Evolution der Dysfunktion — Teil 3

Ralf Westphal
Gedankliche Umtriebe
10 min readFeb 18, 2018

Führung in Unternehmen muss die Quadratur des Kreises vollbringen: Mitarbeiter sollen alles für den Kunden geben und gleichzeitig den Regeln der Führung gehorchen (vgl. Teil 2 der Artikelserie).

Der Kunde des Unternehmens erteilt ihm einen Auftrag (1). Die Produktion für den Auftrag wird intern koordiniert bis zur Lieferung an den Kunden (2). Daraufhin bezahlt der Kunde das Unternehmen (3). Die Führung leitet Teile des Geldes weiter an die Angestellten (4).

Kunde und Unternehmen stehen dabei über das Produkt in voller Kopplung (siehe Teil 1 der Artikelserie): Es findet ein selbstbestimmter Austausch statt von Lieferung gegen Geld. Beide Parteien haben anschließend etwas, das sie wollen.

Mitarbeiter und Unternehmenskunde sowie Mitarbeiter untereinander hingegen sind nicht in dieser Weise gekoppelt. Mitarbeiter leisten gegenüber dem Kunden, geben ihm also, was er möchte ((1) & (2)) — allerdings bekommen sie dafür von ihm nicht, was sie selbst brauchen.

Stattdessen sind Mitarbeiter und Unternehmensführung voll gekoppelt, weil Mitarbeiter von der Führung bekommen, was sie möchten: Gehalt (4).

Für das Geld von der Führung leisten Angestellte ihr gegenüber jedoch nicht mit dem Produkt, das sie an den Kunden liefern. Ihre Leistung in Richtung Führung ist vielmehr Gehorsam. Das mag sich unschön anhören, doch verstehe ich den Begriff hier trotz aller Konnotationen neutral als „gewissenhafte Befolgung von Anweisungen und Regeln“.

Volle Kopplung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer ist das natürliche Verhältnis am Markt. Auftragnehmer zeigen sich dort als Anbieter von Leistungen attraktiv, um Auftraggeber anzuziehen. Und wenn ein Geschäft zustande kommt, bemühen sich Auftragnehmer verlässlich zu liefern, um vom Auftraggeber als geldwert anerkannt und in Zukunft wieder beauftragt zu werden.

Daraus folgt ganz natürlich, dass Anbieter ständig daran arbeiten, ihre Angebote attraktiver zu gestalten, also ihre Leistungen zu verbessern. Volle Kopplung ist also der Treiber für Innovation nach außen.

Gleichzeitig folgt aus der vollen Kopplung aber auch ganz natürlich, dass Anbieter ständig daran arbeiten, ihre Leistung mit weniger Aufwand zu erbringen. Das ermöglicht ihnen nämlich einerseits, mehr Auftraggeber zu bedienen, und andererseits einen attraktiveren Preis zu bieten, der im Wettbewerb mit anderen Anbietern von Vorteil sein kann. Volle Kopplung ist also der Treiber für Innovation nach innen.

Für Unternehmen als Ganze, die Marktteilnehmer sind, gilt dies ebenfalls. Sie sind Anbieter und stehen in voller Kopplung mit Kunden am Markt. Mehr Attraktivität und weniger Aufwand sind ihr Bestreben.

Für Mitarbeiter innerhalb von Unternehmen gilt das allerdings nicht! Da sie nicht in voller Kopplung mit dem Unternehmenskunden stehen, haben sie aus der Beziehung zu ihm heraus keine Motivation zur Innovation.

Wenn einzelne Mitarbeiter dennoch wie in einer vollen Kopplung gegenüber dem Kunden agieren, dann ist das zunächst kein Verdienst des Unternehmens, sondern ihrer Persönlichkeit geschuldet; die ist dann empfänglich für etwas anderes als Geld als Lohn für die erbrachte Leistung. Das Unternehmen mag davon profitieren, soweit es das zulässt. Aber aus der Organisation des Unternehmens heraus gibt es keine Garantie dafür, dass solches Verhalten dauerhaft besteht.

Qua Unternehmensorganisation ist die primäre Motivation von Mitarbeitern auf die Führung ausgerichtet. Von dort bekommen abhängig beschäftigte Angestellte das so dringend benötigte Geld; auf das Verhältnis zur Führung ist daher auch ihre Innovationskraft gerichtet.

Es ist mithin ganz natürlich, wenn Angestellte bestrebt sind, sich gegenüber der Führung attraktiv darzustellen und Wege zu finden, ihre Leistung gegenüber der Führung zu verbessern. Aber Achtung: diese Leistung besteht in Gehorsam! Das Gehalt fließt, wenn Führung erkennt, dass Angestellte tun, was Führung will. Führung will jedoch nicht das Unternehmensprodukt selbst, sondern die Erfüllung von Vorgaben. Das ist nicht dasselbe!

