Problemfokussierte öffentliche Beschaffung: Probleme richtig verstehen — bessere Lösungen beschaffen

Staat und Verwaltung stehen vor großen Aufgaben: Wandelnde Erwartungen von BürgerInnen und globale Herausforderungen wie die Klimakrise treffen auf eine anstehende Pensionierungswelle im öffentlichen Dienst. Um diesen Aufgaben gut vorbereitet zu begegnen, muss Verwaltung stärker in zu lösenden Problemen denken — um somit bessere Lösungen beschaffen zu können.

Anna Alles
GovMind
6 min readApr 25, 2022

--

Die Passung zwischen Problem und Lösung

An innovativen Lösungen für den öffentlichen Sektor mangelt es nicht. Derzeit gibt es ungefähr 5.000 marktreife Lösungen von europäischen GovTech-Anbietern, die bestens dafür geeignet sind, Probleme der Verwaltung auf neue Art und Weise zu lösen oder ihr Auftreten gänzlich zu vermeiden. Es liegt insbesondere in der DNA von GovTech-Startups, Probleme besser oder anders lösen zu wollen als auf traditionelle Weise. Denn: Niemand gründet ein Startup mit der Ambition, ein Problem nur halb so gut zu lösen wie eine am Markt bereits verfügbare Lösung. (Unsere hier kürzlich publizierte GovTech-Startup-Map gibt einen Überblick zur Bandbreite und Vielseitigkeit dieser GovTech-Anbieter).

Ausreichend finanzielle Mittel für die Beschaffung solcher Lösungen stehen ebenso bereit. Schätzungsweise entfällt allein in Deutschland ein jährliches Volumen von bis zu 500 Milliarden Euro auf öffentliche Aufträge (OECD, 2019). Damit steht dem breiten Angebot an GovTech-Lösungen ein ebenfalls bedeutendes Nachfragepotenzial gegenüber, das mittels Vergabestellen auch zügig und zielführend eingesetzt werden könnte.

Warum aber werden innovative GovTech-Lösungen aktuell so wenig genutzt (siehe hierzu eine Auswertung von uns), wenn sie doch in ausreichender Zahl vorhanden sind und die Mittel für ihren Einsatz zur Verfügung stehen?

Das hat etwas mit dem Verständnis der Probleme zu tun, für deren Lösung Staat und Verwaltung Aufträge vergeben. Zugegebenermaßen, in einer komplexen Welt ist es nicht leicht, die dringlichsten Probleme im Kern zu erkennen — und im gleichen Zuge Ursachen und Symptome voneinander zu differenzieren.

“Fall in love with the problem, not the solution”, hat sich hierzu in den letzten Jahren als passendes Zitat in vielen Arbeitskontexten etabliert. Weit über die Startup-Welt hinaus ist der ‘Problem-Solution-Fit’, also die Passung zwischen Problem und (zu entwickelnder) Lösung, mittlerweile ein feststehender Begriff. Allein diese Begrifflichkeiten machen aber das Erkennen des eigentlichen Problems, für das es eine Lösung bedarf, nicht einfacher.

Die Auseinandersetzung mit der Problemformulierung ist mühevoll, mitunter wenig geradlinig und kostet Zeit. Es müssen viele verschiedene Überlegungen angestellt werden, zum Beispiel:

  • Wer ist unmittelbar von einem Problem betroffen und wer spürt die Auswirkungen?
  • Wie entsteht ein Problem und wie unterscheiden sich Ursachen und Symptome?
  • Warum sollte ein Problem überhaupt gelöst werden?
  • Welche Lösungsansätze wurden bisher eingesetzt und wie wirksam waren diese?

Je ungenauer die Problemdefinition, desto unwahrscheinlicher die erfolgreiche Suche nach einer passenden Lösung. Oder: Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht finden.

Der Fokus der öffentlichen Verwaltung liegt aktuell selten auf einer tiefergehenden Analyse der zu lösenden Probleme. Diese Erkenntnis ergibt sich aus monatelanger intensiver Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten AkteurInnen im öffentlichen Sektor und einer mittlerweile zweistelligen Zahl an Tiefeninterviews, die wir bei GovMind hierzu durchgeführt haben. In der Konsequenz werden oftmals Bedarfe formuliert und öffentliche Ausschreibungen verfasst, bei denen sich nicht die besten Lösungen durchsetzen können, um das eigentliche Problem zu lösen.

Ein Praxisbeispiel: Über Straßenlaternen (vermeintliche Lösung) und öffentliche Sicherheit (das Problem)

Soweit zur Theorie. Wie wichtig das Denken in Problemen anstelle von Lösungen ist, wird durch das folgende Praxisbeispiel deutlich:

Am Siedlungsrand einer Gemeinde gibt es eine dunkle Straße mit angrenzendem Geh- und Radweg. Für einige BürgerInnen ist es eine wichtige Verbindung zum Neubaugebiet, daher möchte die örtliche Verwaltung die Strecke bürgerfreundlich gestalten. Ein auf fertige Lösungen und Produkte fokussiertes Denken könnte dabei zu folgendem Prozess führen:

🚩 Die Straße ist dunkel und die Verwaltung hat Sorge einer Handlungspflicht nicht nachzukommen

💡 Die handelnden Personen wählen daher eine bekannte Lösung: die Beleuchtung der Straße durch Straßenlaternen

📑 Es wird eine Ausschreibung für den Bau von Straßenlaternen veröffentlicht

🏁 Im Ergebnis wird die Straße mittels der durch öffentliche Gelder beschafften Straßenlaternen hell erleuchtet

Allerdings: Viele BürgerInnen fühlen sich auch mit der neuen Straßenbeleuchtung weiterhin unwohl auf ihrem nächtlichen Heimweg.

Sicher ist: Die Beleuchtung der Straße ist das Ergebnis guter Absichten.

Aber im Verlaufe dieses Beschaffungsprozesses ist jedoch die Frage nach dem eigentlich zu lösenden Problem verloren gegangen. In der Konsequenz wurde vorschnell ein vermeintlicher Lösungsweg ausgewählt, nämlich die Installation von Straßenlaternen, ohne lösungsagnostisch das Problem zu formulieren.

Ein solcher problemfokussierter Beschaffungsprozess hingegen würde dabei bedeuten: Im Dialog mit BürgerInnen wird deutlich, dass die Straße in der Tat nachts ein Gefühl der Unsicherheit hervorrufen kann.

Die Erhellung der Straße kann ein möglicher Lösungsweg sein, um dieses Problem zu lösen. Aber: wo viel Licht ist, ist starker Schatten. Diese Schlussfolgerung wird auch durch sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse bestätigt; die starke Ausleuchtung eines Gehweges lässt angrenzende Areale sehr dunkel, uneinsichtig und unheimlich wirken. Eine übliche Straßenlaterne kann dadurch im Vergleich zu anderen Lichtquellen durchaus negative Effekte auf das Sicherheitsgefühl haben (Quelle).

Es gibt hingegen eine Vielzahl anderer Lösungswege, die besser auf das Problem der gefühlten Unsicherheit abzielen können. One Scream beispielsweise ist eine Anwendung für BürgerInnen, die über Sprachsteuerung in Kontakt mit der Polizei treten kann. Eine Alternative bietet das Heimwegtelefon, bei dem Ehrenamtliche eine telefonische Begleitung am Abend anbieten. Für die direkte Nutzung durch die Verwaltung hat Beesafe ein dediziertes Produkt für den Austausch zwischen BürgerInnen und Städten entwickelt. Über eine mobile App kann angegeben werden, an welchen Orten sie sich nicht sicher fühlen.

Diese kurze Übung zeigt, wie die Fokussierung auf das eigentliche Problem die Offenheit für verschiedene Lösungswege erhöht und damit auch die Wahrscheinlichkeit, eine öffentliche Ausschreibung so zu organisieren, dass tatsächlich die beste Lösung zum Zuge kommt — im Sinne aller Beteiligten.

Den Blick für Probleme schärfen: Ein Tool für die Praxis

Doch wie kann es Verwaltung in Zukunft gelingen, stärker problemfokussiert zu denken und zu handeln?

Um Akteure in der Verwaltung dabei zu unterstützen, einfacher in Problemen zu denken, haben wir bei GovMind eine strukturierte Herangehensweise für die Problemanalyse entwickelt. Ziel ist die intensive Auseinandersetzung mit möglichen Ursachen und Facetten eines Problems, um letztendlich nach besser geeigneten Lösungen suchen zu können und den Blick bei der Markterkundung zu weiten.

Dieses interaktive Tool vereint den theoretisch getriebenen Ansatz einer klassischen und prozessorientierten Ursachenanalyse (weiterführende Informationen findet man unter dem Suchbegriff Ishikawa-Diagramm) mit den praktischen Erkenntnissen aus unserer knapp zwei Jahren datengetriebener Kartografierung der Lösungswelt digitaler Produkte für Staat und Verwaltung.

Im ersten Schritt der Analyse richtet sich der Fokus auf Begünstigte, die durch eine Lösung des Problems profitieren könnten. Hier soll ein besseres Verständnis für die Bandbreite an unterschiedlichen Interessengruppen entstehen, die von einer Problemsituation betroffen sind. Hat das Problem einzig und allein Auswirkungen auf BürgerInnen (Angstgefühl während der nächtlichen Heimfahrt) oder gibt es beispielsweise auch Folgewirkungen auf ansässige Unternehmen oder Organisationen, die ebenso ein Interesse an der Lösung des Problems hätten?

Im nächsten Schritt werden mögliche Problemursachen behandelt. An dieser Stelle kann es durchaus hilfreich sein zwischen verwaltungsinternen und verwaltungsexternen Problemursachen zu unterscheiden. Das Tool regt beispielsweise dazu an, über die Rolle von bestehenden Prozessen und der Personalaufstellung oder auch über Veränderungen in der Umwelt nachzudenken. Im Falle des vorangestellten Beispiels würde an dieser Stelle idealerweise deutlich, dass das Problem nicht in der Dunkelheit der Straßenumgebung allein liegt, sondern vielmehr darin begründet ist, Angst vor in der Dunkelheit lauernden Gefahren zu haben.

Anschließend geht es darum, mögliche Zielvorstellungen für die Problemlösung herauszuarbeiten. Soll die Lösung des Problems vor allem natürliche Ressourcen einsparen, die Effizienz eines Arbeitsablaufes oder die Zufriedenheit von Mitarbeitenden erhöhen? Konkretere Vorstellungen diesbezüglich können bei der Formulierung für funktionale Leistungsbeschreibungen von Vorteil sein.

Die Bearbeitungsdauer des Tools kann stark variieren. Die Bearbeitung kann innerhalb weniger Minuten abgeschlossen oder beliebig mit der Durchführung von Workshops und Interviews ergänzt werden. Nach Beantwortung der Fragen erhält man per E-Mail eine Kopie aller Angaben, die als Grundlage für weitere Schritte der Markterkundung dienen.

Das vollständige Tool für die Problemanalyse steht allen Interessierten über diesen Link zur Verfügung.

Wir haben uns ganz bewusst dazu entschlossen, das Tool kostenfrei zur Verfügung zu stellen, um den Einstieg in problemfokussiertes Denken für öffentliche Beschaffung für alle zu erleichtern. Zudem bieten wir die Besprechung der Ergebnisse einer Problemanalyse an, um einen initialen Eindruck der Markterkundung des passenden Lösungsraumes zu vermitteln.

Wie so oft gilt auch hier: Ein Werkzeug ist nur so gut wie dessen Anwendung. Wir freuen uns deshalb über jegliches Feedback zum aufgebauten Tool per Mail (anna.alles@govmind.tech) oder über LinkedIn, um es so für alle Interessierten weiterentwickeln zu können.

GovMind ist ein junges Technologieunternehmen, das systematisch Informationen zu GovTech-Lösungen erfasst, analysiert und interpretiert. Unser Ziel ist es, GovTech für die öffentliche Verwaltung zugänglich und nutzbar zu machen.

--

--