Bitcoins Gesellschaftsvertrag

janpaul
Aprycot Media
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9 min readApr 25, 2020

Bitcoin für Skeptiker, Teil II

(Übersetzung von “Unpacking Bitcoin’s Social Contract” von Hasu. Es gibt eine Lesung der deutschen Übersetzung von Fab The Fox)

Bitcoin ist eine neuartige soziale und ökonomische Institution. Es ist so grundverschieden von unseren heute existierenden Institutionen, dass wir erstmal skeptisch sein sollten und so viele eindringliche Fragen wie möglich an Bitcoin stellen sollten, bevor wir ihm irgendeinen ökonomischen Wert zusprechen wollen. Manche Antworten werden erst im Laufe der Zeit gegeben werden können (die coolen Kids sprechen von Lindy), aber das heißt nicht, dass wir nicht Theorien oder Modelle entwerfen können. Ein solches Modell, das mir sehr geholfen hat Bitcoin zu verstehen, ist die Theorie des Gesellschaftsvertrages.

Fiat-Geld ist das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages: das Volk gibt dem Staat die Kontrolle über wesentliche Funktionen von Geld wie zum Beispiel seine Menge. Als Gegenleistung setzt der Staat seine Macht dazu ein, um die Wirtschaft zu lenken, Wohlstand umzuverteilen und Verbrechen zu bekämpfen. Viele übersehen dabei, dass auch Bitcoin durch einen Gesellschaftsvertrag funktioniert.

Die soziale Ebene und dessen Regeln sind das Herzstück von Bitcoin.

Das Modell des Gesellschaftsvertrages kann uns einige wesentliche Fragen beantworten: Warum existiert Bitcoin? Wer hat seine Eigenschaften definiert? Wer kontrolliert es heute? Kann ein kritischer Fehler Bitcoin das Leben kosten?

Theorie des Gesellschaftsvertrages

Die Theorie des Gesellschaftsvertrages beginnt mit einem Gedankenexperiment: Es wird ein hypothetischer Naturzustand angenommen, der voller Gewalt ist: darin zu leben ist für die Menschen unerträglich. Angetrieben von dem Wunsch ihre persönliche Situation zu verbessern, treffen sie gemeinsam die Vereinbarung, den Leviathan zu ermächtigen, eine souveräne Regierung zu ihrem eigenen Schutz. Jeder gibt ein Stück seiner persönlichen Freiheit ab (zu stehlen, zu morden und ähnliches), der Leviathan erhält dafür Macht, so dass er Gesetze erschaffen und durchsetzen kann, um die Menschen vor äußerer Gewalt zu bewahren.

Diese Theorie muss nun nicht notwendigerweise auf die Beziehung zwischen Volk und Staat beschränkt bleiben. Das Gedankenexperiment kann auch auf die Wirtschaft angewendet werden. Wenn eine ausreichende Zahl von Menschen unzufrieden ist mit der Tauschwirtschaft, können sie gemeinsam vereinbaren, Geld, Kredit oder etwas ähnliches zu benutzen, um die Qualität ihres Handels zu verbessern.

Der Geld- oder Kreditprozess erfolgt implizit. Jede Person fragt sich, welche Resultate sie sehen möchte und wie sie diese erreichen kann. Wenn ausreichend viele Menschen einer Gesellschaft dieselben Resultate wollen, können wir das Ergebnis einen “Shelling Point” oder Gesellschaftsvertrag nennen.

Geld als Gesellschaftsvertrag

In der Menschheitsgeschichte haben Regierungen ihre Macht über das Geld auf vielfache Weise missbraucht. Sie haben Konten konfisziert, bestimmte Personen oder Gruppen vom Geldverkehr ausgeschlossen, oder viel Geld gedruckt und damit die Geldmenge inflationiert — manchmal bis zur Hyperinflation.

Wann immer Regierungen beim Missbrauchen ihrer Macht eine rote Linie überschritten, verlor das Volk das Vertrauen in den Gesellschaftsvertrag, der die Macht der Regierungen legitimierte. Das Volk kehrte zu einer Vereinbarung zurück, die ihnen die gewünschten Vorteile bewahrte (ein gemeinsames Tauschmittel, Wertspeicher und Werteinheit), aber sie vor den schwerwiegendsten Problemen bewahrte (Missbrauch durch eine Regierung): Warengeld.

