Glaubwürdig, Verlässlich, Transparent

Wie wir die digitale Zukunft im Bayerischen Rundfunk gestalten — und warum wir während Corona deshalb im Vorteil waren

Thomas Hinrichs
BR Next
7 min readJul 15, 2020

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Foto: BR / Fabian Stoffers

Digitalität wird nicht verschwinden. Und zum Glück gehören wir nicht zu denen, die durch Corona zwangsdigitalisiert wurden. Wir haben den Umbau aus eigener Kraft heraus gestaltet. Seit Jahren schon. Das zahlt sich aus.

Wir ernten jetzt Früchte unserer teils ungemütlichen, aber eben doch zukunftsträchtigen Transformationsarbeit der letzten Jahre.

Wir als Qualitätsmedien — und damit meine ich nicht nur öffentlich-rechtliche Medienanbieter — müssen für die Menschen in einer komplexen digitalen Medienwelt mit hoher Content-Taktung vertrauenswürdige Lotsen sein.

Wir haben eine neue Navigationsfunktion in dieser digitalen Welt. Dafür müssen wir selbst etwas in der digitalen Medienlandschaft wagen, und nicht nur als unbeteiligte Kritiker*innen die Arbeit anderer bewerten.

Wir müssen das Gute vom Schlechten unterscheiden können. Das bedeutet, dass wir nicht dem erstbesten Trend hinterherlaufen (siehe Zoom), aber uns eben auch nicht allem pauschal verweigern. Beides würde unserer Navigationsfunktion nicht gerecht.

Vom Leuchtturm zum nachhaltigen Wandel

Digitalkompetenz bedeutet nicht, ein vereinzeltes, aber herausgeputztes Lab zu betreiben, das größtmögliche Außenwirkung erzielt. Unsere Kompetenz muss im ganzen Unternehmen, im gesamten BR, ankommen. Erst dann können wir von Transformation, von wirklichem „Change“ sprechen.

Dafür ist unser digitales Mindset entscheidend. Der Kulturwandel, mit dem wir dieses Mindset prägen, ist dabei das Wichtigste. Wir begreifen die digitale Transformation als Chance zu zeigen, warum wir als öffentlich-rechtliche Medien für unsere demokratische Gesellschaft so wichtig sind.

Deshalb haben wir uns in den letzten Jahren verändert. Das war schwer für altgediente Macher*innen, hoch erfahrene Redakteur*innen, langjährige Kolleg*innen. Ich verstehe das. Es ist schwer, von dem zu lassen, was uns lange Jahre erfolgreich gemacht hat. Stichwort: Innovator’s Dilemma.

Wir haben uns trotzdem nicht von unserem Weg abbringen lassen und das hat uns in die Lage versetzt, jetzt schnell zu reagieren. Und das nicht nur im Informations-Bereich, den ich verantworte. Sondern in allen Bereichen.

Was wir während Corona hinbekommen haben

In kürzester Zeit haben wir mehrsprachige Corona-News für diejenigen in Bayern gestartet, die während Corona auf Infos angewiesen sind und noch nicht gut Deutsch sprechen.

Außerdem eine digitale Kulturbühne, auf der Künstler*innen eine Alternative zu abgesagten Präsenz-Events finden und ihre Kultur-Veranstaltungen digital interpretieren können. Mit BR Wissen haben wir ein relevantes, neues Angebot für Wissens-Journalismus im BR gestartet.

Und Innovations-Projekte wie Die Befreiung und Die Rettung haben wir umgebaut, um den Corona-Beschränkungen gerecht zu werden und trotzdem ein beeindruckendes Nutzer-Erlebnis zu schaffen.

Warum wir das hinbekommen haben

Das ist uns gelungen, weil wir in den letzten Jahren unser digitales Mindset entwickelt und verankert haben. Wir können nicht mehr wie früher ein halbes Jahr warten, bis alle Konzepte bis ins Detail fertig sind.

Wir müssen innerhalb kürzester Zeit mit einem Minimum Viable Product rausgehen können und es mit dem Feedback der Nutzer*innen verbessern. Und dann erst eine finale und datengestützte Entscheidung treffen. Das ist ein echter Wandel unserer Organisationskultur.

Zu diesem Wandel gehören auch neue Strukturen. Ich war zum Beispiel nie ein Hörfunk- oder Fernsehdirektor, sondern ein Informations-Direktor, der alles, was mit Information zu tun hat, verantwortet — egal in welchem Medium, egal auf welcher Plattform. Das Modell hat Schule gemacht.

Dieser Wandel ist ab Sommer komplett: Hörfunk- und Fernsehdirektionen gibt es nicht mehr, sondern eine Programmdirektion Information und die Programmdirektion Kultur. Wir denken von Inhalten aus, nicht von Medienformen. Wir trennen Inhalt, Format und Kanal.

