Leistungselektronik macht Elektrizität zur flexiblen Universal-Energie

R Schleicher-Tappeser
17 min readSep 17, 2023

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Technikgeschichte — Die Entdeckung der Nanowelten ermöglicht eine erneuerbare Energieversorgung für Alle / Folge 15

IGBT (Insulated Gate Bipolar Transistor), 3300 V, 1200 A. 2005. WikiMedia

Die Bedeutung der Leistungselektronik für den Umbau des Energiesystems wird massiv unterschätzt. Sie ist dabei, unseren Umgang mit Strom grundlegend zu revolutionieren.

In der letzten Folge ging es darum, wie sich im Rahmen der Elektrotechnik mit zunehmendem Verständnis der Vorgänge auf der atomaren Ebene zunächst die „Elektronik” als von der Mechanik unabhängiges Gebiet etablierte, und sich dann die Leistungs-Elektronik langsam aus der Signal-Elektronik herausentwickelt hat. Genau wie die Photovoltaik wurde die moderne Leistungselektronik — die zweite zentrale Technologie für die Energiewende — erst mit der quantentheoretisch basierten Halbleitertechnik möglich und entwickelte sich wesentlich langsamer als die Signal-Elektronik, auf der die gesamte digitalisierte Informationsverarbeitung und Kommunikation aufbaut. Die Bedeutung der Leistungselektronik liegt erstens darin, dass sich damit die Kenngrößen elektrischer Energie fast beliebig dem jeweiligen Bedarf anpassen lassen. Zweitens wird es damit möglich, diese Kenngrößen mit geringem Aufwand digital über große Entfernungen und ohne Zeitverzug zu überwachen und zu steuern. Wie wir in der letzten Folge gesehen haben, waren die grundlegenden Technologien dafür ab den neunziger Jahren verfügbar.

In dieser Folge geht es nun darum, wie sich diese Neuerungen seither praktisch auswirken und welche Möglichkeiten sie eröffnen. Insbesondere seit der Jahrtausendwende hat die Entwicklung, Miniaturisierung und Verbreitung der Leistungselektronik eine atemberaubende Beschleunigung erfahren. Erzeugung, Transport, Speicherung und Nutzung von Strom werden dadurch wesentlich flexibler und effizienter. Damit wird Elektrizität zur flexiblen Universal-Energie.

Atemberaubende Beschleunigung der Entwicklung seit der Jahrtausendwende

Als erste Leistungs-Transistoren wurden 1969 die MOSFETs (Metalloxyd-Feldeffekt-Transistoren) erfunden — zwölf Jahre nach den allerersten Signal-Transistoren. Kommerziell wurden sie allerdings erst ab 1976 in größeren Stückzahlen verfügbar. Ihr Vorteil ist bis heute die hohe Schaltfrequenz von inzwischen mehreren Megahertz. 1984 wurde darauf aufbauend der heute weit verbreitete (insulated-gate bipolar transistor) entwickelt, der es erlaubt, deutlich höhere Ströme (bis 6000 A) und Spannungen (bis 6500 V) zu schalten, allerdings bei geringeren Frequenzen (inzwischen bis zu 120 kHz). Andere Spezialbauteile blieben weniger bedeutend.

Zunahme der Leistungsdichte in der Leistungselektronik © Texas Instruments

Nach einem langsamen Anlauf mit geringen Stückzahlen hat die Entwicklungsgeschwindigkeit vor allem seit der Jahrtausendwende gewaltig zugelegt. Nachdem ab den neunziger Jahren die grundlegenden Technologien zur Verfügung standen, sorgten Windkraftwerke, dezentrale Photovoltaikanlagen und Elektroautos für einen explodierenden Bedarf an anspruchsvoller Leistungselektronik in hohen Stückzahlen. Immer größere Summen werden in die Entwicklung gesteckt. Die Fertigungsverfahren werden mit immer neuen Fabriken laufend verbessert. Die Leistungsfähigkeit der Komponenten steigt, während die Stückkosten sinken. Zunehmend werden auch in der Leistungselektronik mehrere Funktionen in ein standardisiertes Bauteil integriert, während die Baugrößen sinken. Modularisierung und Standardisierung nehmen zu. Spezialbauteile werden durch programmierbare Standardkomponenten ersetzt — das erwies sich gerade auch bei Lieferschwierigkeiten während der Pandemie von Vorteil. In mancher Hinsicht ähnelt die Situation in der Leistungselektronik derjenigen in der Computerelektronik beim Aufkommen der Mikrochips in den achtziger Jahren. Ein Maß für die Entwicklungsfortschritte ist die Leistungsdichte, also die verarbeitbare Leistung pro Volumen. Seit Mitte der neunziger Jahre hat sie um den Faktor 1000 zugenommen (siehe Abbildung). Derartige Fortschritte konnte bisher nur die Mikroelektronik vorweisen.