Geld lehrt uns eine wichtige Lektion: je größer und wertvoller eine soziale Institution wird, desto mehr Akteure zieht es an, die die Kontrolle darüber gewinnen wollen.

Das Problem mit dem neuen Warengeld-Vertrag war, dass er sich ebenfalls als instabil erwies. Schauen Sie sich beispielsweise den Goldstandard an. Physisches Gold war zu unpraktisch um es yu teilen, zu transportieren und aufzubewahren. Die Menschen aber waren erfinderisch und führten eine zusätzliche Ebene ein: sie handelten nun mit repräsentativem Papiergeld, während das physische Gold nicht mehr bewegt wurde. Weil Papiergeld aber einfach herzustellen war, brauchte es eine zuverlässige, vertrauenswerte zentrale Partei, die die Geldproduktion überwachte. Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt für die Regierungen, das Papiergeld von dem darunter liegenden Warengeld zu entkoppeln und Fiat-Geld wieder einzuführen.

Hierin liegt eine wertvolle Lektion: Wir können uns einig sein, dass wir uns in einer ganz schrecklichen Lage befinden, und wir können uns darüber einig sein, dass wir die Lage ändern wollen, der daraus resultierende Gesellschaftsvertrag ist aber nur so überzeugend wie er auch glaubwürdig ist. Ohne eine standfeste Institution, die ihn durchsetzt, verliert jeder Vertrag das Vertrauen der Menschen und zerfällt.

Die Regeln von Bitcoin

Als Satoshi Nakamoto Bitcoin erfand, erfand er nicht gleich auch einen neuen Gesellschaftsvertrag. Satoshi tat etwas anderes — er entwickelte eine Technologie, die viele Probleme früherer Versuche löste und den alten Vertrag in einer neuen Art und Weise umsetzte. Er entschied sich für die folgenden Regeln:

  • Nur der Besitzer eines Coins kann die Signatur für das Ausgeben eines Coins produzieren (Konfiszierungs-Resistenz)
  • Jeder kann ohne Erlaubnis Werte in Bitcoin speichern und bewegen (Zensur-Resistenz)
  • Es wird nur 21 Millionen Bitcoins geben, ausgegeben nach einem einsehbaren Zeitplan (Inflations-Resistenz)
  • Alle Nutzer können selbst die Regeln von Bitcoin verifizieren (Fälschungssicherheit)

Bitcoin als eine neue Art der sozialen Institution

Geld lehrt uns eine wichtige Lektion: je größer und wertvoller eine soziale Institution wird, desto mehr Akteure zieht es an, die die Kontrolle darüber gewinnen wollen. Die Institution braucht also Schutz, den ihr nur ein anderes mächtiges Gebilde bieten kann: der Staat. Mit der Zeit wird Schutz erst zu Kontrolle und dann zu Missbrauch. Wenn die soziale Institution ihre Vorteile für die Menschen eingebüßt hat, wird sie durch eine neue Institution ersetzt und der ganze Zyklus beginnt wieder von vorn.

Satoshi versuchte, den Teufelskreis durch zwei Mittel zu durchbrechen: Erstens, statt von einer mächtigen zentralen Partei geschützt zu werden (wie z.B. eine Regierung) , erschafft Bitcoin einen höchst umkämpften Markt für seinen Schutz. Sicherheit wird zu einer Ware und die Anbieter von Sicherheit (die Miner) sind selbst machtlose Produzenten einer Ware. Zweitens fand Satoshi einen Weg, der die konkurrierenden Sicherheitsanbieter zu einem Konsens darüber führte, wer was zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzt.

Das Bitcoin-Protokoll automatisiert den Vertrag, der auf der sozialen Ebene vereinbart wurde — die soziale Ebene legt die Regeln von Bitcoin fest, basierend auf dem Konsens seiner Nutzer. Beide leben in einer Symbiose: keiner von beiden wäre sich selbst genug ohne den anderen. Die soziale Ebene und seine Regeln bilden dabei das Herz von Bitcoin. Das Protokoll macht die soziale Ebene erstmalig realisierbar, und verschafft der sozialen Ebene in großes Maß an Glaubwürdigkeit auch für Außenstehende.

Bitcoin als einen Gesellschaftsvertrag anzusehen, der durch die technische Ebene ermöglicht und automatisiert wird, hat viele Vorteile. Unter anderem macht er es möglich, philosophische Fragen zu Bitcoin zu beantworten.

