Prinzipien und Prinzipiiertes

Jörg Ossenkopp
5 min readJun 8, 2022

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Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Hält man sich in einer Zeitenwende zu sehr an der Gegenwart fest, gerät man in eine Taumelbewegung, eine Vertigo oder gar einen Vortex. Greift man dieser Tage voraus in die Zukunft, scheint die Denkfigur der Apokalypse sehr naheliegend zu sein: Klimakatastrophen, Versorgungsengpässe, Hungersnöte, Verabschiedung von Regeln in der Weltpolitik, multiple Pandemien, Extinction Rebellion, ein dritter atomarer Weltkrieg drängen sich auf und verdichten sich zu einer apokalyptischen Figur.

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Es ist durchaus vorstellbar, dass auch diese Apokalyptik resultiert aus dem Taumel der Zeitenwende. Denn Philosophie ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst“, Apokalypse ist eine geschichtsphilosophische Denkfigur. Zu denken „das Ende ist gekommen“ muss nicht unbedingt ein religiöser Denkakt sein, es kann auch ein philosophischer Akt sein.

Apokalyptik und Drastik gehen Hand in Hand, und letztere ist eventuell nötig, um einen aus dem Schlummer der unpolitischen Untätigkeit aufzuwecken. Doch vielleicht ist es eher so, dass es vor allem Freude braucht, um eine nachhaltige Handlungsfähigkeit zu erlangen.

Wenn jedoch weder ein Verbleiben in der Gegenwart noch ein Vorgriff auf die Zukunft wirklich nachhaltig sind, so gilt es, die Vergangenheit mit in den Fokus zu nehmen. Dabei geht es dann natürlich nicht um eine Einbeziehung der Vergangenheit zum Beispiel im Sinne des Historismus, dem es immer nur um ein möglichst internes Verständnis einer Epoche zwischen zwei Zeitenwenden geht. Solcherart Historismus dient vor allem als Eskapismus oder als Selbststilisierung.

Auch Santayanas Diktum “Those who cannot remember the past are condemned to repeat it”, vielleicht das inoffizielle Motto der modernen Geschichtswissenschaft, kann nicht als Richtschnur für die gesuchte Art der Einbeziehung der Vergangenheit gelten. Wenn in einer Zeitenwende sogar Verifikationsstile in Frage stehen können, kann die Vergangenheit als solche inkommensurabel werden mit der Gegenwart oder dann der Zukunft, unzugänglich für ein Verständnis aus dem jeweilig Heutigen.

Sogar Foucaults Genealogie oder Geschichte der Gegenwart, die gegenwärtig selbstverständlich erscheinende Zwänge und Machtverhältnisse durch die historische Rückführung als kontingent oder sogar absurd verstehen lässt, ist hier vielleicht nicht einschlägig. Obwohl die Idee einer Änderung von Verifikationsstilen oder -praktiken natürlich sehr von Foucault inspiriert ist. Dennoch, die Geschichte der Gegenwart umfasst eben nicht unbedingt die Zukunft.

Kurzum, die Idee von Martin Gessmann, „dass mit der heute beschworenen Zeitenwende zu allererst eine Prinzipienwende einhergeht“ muss noch einmal ein wenig gedreht werden: in einer Zeitenwende gilt es, sich allererst Prinzipien zuzuwenden. Nicht nur als politische Gemeinschaft, sondern genauso in einer Philosophie als Lebensform.

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Anders als die Vergangenheit selbst, die unzugänglich werden kann nach einer Zeitenwende, bedeuten Prinzipien zwar einen Rückgriff auf die Vergangenheit — wobei sich das noch deutlicher zeigt in der griechischen Philosophietradition, in der das griechische arché gleichzeitig mit Prinzip und Anfang übersetzt werden kann. Dennoch haben Prinzipien als Handlungsanleitung immer sowohl einen Gegenwartsbezug als auch einen Zukunftsbezug.

Klar wird das an jenem alten Begriffspaar von principium und principiatum, Prinzip und Prinzipiiertem. Beide sind komplementär, das Prinzipiierte ist das spätere Gegenüber des Prinzips, zu dem das Prinzip eben vorgängiges Prinzip ist. Im Detail kann dieses Verhältnis ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. Das Prinzip zum Beispiel der Meinungsfreiheit hat als Prinzipiiertes einen entsprechend geregelten öffentlichen Diskurs und eigene Sprechgewohnheiten der Sprecher*innen. Das erste Prinzip des Heraklit, das Feuer, hat als Prinzipiatum einen auf Feuer basierenden Weltenbau.

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Traditionell gilt das Prinzip als das Vorrangige und als das das Prinzipiatum bewirkende, in einer Art Schema, welches darin Ursache und Wirkung gleicht. Meister Eckhart interpretierte den Schöpungsakt Gottes explizit in den Termini von principium und principiatum. In seiner Auslegung des Johannes-Evangeliums konstatiert er jedoch ein Wechselverhältnis zwischen den beiden. Wenn die herkömmliche metaphysische Sicht des Verhältnisses von Prinzip und Prinzipiatum war, dass das ersteres letzteres erzeugt, so wie die Ursache die Wirkung, so modifiziert Meister Eckhart dieses Verhältnis nun in seiner Bibelexegese. Er betont: Indem das Prinzipiatum ein Prinzipiatum für ein bestimmtes Prinzip ist, konstituiert es dieses allererst als ein Prinzip. Ohne Prinzipiatum kein Prinzip. Mit anderen Worten: Das Prinzip setzt das Prinzipiatum, das Prinzipiatum setzt aber auch das Prinzip. Die beiden setzen einander.

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Für den Leser von Meister Eckhart hat das etwas Überraschendes, immerhin ist Gott hier das Prinzip und die gesamte Schöpfung das Prinzipiatum. Meister Eckhart meinte also, dass die Schöpfung ihrerseits Gott setzt, so wie Gott in seinem Schöpfungsakt seinerseits die Welt setzte. Obwohl das Prinzip dem Prinzipiatum vorgängig ist, wird nicht nur das Prinzipiatum durch das Prinzip gesetzt, sondern auch umgekehrt. Das ist ein Gedanke, der es verdient, noch mehr durchdacht zu werden.

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Ausgehend von der Intuition, dass sowohl ein Fokus auf die Gegenwart als auch das Miteinbeziehen der Zukunft in einer Zeitenwende defizitär bleiben, Vertigo oder Überspannung zur Folge haben, erweist sich die philosophische Figur von Prinzip und Prinzipiatum als eine, der sich zuzuwenden lohnt. Das Prinzip ist assoziiert mit der Vergangenheit, das Prinzipiierte ist das, was aus dem vorgängigen Prinzip folgt. Wenn sich in der Zeitenwende auch Verifikationsstile ändern, muss die genaue Spielart des Verhältnisses von Prinzip und Prinzipiiertem eventuell neu verhandelt werden, doch geht das auch iterativ, und abgesehen davon bleibt das Grundverhältnis bestehen. Wenn Prinzip und Prinzipiiertes sich gegenseitig setzen, so heißt das auch, dass man das Prinzip eventuell anders auffassen muss, wenn sich Änderungen im Prinzipiierten ergeben. Diese Neuverhandlungen betreffen dann potentiell Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, weil alle von jenem Verhältnis umfasst werden. Darin bestünde schließlich eine weitere Lesart, wie eine Zeitenwende zusammenhängen könnte mit einer Prinzipienwende.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership