Philosophie und Zeitenwende

Jörg Ossenkopp
5 min readMay 29, 2022

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Stable Diffusion [CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication]

Eine Zeitenwende ist schwer zu erfassen. Wenn unsere Zeit die Form einer Zeitenwende hat, ist das dieser Tage nur schwer zu verifizieren. Mehr noch: je mehr Zeitenwende, desto schwieriger wird alles Verifizieren. Denn in einer Zeitenwende lösen sich alte Gewissheiten auf und vorher viel genutzte Interpretationsschemata werden fragwürdig. In einer Zeitenwende verändern sich vielleicht sogar Wahrheitskriterien oder Wahrheitspraktiken, die Art und Weise des Verifizierens. An der Zeitenwende zum Beispiel vom Mittelalter zur Neuzeit kann man solch eine Veränderung mit dem Aufstieg der mathematisch verifizierenden Naturwissenschaften sehen. Daher wird eine Zeitenwende zumeist im Nachhinein verifiziert, mit historischen Mitteln und mit deren Einschränkungen (historische Verifikation kommt eher Urkunden und Dokumenten zu als einem historischen Narrativ).

Die Drehung, die den zweiten Teil des Kompositworts Zeitenwende ausmacht, die Wende, impliziert auch das Wegfallen einer festen Bodenhaftung, den Übergang in eine unsanfte Drehbewegung, in der die Orientierung nicht fraglos gegeben ist. Das kann man interpretieren als einen Taumel oder als einen Schwindel. Doch ist das Ganze eben auch nicht nur eine Frage von Ästhetik oder Wahrnehmung. Eine Zeitenwende ist eine Zeit, in der viele Entscheidungen fallen, die danach kaum erneut umkehrbar sind und die darüber hinaus weitere Konsequenzenketten mit sich bringen, die dann noch mehr Veränderungen Schicht um Schicht aufeinander legen, bis sich dann irgendwann erneut ein fester Boden unter den Füßen gebildet hat.

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„Wir erleben eine Zeitenwende“ — die zwei Aspekte, die sich aus der Verbindung von Philosophie und Zeitenwende ergeben, ist dann einerseits die ethische Frage nach einem guten oder zumindest gelingendem Leben in der Zeitenwende sowie andererseits die politische Philosophie oder Geschichtsphilosophie, mithilfe derer man die Zeitenwende versteht und die ihrerseits durch die Zeitenwende verschoben werden. Das sind die beiden Aspekte, wenn es darum geht, dass Philosophie „die Zeit in Gedanken erfasst“ ist. Der Schwindel, der einen in einer Zeitenwende erfasst, ist eine ethisch-ästhetische Aufgabe, die für eine philosophische Lebensform zu lösen ist. Die Schwierigkeiten der Verifikation und des historischen Narrativs in einer Zeitenwende werden zu einer politischen Aufgabe einer Geschichtsphilosophie.

Beleuchtet man die Zeitenwende genauer, treten die Details heraus. Vor dem Hintergrund der planetenweiten Klimakrise, die auf einem extraktiven und nicht nachhaltigen Verhältnis zu allen Ökosystemen beruht, ist die erste globale Pandemie mit Covid-19 entstanden. Nicht nur Klimakrise, auch die Emanzipation von Sexismus und Rassismus haben zu Aktivisten-Bewegungen geführt, die alte repressive Strukturen erfolgreich hinterfragen und bereits zu neuer befreiender Vielfalt führten. Die vormals vorherrschende Art und Weise der Informationsverteilung der unidirektionalen Broadcast-Kanäle des staatlichen und privaten TV und Rundfunks wurde im surveillance capitalism abgelöst vom multidirektionalen Multicast in sozialen Netzwerken in Kombination mit digitalem Monitoring mittels Big-Data-Technologien. Dies führte zu einer Krise der Verifikation, die von unterschiedlicher Seite ausgenutzt wurde. Unter anderem konnten dadurch wissenschaftsskeptische Zweifel an medizinischer Forschung und ihren Ergebnissen gesät werden, mit nicht unbeträchtlichen politischen destabilisierenden Konsequenzen. Das politische Primat der Wirtschaft hat wiederum zwar für wirtschaftliche Erfolge gesorgt, jedoch auf Kosten einer Erschlaffung der politischen Fähigkeiten aller Akteure.

