Was ich in 12 Monaten Change-Prozess in einem Verlag gelernt habe

Luca Gatscher
VGN tomorrow
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4 min readJul 23, 2020
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Ein guter Freund und Wegbegleiter hat vor einiger Zeit zu mir gesagt: “Vorne ist dort, wo kaum jemand weiß, was richtig oder falsch ist.” Heute, Jahre später, verstehe ich diese Aussage erst richtig. Ich befinde mich mitten in einer Branche, die sich drängt, sich neu zu erfinden. Die im Kampf um Sichtbarkeit und Relevanz vehement versucht, analoge Prozesse und alte Denkmuster ins Digitale zu übersetzen. Zwangsläufig mit dem Ergebnis, dass es zu keinem (nachhaltig zufriedenstellenden) Resultat kommt und man immer mehr an internationale Mitstreiter, die mit deutlich höheren Budgets spannendere Inhalte produzieren, verliert.

Wir befinden uns erst am Anfang unseres Change-Prozesses, in einer Phase, in der wir weit davon entfernt sind zu wissen, wie unsere Content-Produkte in 10 Jahren aussehen werden. Geschweige denn wie wir unser Portfolio monetarisieren sollen. Beunruhigen tut mich diese Tatsache nicht. Tag für Tag machen wir Fortschritte und ich lerne was notwendig ist, um ein Medienhaus aus dem Lesermarkt heraus auf den Kopf zu stellen. Schritt für Schritt Initiativen zu setzen, um morgen mehr Deckungsbeitrag pro Abo zu erwirtschaften als heute. Unsere ersten Schritte habe ich hier festgehalten.

Meine nachfolgenden Learnings sind eine Betrachtung aus dem Status quo. Es wird auch noch länger unklar bleiben, ob ich diese wieder revidiere, adaptiere oder sie sich genau so als tatsächlich relevant für unseren weiteren Weg erweisen. Meiner Meinung nach ist das auch nicht ausschlaggebend – unmittelbar helfen sie mir, bessere Arbeit zu machen.

1. Ohne Mission-Statement bleibt die Kraft der Einzelnen zerstreut

Die “About” Seiten junger Startups platzen vor motivierenden Zitaten, Sprüchen oder Claims, die sie daran erinnern, warum sie den harten, steinigen Weg bestreiten wollen. Phrasen wie diese sind unter anderem ausschlaggebend dafür, dass talentierte Menschen in ein Unternehmen kommen, ein Ziel vor Augen haben und täglich voller Leidenschaft ihr Bestes geben. Dieser Spirit kann in angestaubten Verlagshäusern durch Jahre der Krise schon mal verloren gegangen sein. Gerade deshalb hilft eine Mission den Mitarbeitern, die Motivation, Lust und Liebe für ihre Produkte wiederzufinden. Mein liebstes Beispiel ist dieses.

2. Ein führendes Geschäftsmodell ist Pflicht

In meiner neuen Rolle habe ich mir es zur Aufgabe gemacht, der Advokat unserer Abonnenten zu sein. Also jedes Produkt und jeden Prozess aus der User-Perspektive zu beleuchten und auf Herz und Nieren zu prüfen. Das beginnt beim Bestellprozess (der sich bald ganz anders darstellen wird) und endet in den zahllosen Touchpoints unserer Marken. Meine Überzeugung: Wenn das Produkt dem User gefällt, werden B2C- sowie B2B-Erlöse folgen. Immer wieder machen wir aber die Erfahrung, dass speziell die außergewöhnlichen Touchpoints werbemarktgetrieben sind. Man muss wohl nicht extra erwähnen, dass es früher oder später zu einem Interessenskonflikt kommt, wenn es um die Auffassungen von relevanten Inhalten geht. Welches Geschäftsmodell das führende sein soll, muss jedes Unternehmen für sich entscheiden. Wichtig ist meiner Meinung nach ein internes Commitment, sonst leidet die Qualität der eigenen Produkte.

3. Dringlichkeit ist die Voraussetzung für Veränderung

Während der letzten Monate habe ich Folgendes beobachtet: Veränderung ist in einer Krise seitens der Unternehmensführung erwünscht, wird aber nicht immer konsequent ausgesprochen. Für eine nachhaltige Veränderung fehlt oft die notwendige Transparenz in den Abteilungen. Szenarien, die zeigen was passiert, wenn kein Positiv-Trend mehr zurückkehrt. Bewusst oder unbewusst werden wichtige Kennzahlen zurückgehalten, die — richtig eingesetzt — aber notwendig sind, um eine Dringlichkeit für Veränderung zu erzeugen. Um wirksam zu werden, braucht man den Großteil der Mannschaft und leider nur die wenigsten haben ein intrinsisches Verlangen, sich jeden Tag zu verbessern.

4. Viele Baustellen bedeuten jede Menge Potential

Wer sich die notwendige Arbeit antut und historisch gewachsene Strukturen und Prozesse hinterfragt, braucht Zeit. So beginnt man bei den offensichtlichsten Baustellen und ein paar Monate später glaubt man, alle Lecks zumindest entdeckt zu haben. No way. Je tiefer wir graben, desto mehr Baustellen kommen zum Vorschein. Viele ärgern sich womöglich über noch mehr Arbeit und das damit verbundene Kopfzerbrechen. Ich anfangs auch, heute hebt jedes neue Leck die Stimmung: “Geil, noch ein Bereich den wir verbessern können.”

5. Daten sammeln, lesen und verstehen ist der Treibstoff der Zukunft

Als wir begonnen haben, neue Akzente in der Abo-Akquise zu setzen, wurden wir erstmal ausgebremst. Was heute Real-Life-Dashboards über den Erfolg von Kampagnen verraten, wurde bis vor zwei Jahren durch persönliche Meinungen und Bauchgefühl ausgedrückt. Erst ab dem Zeitpunkt der genauen Datenauswertung hat sich eine sachliche, produktive Feedbackkultur entwickelt, die uns nachhaltig lernen lässt. Seitdem erzielen wir Monat für Monat bessere Ergebnisse, entwickeln unseren Customer Lifecycle mit viel Gespür und durch Daten gestärkt weiter.

Unser nächster Schritt muss nun sein, unsere Datensensibilität vor allem mit den redaktionellen Abteilungen zu ver­ge­mein­schaf­ten. Erst ab dem Zeitpunkt, wo Lesermarkt und Redaktion auf die für sie relevanten Daten blicken und ihre Arbeit danach ausrichten, werden wir die ganze Kraft entfalten können.

Nie waren 12 Monate Arbeit so abwechslungsreich, lehrreich und schmerzhaft zugleich. Man fühlt sich wie an Bord eines Segelbootes bei starkem Wellengang. Mal gehts rauf, dann wieder runter und wieder hoch. Es ist unvermeidbar, dass auf einer Regatta wie dieser der eine oder andere seekrank wird. Um dieser Übelkeit zu entkommen, gibt es meiner Meinung nach nur zwei Möglichkeiten: Von Bord zu gehen und das Segelboot ziehen zu lassen oder sich ans Steuer zu stellen und das Boot noch mehr in den Wind zu drehen. Das hilft nämlich nicht nur beim wirklichen Segeln am offenen Meer.

Unser Manifest gibt Einblick in unser Mindset und Arbeitsweise.

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Luca Gatscher
VGN tomorrow

Passionately supporting publishing companies transitioning to the digital era. Head of Marketing & Subscription at VGN Medien Holding.