Wer kann die Regeln von Bitcoin ändern?

Die Regeln des Vertrages werden auf der sozialen Ebene permanent ausgehandelt und entschieden. Das Bitcoin-Protokoll führt die Regeln nur aus. Bitcoin, als Netzwerk von Computern, existiert überhaupt nur, wenn viele Menschen auf ihren Computern eine Version von Bitcoin laufen lassen, die alle denselben Regeln folgen (das kann man sich vorstellen, als ob alle dieselbe Sprache sprechen würden).

Man ist so lange Teil des Netzwerks, wie man denselben Regeln folgt wie alle anderen. Wenn ich nun einseitig und nur auf meinem Computer die Regeln ändere, hätte dies keinerlei Auswirkungen auf das übrige Netzwerk — genauer gesagt hätte ich mich selbst vom übrigen Netzwerk abgespalten (ich spreche plötzlich eine andere Sprache).

Die einzige Möglichkeit die Regeln von Bitcoin zu ändern besteht darin, eine Anpassung des Gesellschaftsvertrag vorzuschlagen. Jeder Vorschlag zur Anpassung muss von allen anderen Teilnehmern im Netzwerk aus freien Stücken akzeptiert werden, denn mein Vorschlag wird nur dann zu einer allgemeinen Regeln, wenn alle anderen Teilnehmer bewusst diese Anpassung in ihr lokales Regelwerk übernehmen. Millionen von Menschen zu überzeugen erfordert eine beachtliche Menge an Überzeugungsarbeit an der Basis und schließt daher von vornherein alle umstrittenen Änderungen praktisch aus, weil es nahezu unmöglich ist, einen ausreichend allgemeinen Konsens dafür herzustellen. Das ist der Grund, warum das Bitcoin-Netzwerk zwar durch Upgrades, die den Willen seiner Teilnehmer widerspiegeln, verbessert werden kann, aber das Netzwerk gleichzeitig unglaublich resilient ist gegen Änderungen durch böswillige Akteure.

Kann ein Software-Fehler Bitcoin zur Strecke bringen?

Im September 2018 wurde ein Software-Fehler in der am meisten verbreiteten Bitcoin-Implementierung (im lokalen Regelwerk) entdeckt. Der Fehler eröffnete zwei mögliche Angriffs-Szenarien: Angreifer hätten zum einen die Bitcoin-Endgeräte von Nutzern im Netzwerk effektiv herunterfahren können (sie wären nicht mehr in der Lage gewesen, die Regeln zu verifizieren, Verletzung der Fälschungssicherheit), zum anderen wären die Angreifer in der Lage gewesen, Bitcoins zweimal auszugeben (Verletzung der Inflations-Resistenz).

Bitcoin-Entwickler haben diesen Fehler schnell repariert, indem sie dem Netzwerk ein aktualisiertes Regelwerk anboten, dass die potenziellen Angriffsvektoren schloss. Der Fehler war rechtzeitig entdeckt und nicht von einem Angreifer ausgenutzt worden. Dennoch fragten sich viele Nutzer: wie viel Schaden hätte der Fehler anrichten können? Hätte das Bitcoin-Netzwerk die Inflation ertragen müssen, wenn sie geschehen wäre, die Inflations-Resistenz also verletzt worden wäre?

Die Theorie des Gesellschaftsvertrages liefert hier eine klare Antwort: Nein. Die Regeln von Bitcoin werden auf der sozialen Ebene festgelegt, die Software führt sie lediglich aus. Wenn die soziale Ebene und die Protokoll-Ebene auseinander klaffen, ist die Protokoll-Ebene falsch — immer. Ein zeitweiliges Versagen der Protokoll-Ebene bei der Durchführung der Vertragsregeln hat keinerlei Auswirkungen auf die Gültigkeit des Vertrages.

Der Bitcoin-Token selbst hat keinen Wert. Der Wert wird ihm alleine auf der sozialen Ebene zugewiesen.

Stattdessen wäre folgendes passiert: Die Ausnutzung des Fehlers wäre ausgemerzt worden durch eine Reorganisierung der Blockchain, so dass der durch den Angreifer entstandene Schaden rückgängig gemacht worden wäre. Dies hätte das Bitcoin-Netzwerk in zwei Netzwerke gespalten, beide Netzwerke hätten ihre eigenen Token: einen mit und einen ohne den Fehler. Jeder Besitzer von Bitcoin hätte in beiden Netzwerken die exakt selbe Anzahl an Token. Aber der Wert dieser Token wäre allein durch den Markt festgelegt werden, nämlich was der nächste Käufer eines Tokens bereit wäre zu bezahlen.