Bei all diesen Bemühungen wurde deutlich, dass die Möglichkeiten der bisher verwendeten Silizium-Technologie weitgehend ausgereizt sind. Neue Halbleitermaterialien, wie vor allem Siliziumkarbid (SiC) und auch Gallium-Nitrid (GaN) gewinnen schnell Marktanteile. Siliziumkarbid — dessen Rohstoffe Silizium und Kohlenstoff in beliebiger Menge verfügbar sind — bietet wesentlich höhere Schaltfrequenzen, erträgt höhere Spannungen, hat geringere Verluste, hält höhere Temperaturen aus und leitet die Wärme besser ab als Silizium. Das schlägt sich nieder in deutlich geringeren Baugrößen, höheren Leistungsdichten, längeren Lebensdauern und ganz neuen konstruktiven Möglichkeiten. Allerdings kann man die Materialien nicht einfach austauschen: neue Bauteile und Schaltungen müssen entwickelt werden. Außerdem ist es notwendig, die — wesentlich schwierigere — Herstellung und Verarbeitung von hochreinen großen Siliziumkarbid-Kristallen, die fast so hart sind wie Diamant, ähnlich zu optimieren, wie man vor Jahrzehnten die Siliziumtechnik perfektioniert hat. Der Aufbau von neuen Fabriken für SiC-Komponenten und die Entwicklung immer weiter optimierter Schaltungen hat sich in letzter Zeit beschleunigt und lässt in allen Anwendungsgebieten der Leistungselektronik schnelle weitere Verbesserungen erwarten. Die Möglichkeiten auf allen Stufen vom Rohstoff bis zur elektronischen Anwendung sind noch lange nicht ausgereizt.

Neue Materialien (Gallium-Nitrid, Siliziumkarbid) weisen deutlich geringere Schaltungsverluste auf als Silizium (hier bei 400 V, 10 A, 110°C). Wegen des deutlich geringeren Kühlbedarfs sind damit wesentlich kleinere Baugrößen realisierbar . ©Texas Instruments

Noch bessere Eigenschaften als das sich schnell durchsetzende Siliziumkarbid hat Aluminium-Nitrid. Aber bis zur breiten Anwendung ist es noch ein weiter Weg: erst kürzlich ist die Herstellung kleiner Wafer gelungen.

Leistungselektronik revolutioniert die Strom-Erzeugung

Ohne die halbleiterbasierte Leistungselektronik wären die erneuerbaren Energien um ein Vielfaches teurer, ineffizienter und schwerer in ein Gesamtsystem zu integrieren.

Der Siegeszug der Windenergie wurde im Wesentlichen durch innovative Leistungselektronik möglich: Windturbinen werden heute mit variabler Drehzahl betrieben, oft sogar ohne Getriebe. Frequenz und Spannung des vom Generator erzeugten Stroms variieren, und müssen mit einem Umrichter an die Bedingungen des Netzes angepasst werden, in das die erzeugte Energie eingespeist werden soll. In der meist verwendeten Bauart wandelt der Umrichter den erzeugten Wechselstrom in Gleichstrom um und diesen dann wieder in Wechselstrom, der den Bedingungen des Netzes entspricht.

Entwicklung der Rolle der Leistungselektronik für Windturbinen. © Blaabjerg et al. 2023

Ähnlich werden Photovoltaik-Anlagen betrieben: sie erzeugen Gleichstrom, die mit einem Wechselrichter in Wechselstrom der Netzfrequenz umgewandelt wird. Neuere Wechselrichter ab einer bestimmten Größe müssen vielfältige zusätzliche Funktionen erfüllen. Sie müssen je nach wechselndem Belastungszustand des Netzes die Blindleistung (unerwünschte Phasenverschiebung zwischen Strom und Spannung beim Wechselstrom) regulieren, die Einspeiseleistung begrenzen oder die Frequenz auf Anforderung präzise regeln können. Auf diese Weise können sie Großkraftwerke als Netzstabilisatoren ersetzen. Es werden kleine, stabile und resiliente Mininetze (Microgrids) möglich, die, falls notwendig, auch unabhängig vom allgemeinen Versorgungsnetz funktionieren können.

