Fiktive Geschichte zur Bombardierung Magdeburgs am 16. Januar 1945

DieWaehlerischen
9 min readJan 14, 2015

Teil 2

Von Ronald Kühn

10:00

Wilhelm

Der Besuch der Krupp-Grusonwerke ist ein lästiges Unterfangen. Wilhelm weiß zwar, dass hier wertvolle Arbeit für die Truppen der Nationalsozialisten verrichtet wird, allerdings liegt ihm relativ wenig daran, in den stickigen Produktionshallen entlang zu marschieren und Mut zu machen. „Sie machen großartige Arbeit, immer weiter so.“ „Durch Ihre Leistungsbereitschaft werden wir den Feind zurückwerfen!“ „Weiter so, baut die Waffen, die unsere Feinde zerstören werden.“ Wilhelm hat es satt, immer die gleichen Parolen zu verkünden. Er schaut auf die Uhr. Kurz nach um 10. Es wird Zeit, zum Verlagshaus zu fahren.

Elise

Elises Mutter kann nähen und so hat sie, im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen, ein richtig schickes Winterkleid mit roten Troddeln am Kragen. Früher hat es der Tante gehört, die im letzten Winter gestorben ist. Den dicken Wintermantel hat sie von der Mutter geerbt, die von früher noch eine richtige Garderobe im Schrank hat. Elise kann sich kaum noch vorstellen, dass man einfach etwas kauft, was man nicht dringend braucht. Den teuren Pelz hat die Mutter im letzten Winter beim Kriegswinterhilfswerk gespendet. Gern hat sie das nicht getan, aber es wird von der „Volksgemeinschaft“ erwartet. Auch wenn Elise nur eine unklare Vorstellung von dieser „Volksgemeinschaft“ hat, die auch die Lehrer immer gelobt haben. Juden und Fremdarbeiter gehören jedenfalls nicht dazu, das weiß sie.

Zofia

Zofia kann kaum die Augen offenhalten, dermaßen erschöpft ist sie. Doch die Angst ist zu groß „hinterherzuhinken“. Denn das bedeutet oft harsche Strafen. In den ersten Monaten im Lager bekam sie oft Stockschläge oder Peitschenhiebe, manchmal sogar völligen Essensenzug, wenn sie etwas „verkehrt“ gemacht hatte. Oft lag es aber nicht an ihr. Sie ist nicht dumm. Auch in ihrer Heimat hat sie gearbeitet. Doch von solchen Maschinen hatte sie anfangs keine Ahnung. Nicht selten wurden sie und ihre Mitinsassinnen wenig bis gar nicht geschult, was den Umgang mit den Geräten anbelangt. Und nicht selten bedeute das Unfälle während der Arbeit. Zofia hatte bis jetzt verdammtes Glück, dass sie noch keine schweren Verletzungen bei der Arbeit erlitten hatte.

10:30

„Hallo Hans“, sagt Elise schüchtern, als er wie aus dem Nichts an der Bank im Nordpark hinter ihr auftaucht. Hans ist fast genauso schüchtern. Er schaut sie an. Seine Augen sind so tiefblau, fast wie die von Hans Albers. Elises Wangen sind ganz rot von der Kälte, um ihren Hals hat sie einen dicken grauen Schal. Doch ihre Mutter hat ihr den schicken hellbraunen Hut mit der feschen gelben Blume gegeben, auf den Elise aber gut aufpassen muss. Die Mutter will ihn zurück. Hans strahlt Elise an, „Schön, dass Du da bist. Toller Hut“. „Und du hast eine ganz rote Nase“, gibt sie zurück und beide fangen an zu kichern, auch, wenn sie gar nicht wissen, warum eigentlich.

10:40

Da sind sie also, zwei junge Menschen mitten im Nordpark, der noch aussieht, wie im tiefen Frieden. Sie setzen sich auf eine Bank und Hans legt sein Taschentuch auf das feuchte Holz. „Wie geht es dir?“, fragt er. Dabei weiß er, dass jeder Tag ohne ihn für Elise wie ein verlorener Tag ist. Seit ihrem letzten Treffen gab es viele verlorene Tage.

Ihre erste Begegnung war zufällig. Hans geht auf das Dom- und Klo­stergymnasium, das sich unter Rektor Hermann Lohrisch mit dem nationalsozialistischen Bürgermeister arrangiert hat. Seine Klasse hatte in den Ferien bei Gruson geholfen und Elise hatte ihren Vater besucht.

10:45

Die Luft ist klar und kalt. Es ist ein wunderschöner, wolkenloser Januartag. „Was hast du denn die letzten Tage gemacht, dass du dich erst jetzt melden konntest?“, fragte Elise. „Wir hatten ganz schön zu tun bei Junkers. Die brauchen unsere Flugzeugmotoren an der Ostfront,“ erwidert er, „der Vorarbeiter hat uns Extraschichten schieben lassen.“ „Oh, du Armer. Ich habe kein Mitleid mit dir, denn ich habe den ganzen Morgen den Boden geschrubbt und für Brot angestanden.“ Beide sind ein bisschen stolz, auch wenn sie wissen, dass nicht normal ist, was sie tun — dass ihr Leben nicht normal ist.

10:50

Siegfried

Der Luftalarm kommt unerwartet und viel zu spät. „Was zum Teufel“, setzt Siegfried gerade an, als der Vorarbeiter schon mit wedelnden Armen an ihm vorbeirennt und ihm zuruft, “Rennen Sie!”. Siegfried hatte es geahnt. Wenn die Flieger kommen, dann zum Grusonwerk. Er schüttelt die Schockstarre ab und rennt mit den anderen Arbeitern aus der großen Halle. Seine einzige Chance ist der Luftschutzbunker auf der anderen Straßenseite. Doch es ist zu spät. Die Flieger sind direkt über ihm. Die Bomben fallen.

Wilhelm

Die Redaktionsräume und die Druckerpressen stehen dicht an dicht gedrängt und lassen kaum Platz, sich zu bewegen. Ein paar NSDAP-Mitglieder stehen um den Druckchef herum und reden wild auf ihn ein. „…und am besten enden Sie mit dem Satz: Für das Vaterland. Ich möchte, dass der Artikel über den Volkssturm auf der ersten Seite erscheint. Wollen wir doch mal sehen, wie viele Soldaten wir noch zusammenkratzen können.“ Wilhelm tritt hinzu und überreicht dem Drucker ein Papier. „Hier — das muss morgen rein: An alle ehrenhaften Magdeburger Bürger…“, liest er gerade vor, als der Luftalarm ihn unterbricht. Die NSDAP-Männer stürzen sofort zum Keller unter der Druckerei. Wilhelm rennt zum Fenster und blickt gen Himmel.

Quelle: USAAF [Public domain], via Wikimedia Commons

Graue B-24-Bomber ziehen in enger Formation über den Himmel und verdunkeln die Stadt. Das passiert nicht wirklich, denkt sich Wilhelm…oder doch? „Jetzt kommen Sie schon oder sind Sie lebensmüde?“, schreit der Druckchef ihn an. Sie verschwinden im Keller.

Elise

Die Sirene unterbricht sie. Elise und Hans wissen, was das bedeutet. „Fliegeralarm“, stotterte er, nimmt ihre Hand und beide laufen zum Luftschutzbunker, der direkt im Nordpark liegt. Elise stolpert, findet wieder Halt und wird von den Magdeburgern um sie herum mitgerissen. Die eiserne Tür fällt hinter ihnen zu — und schon explodieren die ersten Bomben.

Zofia

Auch im Polte-Werk ist der Luftalarm zu hören. Sofort ist ein Raunen in der Halle zu vernehmen. Panik kommt auf. Auch Zofia weiß, was der Alarm zu bedeutet hat. Die Aufseher müssen jetzt zügig handeln. Ihnen steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Angst um das eigene Leben. Sie würden am liebsten so schnell wie möglich die Füße in die Hand nehmen und verschwinden. Doch auch sie müssen ihrer Pflicht erfüllen. Zofia und die anderen Insassinnen bleiben trotz Alarm stehen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Rennen sie aus der Halle könnte das eventuell als Fluchtversuch interpretiert werden. Die Aufseher treiben jetzt alle Arbeiterinnen so schnell es geht zusammen und führen sie aus dem Werk.