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Bitcoin-Token selbst keinen Wert hat; er ist nicht viel mehr als eine Zahl im öffentlichen Kassenbuch. Der Wert exisitiert nur auf der sozialen Ebene. Es ist daher allein der soziale Konsens, der im weiteren Fortgang der Ereignisse darüber entscheidet, was ökonomisch fortgesetzt wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass aller ökonomischer Wert auf das neue, angepasste Netzwerk übergeht.

Wenn die Bitcoin-Software die Regeln des Gesellschaftsvertrages erfolgreich ausführt, sind die beiden Ebenen synchron zueinander. Und wenn die Software zeitweise asynchron wird, ist es immer die soziale Ebene, die den Weg aufweist, zu dem es zurückzukehren gilt. Dieser im September 2018 aufgetretene Software-Fehler wird nicht der letzte gewesen sein. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages gibt uns die Gewissheit, dass Fehler passieren können, dass aber die soziale Institution namens Bitcoin nicht gefährdet ist.

Sind Forks von Bitcoin eine Bedrohung für die Inflations-Resistenz?

Eine weitere verbreitete philosophische Frage dreht sich um “Forks”. Die Bitcoin-Software ist quelloffen (was den Nutzern ermöglicht zu verifizieren, dass das Regelwerk auch tut, was es behauptet), jeder kann eine Kopie davon erstellen und die Software verändern. Das nennt man “forking”. Wie oben schon beschrieben können diese Veränderungen nur auf der Protokoll-Ebene vorgenommen werden, nicht aber auf der sozialen Ebene. Ohne eine Änderung der Regeln auf der sozialen Ebene ist das einzige Ergebnis eines Forks von Bitcoin, dass man sich selbst aus dem Netzwerk abspaltet.

Wenn man einen Fork von Bitcoin erschaffen möchte — und dabei nicht riskieren will, dass das Netzwerk sofort verendet — dann muss man als allererstes einen Fork der sozialen Ebene schaffen. Man muss möglichst viele Teilnehmer davon überzeugen, dass das neue Regelwerk besser für sie ist, so dass sie gewillt sind, ihr lokales Regelwerk an die neuen Regeln anzupassen. Diese Art von Forks sind sehr selten und nur schwierig zu bewerkstelligen, da sie vorher die Einwilligung von tausenden Teilnehmern benötigen. Diesen Weg zu beschreiten um Werte zu erschaffen kommt ungefähr dem gleich, eine Präsidentschaftskampagne wie ein finanzielles Investment zu betreiben.

Der Schlüssel zum Verständnis hier ist, dass der Wert der Tokens nur im sozialen Konstrukt zu finden ist. Die Token selbst haben keinen Wert; den Wert beziehen sie erst aus dem Gesellschaftsvertrag. Ein Fork des Protokolls ist nicht gleichzusetzen mit einem Fork des Gesellschaftsvertrages, die neuen Token sind erstmal wertlos. In dem seltenen Fall, das der soziale Konsens selbst sich aufspaltet (so geschehen als sich Bitcoin Cash von Bitcoin abspaltete), erhält man letztlich zwei schwächere Gesellschaftsverträge — beide werden von weniger Nutzern getragen als der alte Gesellschaftsvertrag.

Geld im allgemeinen und insbesonder Bitcoin können als Gesellschaftsvertrag zwischen Menschen angesehen werden. Bitcoin ist keineswegs ein neuer Vertrag; es ist die nächste Ausführung eines Vertrages, der viele Jahrhunderte zurückverfolgt werden kann. Verglichen mit früheren Ansätzen ist Bitcoin eine substantielle Verbesserung, weil es einen höchst umkämpften Markt für seine eigene Sicherheit erschafft. Bitcoins soziale Ebene und die Protokoll-Ebene verstärken sich gegenseitig, ihre Beziehung zueinander verschafft uns ein besseres Verständnis für kaum verstandene Konzepte wie Regeländerungen, Forks oder Protokoll-Fehler.

Dieser Artikel ist Teil der Artikel-Serie “Bitcoin für Skeptiker”.

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