Ebenso natürlich ist es, wenn Angestellte bestrebt sind, ihren Aufwand für die Erbringung der Gehorsamsleistung zu minimieren. Das bedeutet im Zweifelsfall, dass sie Kräfte von der Leistung gegenüber dem Unternehmenskunden abziehen, solange es die Wahrnehmung ihres Gehorsams durch die Führung nicht beeinträchtigt.

Interner „Pfauentanz“ bzw. das sprichwörtliche „Radfahren“ (nach oben buckeln, nach unten treten)) von Angestellten sowie „Dienst nach Vorschrift“ sind insofern völlig verständliche und ökonomische Verhaltensweisen im Rahmen einer Unternehmensorganisation.

Es ist auch zu erwarten, dass solche dysfunktionalen Verhaltensweisen umso stärker ausgeprägt sind, je weiter Mitarbeiter vom Unternehmenskunden entfernt sind. Denn je größer der Abstand, desto loser die Kopplung zwischen den Mitarbeitern im Rahmen der Lieferung an den Kunden.

Ein weiterer Beleg für die volle Kopplung gegenüber der Führung, statt gegenüber dem Kunden sind Verkaufsprovisionen. Sie sind ein offensichtliches Symptom für die kontraproduktive Organisation von Unternehmen, weil sie dazu dienen, den Blick des Verkäufers in Richtung Unternehmenskunde zu wenden. Der angestellte Verkäufer ist natürlicherweise in Richtung Unternehmensführung gepolt, obwohl er in Kontakt mit dem Unternehmenskunden steht. Wenn also selbst der Verkäufer noch zusätzlich motiviert werden muss, alles für den Unternehmenskunden zu geben, dann ist die nach innen wirkende Kraft der vollen Kopplung zur Führung als wahrlich groß anzusehen.

Unterm Strich lauert die Dysfunktion also überall dort, wo die volle Kopplung zwischen Mitarbeitern und Führung Energie von der Lieferung an den Kunden abzieht.

Dysfunktion ist also zu unterscheiden von Ineffizienz oder Ineffektivität. Aus Dysfunktion entstehen früher oder später Ineffizienz und Ineffektivität, aber Ineffizienz und Ineffektivität sind nicht notwendig ein Zeichen von Dysfunktion.

Dysfunktion entsteht, wenn Mitarbeiter ihre Motivation, Aufmerksamkeit und Arbeitskraft nicht auf ihre eigentliche Funktion richten, sondern auf den Gehorsam. Die Wahrnehmung wird dadurch von der Operation abgezogen, was in Bezug auf die Unternehmensleistung zu Qualitätsverlust, Unzuverlässigkeit, sinkender Produktivität und abnehmender Innovation führt.

Die Geburt des Management

Dass abhängig Beschäftigte nicht verlässlich in Richtung Unternehmenskunde motiviert sind, weil sie von ihm kein Geld zu erwarten haben, ist ein so massives Problem, dass es schon früh zur Ausprägung einer weiteren Rolle in Unternehmen geführt hat.

Die Unternehmensführung erwartet Gehorsam von ihren Angestellten. Dafür ist sie bereit, Geld zu bezahlen.

Gehorsam ist jedoch nicht das Produkt des Unternehmens, für das der Kunde bereit ist, Geld zu bezahlen. Führung muss es daher gelingen, Gehorsam in attraktive Leistungen nach außen und abnehmenden Aufwand innen zu transformieren.

Das ist eine gewaltige Aufgabe. Die kann Führung nicht erbringen. Denn die Aufgabe von Führung selbst liegt auf einer Ebene darüber. Führung arbeitet am Unternehmen, nicht im Unternehmen. Die Gehorsamstransformation jedoch muss im Unternehmen vollbracht werden.

Führung beschäftigt sich damit, dass die Transformation, aber nicht damit, wie sie geschieht. Führung stellt Grundsätze auf, gibt Richtungen vor; sie ist mit der Legislative im Staat vergleichbar. Aber Führung ist weder Judikative, noch Exekutive.

Für die Durchsetzung der Transformation bringt Führung vielmehr eine neue Rolle auf den Spielplan des Unternehmens: das Management.

Die Aufgabe von Management ist also weder Produktion, noch Koordination, noch Führung. Management leistet nicht gegenüber dem Unternehmenskunden, weder direkt noch indirekt. Management hat also nichts mit dem Fluss an Aufträgen und (Teil)Leistungen im Unternehmen zu tun, sondern konzentriert sich allein auf das Verhältnis von Mitarbeiter zu Führung.