Ein Inhalt — viele Ausspielwege

So können wir Recherchen und Aufnahmen gemeinsam erarbeiten, diese dann für alle Kanäle plattformgerecht anpassen und verbreiten. Das hilft, sich auf exzellenten Journalismus zu konzentrieren und gleichzeitig viele Menschen zu erreichen, obwohl sich ihre Mediennutzung ständig ändert.

Wir können uns nicht wie früher auf automatische Reichweiten und Einschaltquoten verlassen, nur weil ein Format um 20:15 Uhr nach der Tagesschau läuft. Im Digitalen werden die Karten fortlaufend neu gemischt. Gewinnen kann ein Medienhaus dort nur mit den besten Inhalten.

Fernsehen ist reichweitenstark und bleibt das bei älteren Generationen. Das ist gut so. Auch im Hörfunk erreichen wir beständig sehr gute Reichweiten, auch bei Jüngeren, und liefern Angebote, die viele Menschen in ihren Alltag integriert haben. Im Hörfunk sind wir am besten aufgestellt. Aber wir dürfen uns nicht auf diesen Erfolgen ausruhen.

Alle Daten zeigen, dass wir jüngere Generationen nicht in die Schemata der älteren Generationen pressen können. Wenn jüngere Menschen streamen, Videoinhalte on-demand erwarten und Informationen über eine Vielfalt von Plattformen, Kanälen und Medienformen bekommen, dann führen unsere Strategien der Vergangenheit zukünftig nicht mehr zu Erfolg.

Warum das alles?

Digitalisierung ist für mich kein Selbstzweck. Der wirkliche Zweck ist, dass wir Menschen nachhaltig erreichen wollen. Unsere Erfolgsfaktoren dafür sind nicht nur Reichweite, sondern auch Reputation und Absenderkennung.

Unsere Aufgabe ist nicht digitale Innovation um ihrer selbst willen, sondern um Menschen zu informieren. Wir müssen digital glaubwürdig, verlässlich und transparent sein, um unseren größten Schatz zu erhalten und erneuern: Das Vertrauen der Nutzer*innen, Zuschauer*innen, Hörer*innen. Nur so können wir nachhaltig Lotsen in einer komplexen Welt sein.

Hier kommt eine Stärke des BR ins Spiel: die Nähe zu den Menschen. Das ist kein Zufall: Wir haben unsere regionale Berichterstattung in den letzten Jahren strategisch priorisiert und entsprechend vorangetrieben. Mittlerweile 54 Korrespondent*innen haben wir in ganz Bayern verteilt.

Viele davon haben vorher an unseren zentralen Standorten in Nürnberg und München gearbeitet. Von dort haben wir sie in die Regionen geschickt, damit sie nah bei den Menschen sind und als glaubwürdige Expert*innen aus der Gesellschaft vor Ort für ganz Bayern berichten können.

Diese Glaubwürdigkeit hat sich während Corona ausgezahlt. Ein Beispiel dafür war die zugespitzte Lage in Mitterteich in der Oberpfalz — ein Hotspot. Die ganze Kommune musste zeitweise abgesperrt werden.

Nur 15 km entfernt in Marktredwitz haben wir mit Anne Axmann und Katharina Herkommer zwei Korrespondentinnen, die in kürzester Zeit direkt vom Marktplatz in Mitterteich cross-medial für Radio, Fernsehen und unsere digitalen Kanäle berichten konnten.

Diese Nähe bringt uns nicht nur die Glaubwürdigkeit vor Ort, die wir brauchen, um in Krisen-Situationen das Vertrauen der Nutzer*innen zu haben. Sie macht uns auch schneller: Von Nürnberg aus hätte ein Team fast 2 Stunden nach Mitterteich gebraucht — eine Ewigkeit, wenn man schnell und aktuell, unabhängig von Sende-Terminen, berichten möchte.

Wir haben in der Krise aber auch gemerkt, in welchen Themenfeldern und Nutzersegmenten wir noch nicht stark genug sind. In der Krisenzeit müssen ausnahmslos alle, die in Bayern leben, informiert werden: Wo gibt es welche Ausgangsbeschränkungen? Bis wann gelten sie? Welche Regeln gelten für die Arbeit, für Schulen, für Supermärkte? Wann gilt eine Maskenpflicht?

All diese Fragen betreffen den Alltag aller Menschen, egal wie gut ihr Deutsch ist. Für sie haben wir schnell eigene Info-Angebote entwickelt.