Die Fähigkeit der Leistungselektronik, Strom fast beliebig zu transformieren, macht Energiequellen nutzbar, die bisher wegen Unregelmäßigkeit und schneller Variationen kaum zugänglich waren. Ein Beispiel dafür ist die Nutzung der Wellenenergie. So entwickelt zum Beispiel die Firma Ocean Harvesting ein System, bei dem Bojen, die sich mit den Wellen heben und senken, auf senkrechten Gewindestangen kugelgelagert rotierende Generatoren antreiben. Der erzeugte Strom, dessen Frequenz und Leistung mit dem Wellengang variieren, wird erst durch moderne Leistungselektronik effizient nutzbar. Die relativ kleinen Einzelsysteme können in Großserien produziert werden. Die Entwickler hoffen, auf diese Weise ein System zu schaffen, das billigeren Strom produzieren kann als Offshore-Windfarmen, pro Meeresfläche doppelt so viel Leistung bringt, weit weniger Material benötigt, einfacher zu warten ist und visuell nicht stört.

Ein weiteres Beispiel ist die fein steuerbare Energie-Rückgewinnung beim Bremsen von Fahrzeugen. Inzwischen ist die Technik so weit entwickelt, dass sie sogar in Elektro-Fahrrädern zum Einsatz kommt. Um in Elektroautos und Lastwagen fast die ganze Bremsenergie zurückzugewinnen, müssen kurzzeitig hohe Leistungen verarbeitet werden — da kommt es dann sehr auf das Gewicht der Elektronik an.

Leistungselektronik revolutioniert die Strom-Nutzung

Große Einsparungen und ganz neue Möglichkeiten bringt die Leistungselektronik auch auf der Verbrauchsseite.

Das betrifft zunächst alle Arten von Netzteilen, bei denen Strom aus dem Netz in Gleichstrom unterschiedlicher Spannung umgewandelt wird, vor allem für elektronische Anwendungen. In einem Smartphone, das ja heute die Rechenleistung eines Großrechners der siebziger Jahre hat, brauchen unterschiedliche Komponenten verschiedene Spannungen — die dafür notwendigen Wandler sind heute nur noch ein, zwei Millimeter groß.

Leistungselektronik im eigentlichen Sinn befasst sich nur mit der digital flexibel steuerbaren Umwandlung von Strom in Strom mit anderen Eigenschaften. Aber damit eröffnet sie ganz neue Möglichkeiten bei der nachfolgenden Umwandlung von Strom alle anderen Energieformen und oft auch wieder zurück:

  • Elektrizität ←→ mechanische Energie
  • Elektrizität ←→ Wärme
  • Elektrizität ←→ elektromagnetische Strahlung (von Radiowellen über sichtbares Licht bis hin zu Gammastrahlen)
  • Elektrizität ←→ chemische Energie

Für die eigentliche Umwandlung wurden und werden jeweils sehr unterschiedliche Technologien entwickelt. Fast allen gemeinsam ist jedoch, dass die Ansteuerung mit Leistungselektronik auf der elektrischen Seite für wesentlich höhere Effizienzen und Flexibilität sorgt und die Umwandlung oft überhaupt erst praktikabel macht.

Die schon in der letzten Folge beschriebenen frequenzgeregelten Elektromotorenerlauben eine verlustlose stufenlose Regelung der Drehzahl. Das bringt gegenüber dem früheren einfachen Ein- und Ausschalten erhebliche Effizienzgewinne. Von der Heizungspumpe über den Antrieb für Elektrofahrzeuge bis hin zu industriellen Großanlagen kann damit ein beträchtlicher Anteil des vorherigen Verbrauchs eingespart werden. Neue Heizungspumpen brauchen auf diese Weise nur noch etwa ein Zehntel des Stroms der alten Modelle. Das liegt zum einen am höheren Wirkungsgrad des Pumpenmotors, zum anderen an der sensorgesteuerten leistungsvariablen Regelung. Elektroautos hätten ohne Leistungselektronik nur einen Bruchteil der heutigen Reichweite.

Die Elektromobilität ist heute der stärkste Treiber für die Entwicklung der Leistungselektronik. Zwischen Ladestation, Batterie, Antrieb/Rekuperation, Hoch- und Niedervolt-Bordnetz und all den kleinen elektrischen Aggregaten im Fahrzeug wird eine große Zahl von Wandlern verbaut. Der Markt für Leistungselektronik in Fahrzeugen hat heute ein Volumen von gut 2,2 Mrd. $, und wächst Jährlich weit über 20% (Leistungselektronik insgesamt: ca. 43 Mrd, gut 8% p.a.). Die Innovationszyklen sind kurz. Die Investitionen in neue Technologien und neue Fabriken hoch.

Dank hochintegrierter Leistungselektronik und effizienten Motoren baut die Firma REE Fahrzeuge, bei denen Elektronik, Motor, Bremse und Steuerung im Einzelrad integriert sind.© REE

Außer Motoren und Generatoren gibt es an der Schnittstelle zwischen elektrischer und mechanischer Energie zudem eine Vielzahl von Spezialanwendungen, die erst durch Leistungselektronik möglich geworden sind: Linearmotoren, Drucksensoren, elektronische Waagen, elektronische Vibrationsdämpfer, Vibrationsschweißen, Ultraschall etc.

Die Verbindung von elektronischer Leistungssteuerung, hochempfindlichen Sensoren und digitaler Informationsverarbeitung erlaubt es technischen Systemen, „in Echtzeit” auf äußere Bedingungen zu reagieren: Roboter können nicht mehr nur vorprogrammierte Bewegungen abarbeiten, sondern auch rücksichtsvoll mit Menschen zusammenarbeiten — sie sind dabei, das Verhältnis von Mensch und Maschine in der Produktion noch einmal grundlegend zu verändern. Autonom fahrende Autos können sich bald selbständig im Verkehr bewegen — damit wird absehbar, dass die Nutzung autonomer Mietfahrzeuge, die fast rund um die Uhr im Einsatz sind, bald billiger wird, als ein eigenes Auto zu besitzen, das die meiste Zeit stillsteht. Neuartige Schiffe können auch bei Wellengang mit extrem schnell reagierenden Tragflügeln stabil, ruhig und hocheffizient über das Wasser gleiten — bald sollen sie in Stockholm den öffentlichen Nahverkehr revolutionieren.

An der Schnittstelle zwischen Strom und Wärme ist insbesondere das induktive Heizen bemerkenswert. Eine deutliche Einsparung im Haushalt bringen schnell regelbare Induktionskochfelder, bei denen kein Kochfeld mehr erhitzt werden muss, sondern die Wärme mit Hilfe eines hochfrequenten elektromagnetischen Felds direkt im ferromagnetischen Kochtopf-Boden erzeugt wird. Das Prinzip der induktiven Beheizung wird seit Langem in industriellen Prozessen verwendet und wird beim Ersetzen von Gas durch Strom massiv an Bedeutung gewinnen zumal mit der Leistungselektronik jetzt eine präzise und schnelle Regelung möglich ist. Noch weiter geht der Mikrowellen-Ofen, bei dem nicht das Gefäß, sondern die Speisen selber erhitzt werden, indem die darin befindlichen Wassermoleküle durch Mikrowellen geeigneter Wellenlänge in Schwingung versetzt werden.

Funktionsweise eines Induktions-Kochfelds. © Fraunhofer

Dabei sind wir schon bei der Umwandlung von Strom in elektromagnetische Strahlung. Einen riesigen Effizienzgewinn hat der Ersatz von Glühbirnen durch LEDs gebracht — die direkte Umwandlung von Elektrizität in Licht, anstelle des Umwegs über Wärme in der Glühbirne. In jeder LED-Birne, die man in traditionelle Wechselstromfassungen schrauben kann, sitzt ein winziger Stromwandler, der die eigentliche LED mit Niedervolt-Gleichstrom versorgt. Ohne Leistungselektronik wären LEDs, Laser, Mikrowellengeneratoren, moderne Röntgengeräte etc. nicht denkbar: überall wird Elektrizität in elektromagnetische Strahlung umgewandelt — versorgt und gesteuert durch Leistungselektronik. Auf die Umwandlung von Strom in Strahlung werden wir noch in einer gesonderten Folge eingehen. Und erst recht nicht möglich wäre die Technologie, die unseren Alltag in den letzten beiden Jahrzehnten vielleicht am meisten verändert hat: der Mobilfunk.

Schließlich ist Leistungselektronik auch immer mit im Spiel, wenn elektrische in chemische Energie verwandelt wird und umgekehrt. Bei der Speicherung von Strom in Batterien, bei der Herstellung von Aluminium, bei der Elektrolyse von Wasserstoff…

Leistungselektronik revolutioniert die Strom-Netze

Wie wir schon bei der Netzeinspeisung von Strom aus Windenergie und Photovoltaik und am Ende der letzten Folge bei den Transformatoren gesehen haben: Die Leistungselektronik mit ihren weitreichenden Möglichkeiten zur digitalen Steuerung und Veränderung der Kenngrößen von elektrischem Strom ist dabei, den Transport und die Verteilung von Strom und damit das weltumspannende Elektrizitätsnetz grundlegend zu transformieren. Stromversorgungsnetze sind die größten von Menschen je gebauten technischen Einrichtungen — entsprechend teuer ist ihr Umbau.

Elektrische Versorgungsnetze — auf die wir gegen Ende dieser Serie noch einmal in der Gesamtschau zurückkommen werden — verbinden eine wachsende Zahl verschiedener Stromquellen mit Milliarden von Stromverbrauchern. Wie wir gesehen haben, spielt Leistungselektronik bei der Einspeisung in die Netze und beim Anschluss von Verbrauchern eine wachsende Rolle. Das Netz selber hat die eng verknüpften Aufgaben, Elektrizität über größere Entfernungen verfügbar zu machen und in jedem Augenblick dafür zu sorgen, dass gleichviel Strom erzeugt wie verbraucht wird.

Früher wurde das (wie wir in Folge 12 gesehen haben) in Wechselstromnetzen mit passiven Transformatoren, die die Spannung für den effizienten Transport hinauf- und herabsetzen können, mit Fahrplänen für Großverbraucher, durch großzügige Auslegung der Leitungen für die Verbrauchsspitzen und über die Steuerung weniger Großkraftwerke erreicht.

IGBT-based HVDC Converter: Much more efficient and flexible than the previous version with thyristors.© TSCNET

Leistungselektronik in Kombination mit digitalen Informationsnetzen ermöglicht nun eine ungeheure Flexibilisierung des Systems, die herkömmliche Entscheidungsmechanismen und institutionelle Arrangements in Frage stellt: Sie erlaubt es, im Prinzip an allen Knotenpunkten des weitverzweigten Netzes Strom umzuwandeln, seine Eigenschaften zu messen und direkt oder ferngesteuert in weiten Bereichen zu steuern. Damit wird es möglich, Erzeugung, Transport und Verbrauch zeitlich und räumlich so zu steuern, dass das System sowohl im Millisekundenbereich als auch langfristig stabil bleibt und möglichst kostengünstig betrieben wird. Das Spektrum der dabei zu treffenden Entscheidungen reicht von kurzfristigen, automatisierten Schaltvorgängen und Spannungsanpassungen bis hin zu langfristigen politisch beeinflussten Investitionsentscheidungen. Im Mittelfeld kommen teilweise automatisierte Strombörsen für verschiedene Zeithorizonte zum Zug.

Für den praktischen Netzbetrieb stehen vier Aspekte im Vordergrund:

  • Stabilisierung der Wechselstromnetze ohne Großkraftwerke. Auch ohne die träge Masse von großen rotierenden Generatoren kann heute das Netz auch bei kleinen Störungen im Millisekunden-Bereich stabil gehalten werden: reaktionsschnelle Leistungselektronik in Wechselrichtern von Wind- und Solarkraftwerken sowie gegebenenfalls in speziellen Anlagen kann für sofortigen Ausgleich sorgen.
  • Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (Kürzel HGÜ oder HVDC). Im Wasser haben Wechselstromkabel wegen der entstehenden Magnetfelder hohe Verluste. Deshalb hat man Inseln schon früh mit Gleichstromkabeln versorgt. Aufwand und Platzbedarf für die Gleich- und Wechselrichter an den Leitungsenden sinken mit leistungsstarker Leistungselektronik beträchtlich. Zum Ausgleich unterschiedlicher Wetterbedingungen bei der Erzeugung von Strom mit Sonne und Wind ist es notwendig, zusätzliche Transportleitungen über lange Strecken zu bauen, die haben mit HGÜ geringere Verluste. Zudem lassen sie sich damit — im Gegensatz zu Hochspannungs-Wechselstrom-Leitungen — auch landschaftsschonend im (feuchten) Boden verlegen.
  • Kapazitätserhöhung im Verteilnetz. Die Lastgrenzen in Verteilnetzen sind meist nicht durch die thermische Belastbarkeit der Leitungen gegeben, sondern dadurch, dass die durch den Netztransformator gegebene Spannung bei wechselnder Belastung die zulässigen Werte über- oder unterschreitet, für die die angeschlossenen Geräte ausgelegt sind. Das wird insbesondere dann relevant, wenn sich die Stromrichtung durch starke Einspeisung umkehren kann. Ähnliches gilt für die Blindleistung. Eine automatische Stabilisierung der Werte durch Leistungselektronik ermöglicht eine beträchtliche Kapazitätserhöhung ohne Leitungsausbau. Zudem sind die Netze auf den unteren Spannungsebenen auf Spitzenlasten ausgelegt, die nur kurzzeitig auftreten — ein leistungselektronisch gesteuertes Abpuffern mithilfe von Batterien oder Lastreduktion erlaubt es, die durchschnittliche Auslastung bestehender Netze beträchtlich zu erhöhen.
  • Digital vermittelte Steuerung von Erzeugung, Transport und Verbrauch des Stroms auf allen Ebenen unter Berücksichtigung der Netzzustände.

Ohne extrem schnelle digitale Datenverarbeitung, ohne Messeinrichtungen mit digital vernetzten Sensoren und ohne digitale Kommunikationsnetze wäre das allerdings nicht möglich. Die Leistungselektronik wird damit zum entscheidenden Bindeglied zwischen der Information in den Steuerungssystemen und der elektrischen Energie, die durch die Leitungen fließt. Dadurch können die Informationen über das Stromnetz unabhängig von den Energieflüssen verarbeitet und die Resultate ohne Zeitverlust eingesetzt werden, um die Vorgänge auf der Ebene der Energie zu steuern.

Systemtheoretisch ausgedrückt, erhöht die neue Beeinflussbarkeit des Stroms an Millionen von Knotenpunkten in Sekundenbruchteilen die Freiheitsgrade des Systems um ein Vielfaches. Das erhöht die Komplexität und die Bedeutung des Systems:

  • Durch seine erhöhte Vielseitigkeit (Einsetzbarkeit) nimmt die Bedeutung des Elektrizitätssystems für die Energieversorgung und für die technisierten Gesellschaften insgesamt deutlich zu
  • Durch die Vielzahl der Einstellungsmöglichkeiten an jedem Anschluss und Knotenpunkt vervielfacht sich die Anzahl der zu treffenden Entscheidungen
  • Die Vielfalt der Akteure, die mit neuen Wahl- und Steuerungsmöglichkeiten im System relevante Entscheidungen treffen könnten, nimmt zu: neue Stromerzeuger und Stromkonsumenten vom Privathaushalt bis zum Großkonzern, Hersteller von Hardware und Dienstleister aller Art, Netzbetreiber auf allen Ebenen, Politiker von der Kommune bis zur EU.
  • Die Vielfalt und Bedeutung der möglichen Folgen der Entscheide für diese Akteure wachsen mit der zunehmenden Bedeutung des Elektrizitätssystems

Diese Entwicklung eröffnet einerseits große Effizienzvorteile und erfordert andererseits ein Überdenken der Entscheidungssysteme: wer entscheidet wann was? Bereits in der letzten Folge ging es darum, dass die historisch gewachsene, auf die alten Technologien zurückzuführende zentralistische Steuerungslogik mit den neuen Technologien nicht mehr zwingend ist: Wesentlich mehr Entscheidungen könnten dezentral getroffen werden und das hätte erhebliche Vorteile.

Zentrale oder dezentrale Steuerung des Stromsystems? © NREL

Zurück zum Gleichstromnetz

Die neuen Möglichkeiten, Strom umzuwandeln, führen dazu, dass zunehmend Netze mit Gleichstrom attraktiv werden. Um 1890 wurde der „war of currents” zugunsten des Wechselstroms entschieden, weil er auf höhere Spannungen transformiert werden konnte, die geringere Verluste zur Folge hatten, was mit Gleichstrom damals nicht möglich war.

Gleichstrom hat aber entscheidende Vorteile, die heute zum Tragen kommen können: Bei gleichmäßig fließendem Strom entstehen keine Magnetfelder, die wiederum in anderen Leitern Spannungen induzieren können. Dadurch sinkt der Widerstand in Kabeln, insbesondere unter Wasser, es wird weniger Kupfer benötigt. Photovoltaik erzeugt Gleichstrom, Batterien speichern und liefern Gleichstrom, viele Geräte nutzen Gleichstrom. Bei Windkraftwerken und sparsamen Motoren/Generatoren muss Wechselstrom variabler Frequenz immer zunächst in Gleichstrom gewandelt bzw. daraus gewonnen werden. LEDs, auf die nach und nach die gesamte Beleuchtung umgestellt wird, brauchen Gleichstrom. Und, ganz wichtig, die Steuerung von Netzen wird wesentlich einfacher: keine Phasenverschiebung, keine Blindleistung, die Frequenz ist einfach Null. Die Spannung liefert direkt Auskunft über die Leistung. Die Digitalisierung der Netze wird einfacher.

Deshalb wird auf den verschiedensten Spannungsebenen daran gearbeitet, die Versorgungssysteme auf Gleichstrom umzustellen. Das kann sich auch für Wohngebäude lohnen — insbesondere, wenn sie Photovoltaikanlage, Batteriespeicher und Ladestationen für Elektrofahrzeuge haben. Allerdings sind viele Geräte noch nicht mit Gleichspannungsanschluss verfügbar, so dass vorläufig Wandler oder parallele Netze notwendig sind. Für Industriebetriebe wird intensiv an Gleichstromsystemen gearbeitet, erste Fabriken werden damit ausgerüstet, die notwendigen Anpassungen sind überschaubar. Inzwischen macht man sich auch daran, Mittelspannungsnetze mit Gleichstrom zu entwickeln.

Der Übergang zu Gleichstromnetzen wird allmählich und flexibel erfolgen. Bestehende Wechselstromleitungen können umgenutzt werden. Immer kleinere und kostengünstigere Konvertervereinfachen den Übergang. Gleichstrom zu schalten, ist heute mit Halbleiterschaltern kein Problem mehr — lange waren mögliche Lichtbögen und lange Schaltzeiten ein Hindernis. Technisch gesehen, sind Gleichstromnetze eindeutig von Vorteil. Um Standardisierung und Massenproduktion entsprechender Komponenten auf allen Spannungsebenen voranzubringen, sind intensive Bemühungen zur Entwicklung entsprechender Normen im Gang.

Supraleitung — die nächste Revolution im Stromsektor?

Supraleitung und Halbleiter sind physikalisch gesehen unterschiedliche Phänomene. Aber das detaillierte Verständnis der Stromleitung in Halbleitern hat die 1911 von Heike Kammerlingh Onnes entdeckte Supraleitung erheblich vorangebracht. Nicht umsonst gelang einem der Erfinder des Transistors, John Bardeen, zehn Jahre später, also 1957, zusammen mit L. N. Cooper und J. R. Schrieffer die vollständige Erklärung der Supraleitung von Metallen (BCS-Theorie). Dafür bekam er seinen zweiten Nobel-Preis.

Eine ganze Reihe von Metallen und Verbindungen zeigen bei extrem niedrigen Temperaturen keinen elektrischen Widerstand. Bis 1986 glaubte man entsprechend der BCS-Theorie, dass oberhalb von 30K (-243°C) keine Supraleitung möglich ist. Dann aber wurde die bis heute nicht befriedigend erklärte sogenannte Hochtemperatursupraleitung in Keramik entdeckt, zunächst unterhalb von 35K. Es folgten weitere Materialien, die nicht mehr flüssiges Helium, sondern nur noch flüssigen Stickstoff (77K = -196°C) zur Kühlung brauchen.

Supraleitendes Kabel. Bild: SWM

Technisch wurde Supraleitung bis heute vor allem zum Bau extrem starker Magneten eingesetzt: für Teilchenbeschleuniger in der Kernforschung, für medizinischen Magnet-Resonanz-Untersuchungsgeräte (MRT) und für Versuchsanlagen zur Kernfusion. Zunehmend gibt es auch in der Industrie Interesse an starken Magneten für vielfältige Automatisierungskonzepte. Für den Betrieb bei möglichst hohen Temperaturen hat man vor allem auf komplizierte metallische Legierungen gesetzt, die Barium, Yttrium oder Gadolinum enthalten — alles teure, äußerst seltene Elemente. Allerdings ist die benötigte supraleitende Schicht nur mikrometerdick: vom supraleitenden Material wird deshalb nur ein Dreissigtausendstel des Kupfers in einem Kabel gleicher Leistung benötigt. Für den massenhaften Einsatz sucht man nach anderen Materialien.

Für den Stromtransport sind zwei Projekte erwähnenswert:

  • In München planen die Stadtwerke eine 12km lange Leitung für eine Leistung von 500 MW mit supraleitendem GdBaCuO, die trotz Stickstoff-Kühlung erhebliche Platzvorteile bietet: Mit 14cm Kabeldurchmesser Retrofitting in bestehendem Kabelrohr mit einem Vielfachen der Leistung; drastische Reduktion der Leitungsverluste; geringere Spannung und damit weniger Aufwand für Umspannwerke; keine Wärmeentwicklung. Viele Städte interessieren sich für das Projekt, denn damit lassen sich nicht nur erhebliche Kapazitätserhöhungen auf begrenztem Raum realisieren, sondern bei Massenproduktion auch Kosten einsparen.
  • Im Best Paths Projekt der EU wurde 2014–2018 unter anderem ein Gleichstromkabel mit dem Supraleiter Magnesium-Diborid (MgB2) für Langstrecken-HVDC-Leitungen mit einer Kapazität von 3,2 GW entwickelt und getestet. Das kostengünstige Material MgB2 erfordert allerdings eine Kühlung mit flüssigem Helium oder flüssigem Wasserstoff (-253°C). Es zeichnet sich ab, dass HVDC-Kabel mit MgB2 deutlich kostengünstiger als herkömmliche HVDC-Kabel werden.

Wesentliche Hindernisse für leistungsfähigen Stromtransport über größere Strecken sind lange Genehmigungszeiten und hohe Kosten. Mit Supraleitern wird die Verlegung von Erdkabeln wesentlich einfacher und günstiger: Die Belastung mit magnetischen Feldern und Wärme ist minimal und der Querschnitt gering. Damit werden wesentlich einfachere Genehmigungen und eine kostengünstige Verlegung möglich.

Für die Entwicklung der Stromnetze in dichtbesiedelten Regionen und über lange Strecken zeichnen sich damit — auch ohne sensationelle Durchbrüche — Entwicklungen in der Supraleitung ab, die in Kombination mit immer effizienterer Leistungselektronik Netzkapazität, Reichweite und Flexibilität massiv erhöhen. Damit wird die Vollversorgung mit erneuerbarem Strom immer einfacher. Für die USA wurde berechnet, dass eine Vollversorgung mit Erneuerbaren mit einem optimierten landesweiten Übertragungsnetz 46% weniger kostet als mit Netzen, die auf die einzelnen Bundesstaaten beschränkt sind. Für Europa ergab eine ähnliche (von einer Supraleitungs-Firma finanzierte) Studie um 32% geringere Kosten für die Stromversorgung gegenüber dem heutigen Ansatz. Für eine breite Akzeptanz neuer Komponenten bei den Netzgesellschaften wird bisher jedoch verlangt, dass Pilotanlagen während vieler Jahre ihre Zuverlässigkeit bewiesen haben — das ist heute noch nicht der Fall und die Anzahl der Pilotprojekte ist gering.

Trotz aller Aktivitäten in diesem Bereich kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Thema Supraleitung im Vergleich zu anderen, wesentlich weniger aussichtsreichen Technologien (Wasserstoff, CCS, Fusion, Kernenergie…) in den alten Industrieländern unterfinanziert ist und viel langsamere Fortschritte macht, als möglich wäre. Vor allem die beträchtlichen Forschungsanstrengungen für die Fata Morgana Kernfusion haben die Supraleitung vorangebracht. Das könnte sich ändern: China ist seit Jahren zunehmend aktiv in der Supraleiter-Technologie: in der Grundlagenforschung, sowie in ersten Anwendungen in Stromnetzen (Kabel, Transformatoren, Energiespeicherung in Magnetfeldern) und in der Verkehrstechnik(Magnetschwebebahnen). China hat nicht gezögert, die Vorteile der Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HVDC) zu nutzen: nachdem ABB und Siemens die Technologie in den neunziger Jahren dort eingeführt hatten, waren 2018 rund 60% der weltweiten Kapazität in China installiert, zum größten Teil aus nationaler Produktion. Bei der Supraleitung ist eine ähnliche Entschlossenheit zu erwarten.

Koreanische Forscher haben kürzlich einen Durchbruch angekündigt: Supraleitung bei Raumtemperatur und Atmosphärendruck mit einer neuen Stoffklasse, die zudem aus unproblematischen Elementen besteht. Nach einem globalen Hype folgte die Enttäuschung: weltweit prüften Hunderte von Wissenschaftlern das Material und konnten den Effekt nicht bestätigen. Einerseits zeigt diese Geschichte, wie leicht die Öffentlichkeit bereit ist zu glauben, dass eine einzelne neue Technik fast alle Energieprobleme löst. Andererseits zeigt sie, welche Möglichkeiten die neuen Materialwissenschaften im Prinzip eröffnen. Supraleitung ohne zusätzliche Kühlung ist zunächst unwahrscheinlich, aber nach heutigem Wissen nicht unmöglich. Wesentlich kleinere Leitungsquerschnitte ohne Widerstand und Wärmeentwicklung würden das gesamte Stromsystem wesentlich effizienter machen — nicht nur die Netze, sondern auch fast alle elektrischen Geräte und Maschinen. Aber selbst wenn so ein Material gefunden würde, bräuchte es viele Jahre, bis sich damit Drähte und Kabel herstellen ließen und Jahrzehnte, bis die Hersteller der wesentlichen Anwendungen sich umgestellt hätten… Kein Grund also, darauf zu warten. Auch ohne Durchbrüche ist mit den heute verfügbaren Technologien bereits ein wesentlich effizienteres und vollständig auf erneuerbaren Energien basiertes System möglich.

In der letzten und in dieser Folge haben wir gesehen, wie grundlegend die auf den Nanowissenschaften basierende Leistungselektronik unseren Umgang mit Elektrizität und unsere technischen Möglichkeiten bereits verändert hat. Die immer schnelleren Fortschritte der inzwischen auch mit künstlicher Intelligenz arbeitenden Materialwissenschaften werden diese Entwicklung weiter vorantreiben. Immer stärker werden leistungselektronische Funktionen miniaturisiert und in andere Komponenten wie PV-Module, Motoren oder Stromspeicher integriert. In der nächsten Folge dieser Serie geht es — nach der Photovoltaik und der Leistungselektronik — um die dritte für die Energiewende grundlegende nanowissenschaftliche Innovation: die Batterietechnik.

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R Schleicher-Tappeser

SUSTAINABLE STRATEGIES. Writes about Technology and Society: Based in Berlin. Five decades of experience in energy, transport, climate, innovation policies.