Den Beziehungen zwischen Führung und Mitarbeitern ist immer ein Manager beigeordnet, der über den Gehorsam wacht und dessen Transformation in Leistungen nach außen und Sparsamkeit nach innen sicherstellt.

Management macht Führung frei, sich auf Führungsaufgaben zu konzentrieren. Management ist der Statthalter von Führung. Aber Management selbst ist nicht Führung! Management setzt lediglich um und kontrolliert; Führung hingegen ersinnt, denkt vor.

Management ist allerdings auch keine Koordination! Denn Koordination bezieht sich auf Leistungen gegenüber dem Unternehmenskunden. Mit denen hat Management jedoch nicht direkt zu tun. Ihr Feld sind die Leistungen der Mitarbeiter in Richtung der Führung.

Manager sind selbstverständlich ebenfalls Mitarbeiter wie die Koordinatoren und Produzenten, deren Gehorsam sie überwachen. Das heißt, Manager stehen ebenfalls in voller Kopplung nur gegenüber der Führung, allemal, da sie gar nichts mit Produktion zu tun haben. Das bedeutet, auch Manager gekommen ihr Gehalt nur für Gehorsam. Doch wer überprüft das, wer stellt die Transformation von Gehorsam in die eigentliche Leistung von Managern sicher? Auch dafür ist Management nötig.

Management gebiert aus sich heraus also notwendig eine Hierarchie!

Den Gehorsam der Managementspitze muss Führung dann allerdings selbst sicherstellen, um einen infiniten Regress zu vermeiden. Es geht also nicht ohne Doppelrolle in der Unternehmensleitung: Führung + Top-Management.

Darunter jedoch kontrollieren Manager andere Manager bis schließlich irgendwann Manager Koordinatoren und Produzenten kontrollieren. Oder genauer: die jeweiligen Beziehungen zur Führung.

Rollenüberladung

Produktion und Koordination sind unmittelbar durch den Willen zur Befriedigung des Kunden mit guten Leistungen getrieben sind.

Schon Führung ist jedoch nicht mehr direkt mit der Leistungserbringung beschäftigt. Sie repräsentiert auf höherer Ebene vielmehr ein neues Ganzes, das Unternehmen. Ihr Produkt ist nicht die Leistung gegenüber dem Kunden, sondern das Unternehmen selbst.

Management nun ist noch weiter vom Kunden entfernt. Es hat lediglich eine interne Aufgabe. Die ist maximal entkoppelt vom eigentlich wertschöpfenden Austausch. Es ist somit nicht verwunderlich, wenn Management zur Dysfunktion von Unternehmen beiträgt — obwohl ihr Auftrag gerade das Gegenteil ist. Management soll eigentlich Dysfunktion verhindern.

Dass Management ein (scheinbar) notwendiges Übel ist, findet auch darin seinen Ausdruck, dass es vielfach keine volle Aufmerksamkeit bekommt. Full-time Manager sind vergleichsweise selten. Stattdessen werden Koordinatoren und Produzenten mit Managementaufgaben überladen.

Das zieht andererseits Aufmerksamkeit von der wertschöpfenden Leistungserbringung ab. Es wird ein weiterer Zielfkonflikt geschürt: wann soll ein Mitarbeiter mit Doppelrolle sich als Manager und wann als Leistungserbringer verhalten?

„Management attention“ ist nicht umsonst für die Theory of Constraints der ultimative Engpass. Eine Rollenüberladung leistet der Dysfunktion durch Management also weiteren Vorschub.

Natürliche und künstliche Hierarchien

Produktion ist zunächst nur ein schrittweiser Prozess, in dem Peers kooperieren.

Indem der Produktionsprozess jedoch wächst, geht der Überblick verloren. Ineffizienz auf das Ganze bezogen und Ineffektivität halten Einzug. Um dem entgegen zu wirken, entsteht von unten, d.h. aus der Not der Prozessschritte, eine Hierarchie der Koordination.

Koordinatoren integrieren Prozessschritte zu neuen Ganzen in einem Prozess auf höherer Ebene. Koordinatoren machen den Prozessschritten das Produktionsleben einfacher.

Wenn Koordination so „von unten“ entsteht, sind Koordinatoren und Produzenten ebenfalls Peers — wenn auch mit unterschiedlicher Funktion. Die Hierarchie ist natürlich und legitimiert. Sie dient dem Wohle aller.

Dasselbe gilt, wenn orthogonal zur Integration eine Aggregation hinzukommt. Deren Notwendigkeit wächst aus einem Schwinden des inneren Zusammenhalts. Ist der nicht gegeben, besteht die Gefahr, dass die Mitglieder der Operation (Koordination + Produktion) sich aus den Augen verlieren. Sie stehen dann nicht mehr verlässlich in einem Leistungserbringungszusammenhang zur Verfügung. Die Operation zerfällt.

Führung ist das, was dem entgegenwirkt und Einheit in der Vielheit stiftet. Führung gibt den Vielen eine innere Ordnung und richtet das daraus Entstehende Ganze auf einen Zweck nach außen aus.

Der Zusammenhalt zwischen Operationsmitgliedern, den Führung herstellt, zieht eine Grenze. Ein Innenraum entsteht durch ein Wir-Gefühl. Ein Außenraum entsteht, in dem die Gefolgschaft der Führung einen Zweck verfolgt.

Auch Führung existiert natürlicherweise in einer Hierarchie. Sie hat nur eine begrenzte Reichweite und muss daher die Geführten u.U. teilen, um zu wirken.

Führung ist kein Selbstzweck. Sie hat, wenn sie natürlich von unten aus einer Notwendigkeit heraus entsteht, eine dienende Funktion. Sie hilft den Geführten, symbiotisch in einer Einheit zu leben und also das Leben leichter zu bewältigen. Führung setzt Energie frei, die das durch sie erschaffene Ganze in die Umwelt richten kann.

Auch die Hierarchie bei Führung und Koordination ist kein Selbstzweck. Sie ist eine Sache des Überblicks. Erst wenn der verloren geht, wenn die Reichweite von Koordinatoren und Führungskraft nicht ausreicht, ist eine Erweiterung der Hierarchie angezeigt.

In natürlichen Hierarchien sind die Übergeordneten deshalb auch stets von unten legitimiert. Sie erbringen eine allen zum Vorteil gereichende und anerkannte Leistung.

Warum soll nicht einer, der es besser weiß als andere, diese anleiten und sogar koordinieren? Warum soll nicht einer, mit mehr Blick für das Ganze, andere motivieren und sogar anführen?

Keiner dieser Rollen kommt dabei ein spezieller Wert zu. Niemand, der eine Rolle spielt, ist besser als einer, der eine andere Rolle spielt. Alle Rollen brauchen einander.

In dieser Weise natürlich entstandene Führung hat auch kein Problem mit dem Gehorsam. Es besteht ja kein Zielkonflikt. Führung leistet gegenüber ihrer Gefolgschaft in Form von gerichtetem Zusammenhalt. Und Gefolgschaft leistet in der ausgewiesenen Richtung.

Ein Zielkonflikt entsteht, wenn Führung nicht von unten durch empfundene Notwendigkeit legitimiert ist. Wenn Führung stattdessen gesetzt wird, wenn nicht klar ist, was Führung eigentlich leistet, wenn der Lohn nicht im Folgen, sondern in Geld besteht… dann bekommt Führung ein Problem. Dann muss Führung den Gehorsam explizit kontrollieren, um über die Entlohnung der Gefolgschaft entscheiden zu können.

Eine künstliche Hierarchie existiert folglich dort, wo Elementen unterhalb der Hierarchiespitze nicht klar ist, warum es die Hierarchie gibt. Wenn Hierarchieelemente nicht spüren, dass ihnen durch die Hierarchie ihre Leistung leichter fällt, ist Hierarchie nicht legitimiert. Wird die Hierarchie trotzdem aufrecht erhalten, ist sie künstlich — und verbraucht Energie zur Aufrechterhaltung.

Allemal künstlich ist in diesem Sinne die Managementhierarchie. Sie entsteht nicht auf Wunsch der Mehrzahl der eigentlichen Leistungsträger in Koordination und Produktion. Sie ist ein Mittel der Führung, um schwindenden Einfluss gegenüber ihrer Gefolgschaft zu kompensieren. Die Managementhierarchie wächst daher nicht von unten, sondern wird immer von oben, von einer schwach legitimierten Führung verordnet.

Die Managementhierarchie ist wiederum orthogonal zu den bisherigen Hierarchien von Koordination und Führung. (Im folgenden Bild ist das allerdings nur ausschnittweise dargestellt.)

Das Resultat kann nur eine Einschätzung von Management als illegitim sein und somit künstlich. Die Managementhierarchie ist Handlangerin der Führung und verbraucht in ihrer Künstlichkeit stets Energie, die nicht für Operation oder Führung zur Verfügung steht.

Hierarchien an sich, sind nicht „böse“, sondern Mittel zur Abstraktion, um den Überblick zu behalten. Wie jedes Mittel, haben sie ihren Anwendungsbereich und können mehr oder weniger gut genutzt werden.

Künstliche Hierarchien jedoch führen zu Dysfunktion. Ebenso Hierarchien, die der Kompensation einer schwindenden (oder nicht vorhandenen) Fähigkeit dienen.

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Ralf Westphal
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