Wir brauchen Daten, nicht nur Bauchgefühl

Das ging auch deshalb so schnell, weil wir vorher schon Nutzergruppen identifiziert hatten, die wir noch nicht erreichen. Gemeinsam mit unserer Medienforschung haben unsere Digitalstrateg*innen eine Zielgruppen-Landkarte erstellt, die zeigt: Wen erreichen wir bisher? Wo arbeiten wir noch an einer Gruppe vorbei? Welche Plattformen nutzt diese Gruppe?

Wir wollen damit neue Antworten auf die Frage finden: Wie müssen wir uns aufstellen, um die Menschen zu erreichen, die wir noch nicht „informieren, beraten, unterhalten“ — wie es der demokratische Auftrag von uns verlangt? Mit diesen Daten haben wir eine Contentstrategie entwickelt, an der sich neue Ideen für Journalismus im BR orientieren müssen.

Grundlage dafür ist eine professionelle Herangehensweise, die nicht nur auf das eigene Bauchgefühl setzt. Es gibt erfahrene Kolleg*innen, deren „Stomach Analytics“ brillant für etablierte Formate funktionieren.

Aber in der digitalen Welt ist eine rein bauchgefühl-basierte Strategie schlicht unverantwortlich. Diese Welt ist so komplex, fragmentiert und divers, dass wir Daten brauchen, um die Bedürfnisse der Menschen so verstehen, dass wir nicht manche Menschen über- und andere unterversorgen.

Um Mitarbeitende, die wie ich 52 Jahre oder älter sind, mit diesem Wandel nicht allein zu lassen, bieten wir ihnen Weiterbildung im Digitalbereich an. Wir brauchen darüber hinaus aber auch Nachwuchskräfte, die Formate wie unsere @news_wg auf Instagram erfolgreich machen.

Dafür braucht es ein Team, das selbst in einer WG lebt und deshalb glaubwürdig bei der Zielgruppe ist. Ein Team, das Identifikations-Potenzial hat und so nachhaltig Vertrauen aufbauen kann. Gleichzeitig ist die Erfahrung der erfahrenen Kolleg*innen essentiell für solchen Erfolg.

Beide Welten — die der langjährigen, journalistischen Erfahrung und der nutzerorientierten Digitalkompetenz — müssen wir verbinden.

Das große Ganze im Blick

Wir gestalten unseren digitalen Wandel aus eigener Kraft. Corona war kein Moment des Erwachens, der uns mit Kant gesprochen aus dem „dogmatischen Schlummer unterbrach“ und eine „ganz andere Richtung gab.“ Corona hat nur beschleunigt, was bei uns schon im Gange war.

Alle Konsequenzen, die Corona für Medien und Arbeitswelt hat, zeigen: ohne Digitalkompetenz sind wir aufgeschmissen. Die digitalen Instrumente und Infrastruktur, die wir uns erarbeitet haben, nutzen wir jetzt.

Auf den Lorbeeren der hohen Reichweiten und der verlässlichen Orientierungsfunktion unserer Angebote dürfen wir uns aber nicht ausruhen. Wir wollen ein stetes Voranschreiten, einen konstanten Wandel, um das beste Angebot für die Menschen in Bayern zu liefern.

Auch unser erfolgreichstes Angebot ist eine Beta-Phase für das noch bessere Angebot, auf das wir hinarbeiten. Nichts ist so gut, dass wir es nicht noch besser machen könnten.

Wir sind immer noch nicht schnell und fokussiert genug. Wir sind immer noch nicht perfekt plattformgerecht und passgenau konfektioniert in unseren Inhalten. Aber unsere Mitarbeitenden sehen jetzt: Die Strategie geht auf. Unser Weg funktioniert.

Wer das für privatwirtschaftliche Denke hält, die einem öffentlich-rechtlichen Medienhaus nicht gut ansteht, ist auf dem Holzweg. Unsere Arbeit ist nämlich kein Selbstzweck.

Unsere Arbeit ist dem demokratischen Auftrag verpflichtet, als „Medium und Faktor des Prozesses freier, individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen”.

Öffentlich-rechtliche Medienhäuser haben die „Ausgewogenheit ihrer Angebote“ sicherzustellen. Wir können nicht nur für eine Zielgruppe arbeiten, sei sie noch so attraktiv für uns persönlich. Wir müssen allen Menschen etwas anbieten, das ihre Bedürfnisse mit Qualität erfüllt.

Vor der Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medien ist mir nicht bange. Wir sind vorbereitet und gestalten unsere digitale Zukunft: glaubwürdig, verlässlich, transparent — um auch in der digitalen Medienwelt ein vertrauter und unverzichtbarer Partner der Menschen zu sein.

Dieser Beitrag geht auf einen Livestream bei den Medientagen zurück. Das Video dazu und die Talks der anderen Speaker*innen findet Ihr hier:

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