

Das Prinzip Fiktion

Jörg Ossenkopp
3 min readJan 3, 2023
The Single Arc Bridge connecting Philosophy and the Everyday by Henri Rousseau, by Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Prinzipien schlagen eine Brücke zwischen Philosophie und Alltag. Jeder Leser hat ein Vorverständnis dessen, was Prinzipien sind. Auch worin das Gegenteil von Prinzipien besteht, das ist nicht schwer auszuführen: Opportunismus, Rückgratlosigkeit, Widersprüchlichkeit, Regellosigkeit, Chaos. Wahrscheinlich treffen viele Leser ihre kleinen und großen Lebensentscheidungen nach impliziten oder expliziten Prinzipien: Pragmatismus, Nachhaltigkeit, ökonomische Vorteilssicherung, Nächstenliebe, Freiheitsmaximierung, Luststeigerung, soziale Anerkennung, dies alles können Prinzipien sein. Unser soziales und politisches Zusammenleben kann genauso untersucht werden hin auf Prinzipien: Meinungsfreiheit, Vertragsfreiheit, Versammlungsfreiheit. In den Wissenschaften gibt es darüber hinaus viele Prinzipien mit einer sehr spezifischen Anwendbarkeit: das biologische Prinzip der Oberflächenvergrößerung, das chemische Prinzip des kleinsten Zwangs, das huygenssche Prinzip der Wellenausbreitung in der Physik.

In philosophischer Perspektive kommen dann weitere Aspekte ins Spiel. Der spezifischen Anwendbarkeit wird die Allgemeinheit oder Universalität gegenüber gestellt. Prinzipien können sogar noch wenn sie allgemein oder universell sind erneut kontextualisiert werden. Prinzipien können starke oder schwache sein. Ein zeitlicher Aspekt kommt ins Spiel, die Frage nach ersten Prinzipien. Das Komplement zum Prinzip wird in philosophischer Perspektive ausgeführt, das, was sich aus dem Prinzip herleitet oder ergibt, eben das Prinzipiierte oder Prinzipiatum. In der Philosophie entstehen desweiteren Vorschläge für neue Prinzipien, die sich in der Folge durchsetzen oder auch nicht: zum Beispiel das Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch oder das Prinzip Feuer von Heraklit. Eine typische in philosophischer Perspektive unternommene Unterscheidung ist die zwischen dem epistemischen Aspekt eines Prinzips und dessen generativem Aspekt. Quer dazu steht die Handlungsorientierung von Prinzipien, die durch das Epistemische genauso wie durch das Generative angeleitet werden kann, oder die andernfalls wie manche Neubildungen von Prinzipien etwas Arbiträres und Voluntaristisches haben kann. Und natürlich kommt auch die philosophische Kritik am Prinzip nicht zu kurz, wie zum Beispiel die von Odo Marquard, wenn er ausführt, dass Prinzipien allzu leicht zu Weltabgewandheit führen; oder aber das große Thema der Duplizität und Heuchelei.

Aus der Kombination von universell und kontextualisiert, Emergenz und zeitlichem Primat, philosophischer Neubildung sowie Generativität und Handlungsorientierung ergibt sich ein erster Fokus auf die frühe griechische Philosophie, auf das erste philosophische Fragment, das uns vorliegt, auf den Spruch des Anaximander und das in ihm ausgeführte Prinzip des Unbegrenzten. In einer erweiternden Bewegung kann das Apeiron als eine Ausformung des Prinzips Fiktion gefasst werden, das noch weiter akzentuiert und zudem de-eurozentrisiert werden kann durch die Folie des in xochitl in cuicatl in der aztekischen Philosophie, dem Prinzip Fiktion der mexikanischen Nahua und seinem Verhältnis zum Weltprozess des teotl.

Fiktion als Prinzip ist ein erstes Prinzip. Als nicht-eurozentristisches ermöglicht es eine irenische Beiordnung, eine Konjunktion seiner Ausformungen in der Weltgeschichte. Zunächst ist es epistemisch, hat in seinen unterschiedlichen Kontexten doch auch immer wieder einen generativen Aspekt: aus dem Apeiron gehen die messbaren Dinge hervor, der Weltprozess teotl ist schöpferisch tätig mittels in xochitl in cuicatl. Durch den Zusammenhang von Kosmos und Politik erschafft das Prinzip Fiktion politische Gemeinschaften und verortet sie kosmopolitisch.

Gleichzeitig hat das Prinzip Fiktion auch einen auflösenden Effekt. Politische genauso wie lebenspraktische Strukturen können in ihrer Geltung durch die Befragung nach Fiktionalität eingeklammert und überprüft und eventuell am Ende sogar aufgelöst werden.

Die Handlungsorientierung durch das Prinzip Fiktion ist also epistemisch: politische Entitäten entstehen durch Fiktion, politischer Widerstand braucht Fiktion, wo repressive Narrative politische Akteure unbewusst einschränken, können sich die Akteure selbst durch Aufklärung und epistemische Rekonstitution emanzipieren. Doch wird eben ein repressives Narrativ nicht aufgelöst durch einen Aufweis seiner Fiktionalität.

Die Handlungsorientierung durch das Prinzip Fiktion ist zudem generativ: so sich das Prinzip Fiktion kosmopolitisch als ein generatives Prinzip erweist, ist das Akzeptieren des kosmologischen Aspekts ein Akzeptieren des Weltprozesses. Die Handlungsorientierung ist dann, nicht dem Weltprozess entgegenzustehen, sondern sich selbst und unsere politischen Entitäten als einen Teil des Weltprozesses zu begreifen und danach zu handeln und sie danach zu formen.

Und in generativer Perspektive ist der Weltprozess wiederum auszuformulieren als zwei weitere Prinzipien. Prinzip Erde und Prinzip Sonne.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership