Philosophie als Freude an der Erde

Jörg Ossenkopp
4 min readMay 31, 2022

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“The intelligence can only be led by desire. For there to be desire, there must be pleasure and joy in the work. The intelligence only grows and bears fruit in joy. The joy of learning is as indispensable in study as breathing is in running.” Simone Weil (1959)

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Es gibt ein altes Verständnis von Philosophie als Sich-Wundern, thaumazein, das mindestens bis auf Platon zurückgeht. Üblicherweise wundert man sich über Neues, oder über etwas, das man zwar wahrnimmt oder auf das es zwar möglich ist, seine Aufmerksamkeit zu richten, das man jedoch nicht versteht. Oder aber man schafft es, etwas Gewöhnliches und vorher eigentlich gut Verstandenes in einem neuen Licht zu sehen, in einem verändertem Kontext, der ein neues, noch nicht erreichtes Verständnis erfordert, der das Altbekannte wieder ein wenig verrätselt.

Das Rätselhafte und Wunderbare ist ein enger Verwandter des Freudevollen. Das Sich-Wundern ist die Grundlage dafür, sich an der Erde zu erfreuen. Zu sehr ist die Erde in ihrer Eigenschaft als unsere alltägliche Umgebung für uns unsichtbar. Somit ist das Sich-Wundern hier die Grundlage ästhetischer Erfahrung. Die beiden bekannten ästhetischen Kategorien sind das Naturschöne und das Erhabene. Das Naturschöne ist die Blume, das Federkleid des Paradiesvogels, der Palmenstrand. Das Erhabene ist der Sprung des Tigers, das zerklüftete Bergpanorama, die gischtigen Sturmwellen, die an Felsen hoch schlagen. Weniger offensichtliche ästhetische Kategorien sind wohl die Freude an der Produktionskraft der Erde, die Freude an einem Obstgarten oder einem Feld voll Weizen, sowie die Freude an der gemeinschaftlichen Regelmäßigkeit und Ähnlichkeit aller Erdphänomene, lebend oder nicht (oder die inverse Freude, der Schauder des Andersartigen). Ich freue mich, wenn ich einen Vogel singen höre, weil er auf eine mir nicht verständliche Art und Weise mit seinen Artgenossen kommuniziert, und ich ihn dennoch höre, Kadenzen, Tonfolgen, Lauststärkenvariationen. Ich freue mich an der Abfolge der Jahreszeiten, den damit einhergehenden Veränderungen und an der Erwartung kommender Veränderungen. Diese vier Aspekte wären es, die die Freude an der Erde ausmachen: das Naturschöne, das Erhabene, das Produktive und das heterogen Gemeinschaftliche jener, die Naturgesetze gleichzeitig befolgen und sie kreativ nutzen.

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Philosophieren als Sich-an-der-Erde-erfreuen, das hat einen praktischen Aspekt und einen interpretativen. Letzterer fächerte sich auf in die vier Kategorien des Naturschönen, Erhabenen, Produktiven und Gemeinschaftlichen. Ersterer, der praktische Aspekt liegt im Aufsuchen dieser Phänomene, im Sich-wieder-neu-Wundern, im darüber Nachdenken, in den Versuchen der Kategorisierung, in den Versuchen, sich selbst und seine auch ganz alltäglichen Handlungen damit in Verbindung zu bringen, das eigene Leben danach auszurichten und zudem die sozialen, politischen und ökosystemischen Gemeinschaften, deren Teil man ist.

Das Naturschöne der Erde zeigt sich auch im größten Maßstab, dem Blick aus dem Orbit. Das Blauweiße der Erdkugel wird als schön empfunden, so schön dass es einen eigenen Namen für den Effekt dieser Schönheit gibt, den Overview-Effekt. So schön, dass das das Leben ändern kann, nach einer Konversion verlangen kann. Aber natürlich ist eine Schneeflocke auch schön.

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Immanuel Kant ist nicht nur einer der wichtigsten Theoretiker des Naturschönen, sondern auch des Erhabenen. Im größten Maßstab ist der Erdglobus wie er nur von Gravitation in seiner Bahn gehalten wird, nicht nur schön, sondern auch erhaben. Erhabenheit liegt in der Größe und in der Schrecklichkeit. Die blaue Kugel vor dem schwarzen kalten Sternenabgrund hat natürlich auch etwas Schreckliches, nicht zuletzt deshalb, weil sie so verletzlich erscheint.

Auch das Produktive wiederum sieht man inzwischen aus dem Orbit, insbesondere auf der Nachtseite erleuchten die Lichter der Städte die dunkle Halbkugel, als Zeichen und Konzentrationspunkte der menschlichen Produktivität. Produktivität schlägt dieser Tage unerfreulich leicht um in Zerstörung. Aber natürlich sind auch Biberdämme, Bienenstöcke und Bisonherden Zeichen jener Produktivität, die uns erfreut. Teil dieser Spielart der Freude an der Erde ist die Nützlichkeit des Produktiven, das hebt sie ab von der reinen Schönheit und der unzugänglichen Erhabenheit.

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Das Gemeinschaftliche schließlich ist auch unauflöslich gekennzeichnet durch Heterogenität, deshalb ist sie nicht so einfach zu erkennen. Am Einfachsten ist dies tatsächlich zu sehen wiederum aus dem Weltraum. Die Erdkugel ist die visuelle Klammer um diese Gemeinschaft, die durch diese spezifische Mischung der Naturkräfte erzeugt wird. Die Erdkugel erzeugt durch ihre Größe und Gravitation sowie durch die Form ihrer Umlaufbahn um die Sonne und die Entfernung zu ihr ganz bestimmte, recht konstante Wertebereiche, untere und obere Schwellenwerte der vier physikalischen Grundkräfte, die wir alle teilen und die uns alle zu dem gemacht haben, was wir sind. Wie ein Fisch durch das Wasser schwimmt, wie ein Vogel durch die Luft fliegt, wie ein Maulwurf sich in der Erde bewegt, vielleicht sogar wie Schwefelbakterien in der Nähe von Vulkanen leben, wie ein Eichhörnchen Beine und fünffingrige Krallen hat wie wir und uns sich am Baum festhaltend anschaut, über all das sich zu wundern und nachzudenken, das ist Quelle der Freude an der Erde.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership