Erste Prinzipien

Elon Musk, First-Principles-Thinking und Philosophie

Jörg Ossenkopp
8 min readJun 25, 2022

Erste Prinzipien, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, haben etwas Verdoppeltes, sind als Bezeichnung ein klein wenig tautologisch. Prinzip ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen und principium muss des öfteren mit Anfang oder Ursprung übersetzt werden. Insofern gibt es aus der Wortherkunft her eine gewisse Bedeutungsnähe zwischen Prinzipien und den Anfängen. Und etwas Erstes steht in einer zählbaren Reihe ganz am Anfang, dementsprechend stehen dort auch erste Prinzipien. Darauffolgende Prinzipien sind dann nicht mehr so richtig Prinzipien, wenn sie nicht mehr an einem Anfang stehen. Oder eben sie gelten als Prinzipien zu einem spezifischen Prinzipiiertem, das dann erwähnt werden sollte.

Ein Beispiel. Das Prinzip der Meinungsfreiheit ist ein erstes Prinzip nur für eine politische Öffentlichkeit, und „erstes Prinzip“ erscheint hier schon als eine leicht schräge Bezeichnung: wenn überhaupt passend, dann darin eher auf ein Beschreiben der Wichtigkeit abzielend. Das nachgestellte Genitivattribut Meinungsfreiheit fungiert als eine Qualifizierung des Prinzips, durch die gleichzeitig das Prinzipiierte näher bestimmt wird.

Erste Prinzipien ohne solch Genitivattribut sind entweder potenziell universelle Prinzipien oder aber ihr Gültigkeitsbereich bleibt zunächst implizit. Ersteres ist zumeist in der philosophischen Tradition der Fall. Heraklits Prinzip Feuer zum Beispiel ist ein universelles erstes Prinzip.

Zweiteres ist der Fall bei einer Variante, die heutzutage häufiger auf Twitter zu finden ist, zudem sogar im Wirtschaftslexikon von Gabler: dem First-Principles-Thinking. Das First-Principles-Thinking wird als Denkweise empfohlen, als Innovations-Methode. Das große Vorbild dafür ist Elon Musk und die Entstehungsgeschichte seiner Raketenfirma SpaceX. Musk, Bachelor der Volkswirtschaftslehre und Physik, erzählt folgendes:

„I tend to approach things from a physics framework. And physics teaches you to reason from first principles rather than by analogy. So I said, OK, let’s look at the first principles. What is a rocket made of? Aerospace-grade aluminum alloys, plus some titanium, copper, and carbon fiber. And then I asked, what is the value of those materials on the commodity market? It turned out that the materials cost of a rocket was around 2 percent of the typical price — which is a crazy ratio for a large mechanical product.“

Elon Musk stilisiert sich hier als einen Proponenten des First-Principles-Thinking. Den Kontext des Zitats liefert seine Idee, dass Menschen den Mars kolonisieren werden. Für Musk ist das kein philanthropisches Unternehmen, auch kein nationales oder internationales, sondern ein geschäftliches. Geschäftliche Unternehmungen bringen eine Form der Effizienz mit sich, die andere Arten der Unternehmung nicht aufweisen. Wenn Musk angibt, er geht die Dinge mit einer Denkweise an, die von der Physik inspiriert ist, sind die Dinge, die er derart angeht dennoch wirtschaftliche und unternehmerische. Musk sagt zwar, dass die Physik eine Denkweise lehre, die von ersten Prinzipien ausgeht anstelle mit Analogien zu beginnen, doch ist seine derart charakterisierte Herangehensweise an unternehmerische Fragen natürlich ganz genau eine Analogie, eben aus der Physik. Und streng genommen sind Aluminiumverbindungen und Karbonfasern keine Gegenstände der Physik, sondern sind chemische Verbindungen, Gegenstände der Chemie. Streng genommen wäre darüber hinaus ein Erste-Prinzipien-Ansatz aus der Physik ein Ansatz, der nichts Empirisches wie Raketen oder Rohstoffpreise berücksichtigt, sondern nur von Definitionen und physikalischen Konstanten ausgeht, um zu einem Ergebnis zu kommen.

A Rocket by Leon Battista Alberti, by Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Doch die Begrifflichkeiten des First-Principle-Thinking können ungenau oder widersprüchlich sein, solange sie dennoch einen heuristischen oder praktischen Wert haben. Wittgenstein kritisierte auch die “Principia Mathematica” von Russell und Whitehead mit einem Hinweis auf das Primat der Praxis.

Gleichzeitig kann man bei dieser Häufung von Ungereimtheiten doch auch noch einmal die Rhetorik des First-Principles-Thinking untersuchen.

Man kann also zwei Fragen stellen: was ist der praktische, heuristische Wert des First-Principles-Thinking? Und: Was wird darin herausgestellt, was wird darin verdeckt?

Was wird in Musks Spielart des First-Principles-Thinking verdeckt?

  1. Die Thematisierung von Ökonomischem in physikalischen Termini verdeckt dessen soziale und politische Aspekte. Physik ist eine Frage von Definitionen, Konstanten, Berechnungen, Messungen, Experimenten und Versuchsanlagen. In der Ökonomie gibt es auch Modellierungen, Kosten- und Ertragsprojektionen, doch haben diese weniger Vorhersagekraft aufgrund der extremen Multikausalität ökonomischer Dinge. Dass ein Aktienkurs einer Firma um 12% stürzt, weil der Gründer dieser Firma einen skeptischen Tweet veröffentlicht, das ist nicht modellierbar. Man kann die Frage nach Werten in der Physik stellen, die über die reine Messbarkeit hinaus gehen, in die Richtung des Sozialen und Politischen gehen. Wahrheit, Replizierbarkeit, Eleganz, Effizienz, Holismus sind wohl solcherart Werte, die in der Physik implizit oder explizit die wichtigsten sind. Es ist jedoch fraglich, ob diese Frage überhaupt noch in den Bereich der Physik gehört (eher vielleicht der Wissenschaftstheorie, ein Vorläufer dessen wird unten vorgestellt). Wertdiskussionen gehören dagegen ganz sicher in die Ökonomie, das wiederum wird durch eine Orientierung auf die Physik verdeckt.
  2. Ein eminent sozialer Aspekt, der durch physikalisch inspiriertes First-Principle-Thinking verdeckt wird, ist die Rolle von Arbeit und Kollaboration. Implizit bleibt dieser Spielart, die nur Grundmaterialien und deren Kosten thematisiert, die schweigende Voraussetzung, Arbeitskraft so niedrig einzukaufen wie nur irgend möglich, darin besteht das am meisten anzustrebende Kriterium. First-Principle-Thinking ist die Antwort auf die Frage nach Musks “Genie”. Der Anteil derjenigen am Unternehmenserfolg, die für ihn arbeiten, wird in dem Kurzschluss von Aluminiumbestandteilen auf Musks “Genie” verdeckt. Dieses „Genie“ wiederum wird als wichtiges Marketing-Tool eingesetzt, um sich von anderen Firmen im Wettbewerb um die talentiertesten Mitarbeiter abzuheben.
  3. Denken ist etwas, das gleichzeitig ein wenig elitär und demokratisch ist. Es ist elitär, weil zumeist nur das Denken überhaupt thematisiert wird von kulturell und gesellschaftlich erfolgreichen Menschen, die zudem genug Muße haben. Das Denken der Armen, der Migranten, der Kranken wird oft absichtlich übersehen. Während jedes Denken für sich selbst zunächst sehr individuell ist, ist eine Denkmethode oder eine Denkweise tendenziell demokratisch. Jeder denkt, mit mehr oder weniger Erfolg. Eine Denkweise oder Denkmethode ist eine Vergemeinschaftung des Denkens, und darin zunächst demokratisch. Wenn Musk seine Denkweise öffentlich beschreibt, ist das eine Vergemeinschaftung. Musks Denkweise ist besonders interessant aufgrund seines gesellschaftlichen Erfolgs. Diese Vergemeinschaftung ist letztlich aber wieder auf seine eigenen Firmen beschränkt, auf eine Ausrichtung des Denkens seiner Mitarbeiter. Denn Musk verdeckt, dass sein First-Principles-Thinking basiert auf seinem Millionen-Erbe und seiner darauffolgenden darauf aufbauenden weiteren Vervielfachung seines Erbes. Sein First-Principles-Thinking ist das eines Investors, mit großen monetären Anfangshürden, die aber verdeckt werden. Musk als Investor versucht, sich weitere Bereiche der Erde und des Kosmos zu erschließen, die bisher nicht oder kaum monetarisiert wurden. Der Weltraum ist noch sehr viel intensiver monetarisierbar als bisher, und der Mars ist noch gar nicht monetarisiert. Vielleicht ist das zu offensichtlich: Eine Marskolonie ist eine futuristische Analogie zum Kolonialismus.
  4. Wenn man versucht in die konzeptuellen Details des Muskschen First-Principle-Thinking tiefer einzudringen, lösen sich dessen erste Prinzipien wie gesehen unter der Hand auf. Was sind Musks erste Prinzipien? Es sind nicht die physikalischen Definitionen und Konstanten des klassischen physikalischen First-Principles-Ansatzes. Es sind auch nicht die Grundbestandteile von Raketen, Aluminiumverbindungen, Karbon, Titan usw. allein. Es scheint die Verbindung von Preis und Grundbestandteilen zu sein, aber da fällt es dann schwer auszuformulieren, was an dieser Verbindung überhaupt prinzipienhaft ist. Die ersten Prinzipien selbst werden also verdeckt.

Damit wird die Frage nach dem praktischen Wert des First-Principles-Thinking umso spannender.

Was ist der praktische Wert des First-Principles-Thinking?

An anderer Stelle geht Elon Musk noch einmal auf Prinzipien ein:

„I do kinda feel like my head is full! My context switching penalty is high and my process isolation is not what it used to be.

Frankly, though, I think most people can learn a lot more than they think they can. They sell themselves short without trying.

One bit of advice: it is important to view knowledge as sort of a semantic tree — make sure you understand the fundamental principles, ie the trunk and big branches, before you get into the leaves/details or there is nothing for them to hang on to.“

Fundamentale Prinzipien sind ersten Prinzipien sehr ähnlich. Fundamentale Prinzipien sind zwar im Fundament angesiedelt, mit dem ein Haus unten als erstes angefangen wird zu bauen, und erste Prinzipien können auch auf einem Zeitstrahl von links nach rechts ganz links angeordnet sein, oder sogar oben, dennoch sind fundamentale und erste Prinzipien eng verschwistert.

Das Bild, das Musk benutzt, das Bild des semantischen Baums, ist ein sehr altes philosophisches. In der philosophischen Tradition ist sein Name Porphyrischer Baum, oder arbor scientiae im Mittelalter bei Ramon Llull.

Wenn man das First-Principle-Thinking aus der Box der Physik befreit und es in einem philosophischen Kontext betrachtet, wird vieles einfacher und klarer.

Das First-Principle-Thinking hilft in einem Kontext von Philosophie als Lebensform, besser damit klar zu kommen, wenn einem schwindlig ist, weil einem “der Kopf voll ist”. Denken fällt einfacher, wenn man weniger den eigenen Kontext wechseln muss, die “context switching penalty” vermeiden kann. Denken fällt auch einfacher, wenn man sich konzentrieren kann, Musk nennt das “process isolation”.

Hier verdeckt Musk keine Zugangsbeschränkungen in Millionenhöhe. Er spielt auf alte aufklärerische Themen von Descartes und Kant an, die meisten Leute können mehr lernen als sie denken, sapere aude! Wenn man viel lernen will, wie Musk, hilft ein “semantic tree”, weil er durch seine Ordnungs- und Einordnungskraft Details/Baumblätter gruppiert, voneinander abgrenzt und überhaupt stabilisiert. Ohne dies würden die Blätter/Details ungeordnet ihre Position nicht halten können, “or there is nothing for [the leaves/details] to hang on to”.

Traditionell werden die Prinzipien mit den Wurzeln des Baumes gleichgesetzt, hier wirkt Musk etwas hastig oder zumindest unkonventionell, wenn er meint, der Baumstamm oder gar die Äste hätten die Funktion von fundamentalen Prinzipien.

Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c9/Arbor-scientiae.png

Beim arbor scientiae von Ramon Llull sind dessen Wurzeln (radices) als Prinzipien zumeist Werte: Güte (oben links, abgekürzt als “bonit”), Größe (“mag”), Dauer (“dura”), Macht (“potes”), Weisheit (“sapia”), Wahrheit (“verit”) usw.

Auch diese Werte-Orientiertheit des traditionell philosophischen First-Principle-Thinking wird von Elon Musk nicht mehr mitgemacht. Ihm geht es nur ums Funktionieren. Warum er die Dinge macht, die er macht, scheint er nicht zu thematisieren oder zu hinterfragen. Eventuelle Selbstwidersprüche, die sich erst dadurch offenlegen ließen, die interessieren ihn nicht mehr, es geht ihm nicht um Konsistenz, erst recht nicht um Werte-Konsistenz. Er versteht sich selbst als Denk-Maschine, deren Prozesse sich voneinander trennen lassen sollen und die schnell und effektiv funktionieren soll.

Ausblick

Heute wissen wir mehr über Bäume als im Mittelalter, der Metaphernraum hat sich für uns signifikant erweitert. Wir wissen, dass Bäume an den Wurzeln nicht aufhören, dass sie Symbiosen eingehen über das Erdreich mit dem Myzel von Pilzen. Das wäre dann die subversive Radikalisierung der fundamentalen Prinzipien im arbor scientiae: nicht die Wurzeln sind erste Prinzipien, auch nicht Heideggers Wurzelboden, sondern Erde, das Prinzip Erde, ist vorher, ist also eher ein erstes Prinzip.

Mycelium by Albrecht Dürer, by Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Genauso in einer weitergehenden Umkehrung das Prinzip Sonne, dem die Wurzeln die Nährstoffe entgegen bringen, um in den Blättern in der Photosynthese zu Energie umgewandelt werden. Ein Baum streckt sich zwischen Erde und Sonne. Beide sind als erste Prinzipien in ihrer Geltung weiter auszuarbeiten.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership