Medium ist kein Publishing-Tool

von Ev Williams

Vor zwölf Jahren leitete ich Blogger bei Google und war frustriert darüber, dass wir Nutzer an Konkurrenten wie Movable Type von Six Apart verloren. Die Leute fingen damals häufig auf Blogger an zu bloggen — weil es kostenlos, beliebt und leicht zu nutzen war — und wanderten dann jedoch zu anderen Plattformen ab.

Movable Type, Greymatter und später Wordpress, hatten eine viel höhere Eintrittsbarriere (als WP noch kein Turnkey-Angebot hatte). Doch sobald jemand auf den Geschmack gekommen war und die Freuden des Teilens von Gedanken im Netz kennengelernt hatte, war er bereit, den zusätzlichen Aufwand zu betreiben, der nötig war, um die erforderliche Software auf dem Rechner zu installieren und in den Genuss der zusätzlichen Funktionen und Flexibilität zu kommen.

Wir verstanden Blogger damals als Software zum Erstellen und Veröffentlichen von Websites und begaben uns in das Wettrennen, das viele Software-Anbieter nur allzu gut kennen: Neue Funktionen heißt mehr Nutzer. Hat die Konkurrenz neue Funktionen heißt das, man verliert Nutzer (Marketing und andere Faktoren haben je nach Markt zwar einen gewissen Einfluss, aber beim Blogging ist dieser minimal).

Bei diesem Spiel taten wir uns besonders schwer, da es sich bei Blogger, im Gegensatz zu den meisten Plattformen, mit denen wir konkurrierten, um gehostete Software handelte (in the cloud). Die operative und technische Herausforderung bestand darin, dass wir Funktionen schaffen mussten, die für all unsere Nutzer skaliert werden konnten. Wollten wir etwas ändern, mussten alle Nutzer diese Änderung annehmen.

Selbst in weit kleinerem Maßstab war die Skalierung zentralisierter Systeme damals ein weniger gelöstes Problem. Wichtiger war jedoch, dass wir keine Netzwerk-Effekte erzeugen konnten, auch wenn die Gegebenheiten dies eigentlich erleichterten. Obwohl mehr Leute auf Blogger veröffentlichten als irgendwo sonst, machte dies Blogger nicht besser. Im Gegenteil, es machte Blogger sogar schlechter, weil es langsam wurde und es schwieriger wurde, neue Funktionen hinzuzufügen.

Heute haben wir alle begriffen, dass das Internetgeschäft nicht gleichbedeutend ist mit dem Softwaregeschäft. Wir wollen Netzwerke und Plattformen bauen. Unsere Konkurrenten versuchen wir in Bezug auf die Nutzererfahrung (und in gewissem Maß Marketing) zu übertreffen. Funktionen und Flexibilität stehen ganz unten auf der Liste der Wettbewerbsstrategien, zumindest wenn man es mit Verbrauchersoftware (d.h. Dienstleistungen) zu tun hat.

Mein nächstes Blogging-Tool hatte viel weniger Funktionen — und viel mehr Nutzer. Keiner wechselt die Plattform, von der aus er tweetet, weil ein anderes Tool bessere Formatierungs- oder Personalisierungsmöglichkeiten hat. Das kommt daher, dass nur ein winziger Prozentteil des Wertes von Twitter auf der Software selbst basiert. Was zählt ist das Netzwerk — die Verbindung mit anderen Nutzern und dem Inhalt, den sie schaffen.

Chris Dixon hat vor eine Weile eine großartigen Artikel mit dem Titel „Come for the tool, stay for the network” verfasst, in dem er beschreibt, wie manche Plattformen, im Gegensatz zu Twitter, sich zunächst auf die Funktionen des Tools an sich konzentrieren und dann aber dazu übergehen, auf den Wert des Netzwerks zu setzen (der, letzten Endes zum weit wichtigeren Teil der Gleichung wird, wie das Beispiel von Instagram zeigt). Wir ahnten dies und fingen gerade an, uns stärker dem Netzwerk-Aspekt von Blogger zu widmen, als ich Blogger vor 10+ Jahren verließ. Es war nicht so, dass Blogger direkt in Mitleidenschaft gezogen wurde. Seine Benutzerfreundlichkeit zog in den darauffolgenden Jahren weiterhin mehrere zehn Millionen Nutzer an (laut Compete hatte blogspot.com allein diesen März 63 Millionen Besucher). Nichtsdestotrotz hatte Google eine wichtige Chance verpasst. Aber keine Sorge, Google geht es gut.

Vor allem jedoch war es eine verpasste Chance für Menschen und Ideen. Gut designte Netzwerke erleichtern den Informationsfluss und tragen dazu bei, dass gute Inhalte gefunden werden. Durch Verbindungen wird das Ganze größer als die Summe seiner Teile. Neue Pfade können betreten und Bedeutung geschaffen werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Beobachtungen viel darüber aussagen, was wir mit Medium bezwecken. Zunächst haben wir ein tolles Tool zum Schreiben im Netz entwickelt. Dabei hat nicht der Editor den größten Wert geschaffen, sondern die Tatsache, dass man leicht schreiben und eine Geschichte teilen konnte ohne sich um Konfigurationen kümmern zu müssen bzw. ohne das Committment, das das Starten eines Blogs mit sich bringt. Es gibt viel mehr Menschen, die hin und wieder wertvolle Ansichten haben, die sie teilen möchten, als es Leute gibt, die „Blogger” sein möchten. Das sind die Menschen, die gerne auf Medium schreiben, auch wenn sie es nur als Mittel sehen, eine hübsche Seite zu kreieren, auf die sie von Twitter aus verweisen können.

Allerdings geht es darum gar nicht. Zumindest ist die Geschichte hier noch nicht zu Ende. In den letzten Monaten haben wir unsere Aufmerksamkeit weg von der Produktseite und hin zum Schaffen eines Tools gelenkt, das einen Mehrwert für das Netzwerk schafft. Was heißt das? Eine Form dieses Wertes ist natürlich die Verbreitung. Und es besteht kein Zweifel daran, dass ein Text, der auf Medium veröffentlicht ist, mit einer größeren Wahrscheinlichkeit eine Leserschaft findet, als wenn der gleiche Text auf einer nicht frequentierten Insel im Web veröffentlicht wird.

Aber der interessantere Teil des Netzwerk-Mehrwerts besteht darin, dass es mehr und mehr qualitatives Feedback gibt. Highlights sind eines meiner Lieblings-Beispiele dafür:

Und davon profitiert nicht nur der Autor des Textes. Wenn ich etwas lese und auf ein Highlight von jemandem stoße, dem ich folge, macht dies den Abschnitt, ja, den gesamten Texten bedeutungsvoller und einprägsamer:

Auch Antworten sind von entscheidender Bedeutung sowohl für Medium als offene Plattform als auch das wachsenende Netzwerk darum herum.

Wenn man einen tiefgreifenden Artikel über Mikrozahlungen liest, der das Vorgehen einer bestimmten Firma in Frage stellt und daraufhin der Mitgründer dieser Firma auf sehr bedachte Weise darauf antwortet, ist das ziemlich cool. Diese Art der Kommunikation ist auch in herkömmlichen Blog-Kommentaren möglich — und geschieht dort auch — , aber die Tatsache, dass Antworten auf Medium auch unabhängig von dem ursprünglichen Text im Netz existieren können, erhöht einerseits die Motivation des Verfassers und andererseits die Wahrscheinlichkeit, dass gute Antworten im Netz gefunden und gelesen werden (für Anhänger der alten Schule: Genau, so wie mit Trackbacks).

Hier ist ein interessantes Zitat von einem ursprünglich skeptischen Medium-Nutzer über Antworten, auf das ich so noch nicht gekommen bin: „Ich glaube, dass die Hemmschwelle, ‘Publish’ zu klicken, um einen Post zu veröffentlichen, dazu beigetragen hat, meine Antwort an die Person, die den ursprünglichen Artikel geschrieben hat, höflicher zu formulieren.”

Wir sind immer noch dabei, Dinge zu optimieren (z.B. ist es noch etwas schwierig, Konversationen mit mehreren Teilnehmern zu folgen). Aber jeden Tag kommen wir hier ein Stück weiter und sehen fantastische Beispiele, wie die Netzwerk-Möglichkeiten auf Medium ganz hervorragend genutzt werden.

Das sind die Gründe, warum ich sage, dass Medium kein Publishing-Tool ist. Es ist ein Netzwerk. Ein Netzwerk aus Ideen, die sich gegenseitig befruchten, und Menschen. Und GIF (ja, auch die gibt es auf Medium — auch wenn ich deutlich machen möchte, dass das nicht unser Spezialgebiet ist).

Lasst uns wissen, was ihr von diesem Post haltet — indem ihr eine Antwort schreibt (eine kurze oder lange) und/oder eure Lieblings-Textstellen highlightet.

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