11:00

Wellington

Er beugt sich über die Karte und verfolgt die Route der amerikanischen Flieger, die den ersten Angriff gegen Magdeburg fliegen werden. Im Kontrollraum sitzt der Funker, der ihn über die aktuelle Lage auf dem Laufenden hält. „Sie sind durch, Sir“, meint er jetzt, „die Krupp-Grusonwerke und die Industrieanlagen wurden getroffen. Die Luftabwehr war kein Problem für den Verband. Es gab kaum Widerstand.“ Gut, denkt sich Wellington, sollte seine Staffel den Befehl zum Bombardement bekommen, so müssen sie nicht mit all zu viel Gegenwehr rechnen. Die Deutschen scheinen schon lange nicht mehr genügend Flak-Batterien zu haben.

Siegfried

Eine unglaubliche Druckwelle breitet sich aus. Stahl und Holz bersten unter der Kraft der Sprengladungen. Kleine, scharfe Metallteile fliegen wie Messerklingen durch die Luft, verletzen und töten seine Kollegen. Siegfried macht das einzige, was möglich ist: Er wirft sich flach auf den Boden und betet zu Gott, dass es bald vorbei sein wird.

11:30

Wellington

Der Air Marshall versammelt alle Soldaten erneut in der große Halle. „Meine Herren, der amerikanische Fliegerverband hat seine Ziele getroffen. Ich habe gerade ein Telegramm von der obersten Heeresleitung bekommen. Gentlemen, unser Auftrag wird es sein, Magdeburg anzugreifen. Ich befehle Ihnen, unverzüglich Vorbereitungen für eine großflächige Bombardierung zu treffen. Machen sie alle verfügbaren Lancaster startbereit. Nächste Lagebesprechung um Punkt 1600“

Siegfried

Die Grusonwerke sind Geschichte.

Quelle: Penfold (Fg Off), Royal Air Force official photographer [Public domain], via Wikimedia Commons

Da, wo einst Stahlarbeiter Panzerplatten formten, ist nur noch ein Flammenmeer zu sehen. Der Qualm steigt in dicken, schwarzen Wolken gen Himmel. Siegfried richtet sich auf. Wie durch ein Wunder ist er unverletzt. „Oh mein Gott“, sind die einzigen Worte, die aus seinem Mund kommen. Um ihn herum liegen Tote und Verletzte. In diesem Moment weiß er, dass alles verloren ist.

Zofia

Wie beim Appell steht Zofia jetzt in Reihe und Glied zusammen mit den anderen Zwangsarbeiterinnen wieder auf den Lagerplatz. Sie hören die Bomben fallen. Doch einen Bunker, in den sie sich schützen könnten, gibt es für sie nicht. Seit ein paar Minuten sind keine Bomben mehr zu hören. Anfänglich ist Zofia erleichtert. Doch nun fragt sie sich welches Schicksal wohl besser gewesen wäre. Ein schneller Tod durch den Bombenhagel oder ein langsamer Tod durch die harte Arbeit im Werk. Plötzlich gibt der Lagerkommandant Entwarnung. Dieses Polte-Werk wurde von den Angriffen verschont. Anderen Rüstungswerken erging es wohl nicht so.

12:00

Elise

Als der Angriff vorbei ist, kämpfen sich Elise und Hans durch die Menschen, die dicht an dicht im Bunker sitzen. „Ich muss nach Hause. Meine Eltern werden sich Sorgen machen“, stammelt sie benommen. Über dem Nordpark hängt Rauch, in Richtung Buckau kann man hochschlagende Flammen erkennen. In diesem Moment beginnt Elise sich Sorgen zu machen. „Vater“, denkt sie nur. Die Familie hat verabredet: „Falls ein Angriff kommt, bringt sich jeder in Sicherheit. Sollten wir getrennt sein, treffen wir uns zu Hause!“ — „Elise, geht es dir gut?“ Hans’ Stimme dringt langsam zu Elise durch. „Ich muss nach Hause, es tut mir leid.“ Hans nickt. Elise läuft den Breiten Weg hinunter. Dicke Rauchschwaden verdunkeln die Barockbauten an Magdeburgs Prachtstraße.

12:30

Siegfried

Siegfried hilft, so gut es seine spärlichen medizinischen Kenntnisse zulassen. Und es gibt sogar noch einen Löschzug! Er kommt auf das Werk zu, um sich den Flammen entgegenzuwerfen. Die Überlebenden stapeln die Toten aufeinander. Erst jetzt denkt Siegfried, „Erna, Elise … lebt ihr? Sind die Bomben auch auf unsere Wohnung gefallen? Wo seid ihr?” Die Feuerwehrmänner wissen, dass vor allem die Industriegebiete getroffen wurden, doch sicher sind sie sich nicht. Alles rennt und ruft durcheinander.

12:45

Wilhelm

„Formulieren Sie den Satz wie folgt: ‚Die stolzen Magdeburger haben heute den hinterhältigen Terrorangriff des Feindes getrotzt und stehen nun noch stolzer Seite an Seite mit dem Führer, bereit, seine Sache zu unterstützen und den Kampf zu Ende zu bringen.‘“ Die NSDAP-Männer haben Heyde gesagt, dass die Rüstungsbetriebe und Industrieanlagen getroffen wurden; Wohngebiete hat es auch erwischt, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Wichtig ist, die Produktion schnell wieder aufzunehmen, damit die in Berlin zufrieden sind. Die Bombardierung hat Chaos ausgelöst. Immer noch arbeiten die Feuerwehren, Löschtrupps eilen durch die Straßen. Bürger rennen in heller Aufregung umher. Es ist nicht gerade der ruhige Tag, den sich Wilhelm erhofft hat.

14:00

Siegfried

Er muss zu seiner Familie. Das ist das einzige, was jetzt für ihn zählt.

Wellington

Arthur Wellington streichelt den Rumpf seiner Lancaster. Wie würde dieser Flug werden? Gibt es wirklich keine Luftabwehr mehr? Das Blatt scheint sich zu wenden, endlich. Nach Jahren, in denen der deutsche Vormarsch kaum zu stoppen schien und ein Land nach dem anderen von Hitler unterworfen wurde. Doch noch ist der Krieg nicht zu Ende und Nazi-Deutschland ist noch nicht besiegt. Würde er sicher wieder nach Hause kommen? Würde er den Sieg der Alliierten erleben?

Wilhelm

Zurück im Rathaus herrscht Ratlosigkeit über den plötzlichen eingebrochenen Luftangriff. „Wo war unsere Luftabwehr?“ schreit ein aufgeregter Wehrmachtsoffizier durch die Halle. Er bekommt keine Antwort, denn inzwischen ahnt jeder, dass die deutschen Soldaten kaum noch Waffen und Munition haben. Sigrun gibt Heyde die neuesten Meldungen. „Zahlreiche Tote und Verletzte, Herr Heyde. Die Werksleiter bei Gruson, Polte und sogar bei Junkers sagen, es lässt sich nichts mehr machen, die Maschinen sind alle zerstört.“ „Na großartig“, schnaubt er sie an und stürmt in sein Büro. Ein junger Mann blickt ihn an. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“ „Ferdinand Bromann, Herr Heyde“ „Was machen Sie in meinem Büro, zum Teufel nochmal?!“ „Ich bin wegen der ausgeschriebenen Stelle gekommen.“

14:30

Der junge Mann ist Anfang 20. Sein aschblondes Haar fällt ihm in dünnen Strähnen über das Gesicht. „Warum sind sie nicht an der Front oder helfen den Löschtrupps?“ fährt er ihn an. „Nun ja, schwere körperliche Arbeit und Schießen gehören nicht gerade zu meinen Stärken, wissen Sie.“ Er streckt ihm den rechten Arm entgegen. Vom Ellbogen abwärts ist der Jackenarm leer. Er kramt ein Dokument aus seiner Tasche und legt es ihm vor. „Ich war Tischlergeselle“. Das Papier der Handwerkskammer mit Reichsadler und Unterschrift versehen. Ein offizielles Schreiben des Sanitätsoffiziers bestätigt die Wehrdienst-Unfähigkeit.

„Das ist nicht gerade der günstigste Zeitpunkt, wissen Sie. In der Stadt ist die Hölle los.“ — „Und doch suchen Sie dringend einen Schriftführer.“ — „Haben Sie denn überhaupt das Zeug dazu, ohne rechte Hand?“ — „Nun ja, ich habe gelernt, mit Links zu schreiben.“

Wilhelm mustert ihn. Was soll er mit diesem Burschen bloß machen? Mumm hat er ja, trotz des Angriffs hier aufzutauchen. „Sigrun“, ruft er, „sind noch mehr Bewerber da?“ „Er ist der Einzige, Herr Heyde“, antwortet sie.

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