Der Russland-Ukraine-Krieg schließlich, der zu jener Einschätzung auch der deutschen Regierung führte, „wir erleben eine Zeitenwende“, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Die russische Regierung ist eine Expertokratie, die in einem surveillance capitalism herrscht, in dem Oligarchen sich riesige Yachten leisten und in der der breiten Bevölkerung Möglichkeiten der Verifikation weitgehend entzogen wurden. Russland strebt danach das extraktive Verhältnis zu den Ökosystemen zu erhalten, weil die eigene Wirtschaft vor allem auf Gas und Erdöl basiert.

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Emanzipative Bewegungen wurden im Keim erstickt. Im Primat der Wirtschaft wurden mit Russland Abhängigkeitsverhältnisse eingegangen, die politisch nachteilig sind, spätestens wenn Wirtschaft als Sanktion und damit als kriegerisches Mittel eingesetzt werden soll. Am Ende baut Russland auf einen hybriden Krieg, teils mit Waffen, teils mit Informationen, dessen zentraler Inhalt Atomwaffen sind, deren Informationsaspekt ausgereizt wird, in einem Tanz der Eskalation und Deeskalation der Drohung einer Atombombenexplosion, dessen Wirkung von den sozialen Netzwerken elektronisch verstärkt wird.

Der Taumel in der Zeitenwende rührt unter anderem daher, dass nun das Primat der Wirtschaft in Frage steht. Wirtschaft muss wenigstens nachhaltig und resilient gestaltet werden, die bisherige vor allem auf Gewinnmaximierung abzielende Form wird mit guten Gründen angezweifelt. Der wirtschaftliche Verteilungsmechanismus ist fragil geworden, bricht hier und da zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sogar zusammen. Der Taumel rührt auch daher, dass die bisherigen Verifikationsformen der Diskurse durch die sozialen Netzwerke aufgelöst werden. Hier geht es dann weniger um einen Verzicht, sondern um eine Reorganisation der sozialen Diskursformen, die auch wieder eine neue Sicht darauf erfordert, wie Wirtschaft funktioniert und wie sie reguliert werden kann. Zudem zeigen die neuen aktivistischen Emanzipationsformen zurecht auf, dass Wissenschaft und das gesamte Informationswesen durch strukturellen Rassismus, Sexismus, Klassismus sowie einen ideologischen Natur-Kultur-Gegensatz in ihrer Verifikationsfunktion beeinträchtigt war.

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Dieser Taumel, diese Vertigo wird schlimmer, je aufwändiger man versucht, in der Gegenwart Halt zu finden, weil ja gerade in der Gegenwart die Drehung stattfindet. Durch einen Vorgriff auf die Zukunft jedoch wird der Taumel reduziert. Bei Seekrankheit geht es auch darum, einen Punkt am entfernten Horizont zu fixieren, weil der sich nicht bewegt während alles andere schwankt. Dieser Tage nimmt ein Vorgriff auf die Zukunft zumeist die Form von Apokalyptik an. Das vereint gerade das breite Spektrum von Umweltaktivisten von Fridays for Future bis hin zum rechtsnationalen russischen Atombomben-Philosophen Alexander Dugin. Selbst Habermas spricht vom „Weltenbrand“, und Zizek veröffentlicht Texte zu den apokalyptischen Reitern. Eine Zeitenwende besteht jedoch aus drei Elementen: erstens der sich drehenden Gegenwart, zweitens der zukünftigen Zeit als Ergebnis der Wendung und drittens der Vergangenheit, aus der das Momentum für die Drehung herrührt. Verbleibt man in der Gegenwart, wird man handlungsunfähig durch den Taumel. Greift man vor auf die Zukunft, verschwindet die Vertigo und man wird zwar handlungsfähig, doch immer an der Grenze zur Verzweiflung angesichts des drohenden Totalzusammenbruchs. Eine Perspektivenverzerrung droht bei einer Verkürzung auf Gegenwart und Zukunft. Den gesamten Skopus erfasst man mit einer Perspektive, die nicht nur Gegenwart und Zukunft erfasst, sondern auch die Vergangenheit. Wenn Philosophie „ihre Zeit in Gedanken gefasst“ ist, und die Form unserer Zeit die Zeitenwende ist, so geht es darum, weder nur in der Gegenwart und ihrem Taumel zu verbleiben noch sich auf die Zukunft mit einer Tendenz zur Apokalyptik den Fokus zu setzen, sondern es geht darum, die eigenen Prinzipien sowie deren Prinzipiatum zu thematisieren. So meinte Martin Gessmann in einer kürzlichen erschienenen Veröffentlichung zu den philosophischen Aspekten der Zeitenwende: „Als Fazit bleibt die Einsicht, dass mit der heute beschworenen Zeitenwende zu allererst eine Prinzipienwende einhergeht.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership