Fiktive Geschichte zur Bombardierung Magdeburgs am 16. Januar 1945
Teil 4
von Ronald Kühn
21:30
Siegfried
Vernünftig war es nicht, das wusste er. Doch als Siegfried, Erna und Elise noch einen Platz im vollen Luftschutzkeller finden, fällt ihm die Familienchronik ein! Ein Erbstück, das die 300-jährige Geschichte seiner Vorfahren aufzeichnet. Sie liegt noch im Flur. Von Generation zu Generation war diese Chronik weiter gereicht worden. „Ich muss zurück“, ruft er und rennt los. Vielleicht ist es die falsche Entscheidung gewesen. Das Dröhnen der Motoren klingt sehr nah.
21:32
Wellington
Die ersten Bomben treffen ihre Ziele. Der Detonationskreis erstreckt sich beinahe über die gesamte Innenstadt. Wellington sieht im Schein der Explosionen, wie die Dächer von den Gebäuden gerissen werden und große Teile der Stadt in Schutt und Asche versinken. Häuser knicken ein wie Streichhölzer. Er fühlt nichts. Er darf nicht fühlen. Seine Gedanken gelten seiner Mission — und seiner Familie, die zu Hause auf ihn wartet.
Siegfried
Als die Stabbombe einschlägt, hat er die Chronik fast gegriffen. Die Druckwelle reißt ihn von den Füßen und wirft ihn gegen die Wand. Er spürt, wie sein Unterschenkel bricht. Schutt und Asche wirbelt umher. Ein Deckenbalken verfehlt ihn nur um wenige Zentimeter. Doch er lebt und schmeckt Blut. Wo ist die Chronik? Sie wurde vom Druck auseinander gerissen. Die Geschichte seiner Familie segelt auf einzelnen, abgebrannten Blättern durch die Luft. Mit letzter Kraft, schafft es Siegfried nach draußen.
Zofia
Zofia zuckt zusammen. Diesmal sind die Bomben lauter und näher zu hören als jene vom Vormittag. Sie kauert sich auf ihrer Pritsche zusammen und schließt die Augen. Erneut kommt ihr in die Frage, ob es nicht besser sei durch so eine Bombe schnell ums Leben zu kommen, als langsam durch das Schuften im Werk. Doch so ganz will sie die Hoffnung nicht aufgeben, dass diese Bomben auch ein Zeichen für das Ende des Krieges sein könnten.
21:33
Wilhelm
Er wacht auf. Die Welt wankt. Sie ist laut und unangenehm. Draußen ist helllichter Tag. Ohrenbetäubendes Dröhnen fällt vom Himmel. Dumpfe Schläge, metallisches Quietschen.
Fliegeralarm. Zum zweiten Mal hört er diese schreckliche Sirene, doch diesmal ist es zu spät. Die nächste Bombe zerfetzt sein Haus.
21:36
Siegfried
Flammen und Rauch erfüllen die Luft, doch noch stehen die meisten Gebäude in der Straße. Er muss zum nächsten Bunker, das ist die einzige Möglichkeit. Immer noch laufen Menschen durch die Straßen, teilweise mit Mantel, teilweise nur mit Nachthemd und Jacke, wie er. Doch Siegfried kriegt von der Kälte nichts mit.
21:45
Elise
Elise weint und weint wie ein kleines Kind. Der Bombenhagel will nicht aufhören und der Boden unter ihr bebt. Fremde Menschen halten einander fest, um nicht umgestoßen zu werden und vielleicht auch, um sich zu trösten. Die Druckwelle der Detonationen ist auch hier zu spüren. Elise bemerkt als erste den schwarzen Rauch, der durch den kleinen Lüftungsschacht eindringt. Eine halbe Stunde später verliert sie das Bewusstsein.
22:00
Wellington
Als sie abdrehen, gleicht die Stadt einem Flammenmeer „Haltet es für die Nachwelt fest“, ruft er seinem Sergeanten zu, der regungslos auf das Inferno am Boden starrt. Zukünftige Generationen sollen begreifen können, was genau an diesem Tag passiert — und warum es passieren musste.
Siegfried
22:05
Seit dreißig Minuten herrscht die Hölle auf Erden. Ihm kommt es wie eine Ewigkeit vor. Die Menschen im Bunker halten sich verzweifelt an ihren Nebenleuten fest. Aber auch die Hölle geht vorüber…und wird durch die nächste ersetzt.
22:30
Als er den ersten Fuß aus dem Bunker setzt, schlägt ihn ein heißer Wind hart ins Gesicht und scheint ihn in Richtung des Feuersturms zu zerren, der die Innenstadt blutrot erleuchtet. Seine Heimatstadt war Geschichte.
22:40
Verzweifelt taumelt er durch den Schutt, wie die anderen Überlebenden, die es tatsächlich geschafft haben. Dazwischen aber verkohlte Leichen, Tod und Verderben. Als er am Schutzkeller seiner Familie ankommt, sieht er, dass die Tür von Trümmern versperrt ist. Mit bloßen Händen schiebt er schweres Geröll zur Seite, verbrennt sich die Finger am noch heißen Gestein, bis der Durchgang den Weg freigibt.
Zofia
Seit geraumer Zeit ist es still ums Lager geworden. Kein Donnern ist mehr zu vernehmen. Zofia hat keine Ahnung wie es den Arbeiterinnen aus der Nachtschicht ergangen ist. Wo haben sich wohl die Lageraufseher während der Bombardierung aufgehalten? Hatten sie einen Bunker? Haben sie uns etwa allein unserem Schicksal überlassen? All jene Gedanken schießen ihr gerade durch den Kopf. Wäre das wohl die Möglichkeit für einen Fluchtversuch gewesen? Doch bevor Zofia versuchen kann sich ihre Fragen zu beantworten öffnet sich zum wiederholten Male an diesem Abend die Barackentür. Ein weiterer Aufseher tritt kurz ein und sagt, dass nichts passiert sei. Nicht das erste Mal, dass Zofia und die anderen Häftlinge in Unklaren gelassen werden. Vor innerlicher Unruhe fällt es ihr jetzt schwer einzuschlafen. Doch die Erschöpfung siegt über Zofias ermatteten Körper und ihre Augen schließen sich bald.
23:00
Siegfried
Dichte Rauchschwaden drängen nach außen. Im Schutzraum liegen Menschen übereinander. Viele scheinen nicht mehr zu atmen, nur wenige zeigen eine Regung. Er sieht Freunde, Bekannte, Nachbarn…und seine Frau Erna. Sie hält Elise im Arm, die bewusstlos ist. Andere Helfer drängen in den Raum. Siegfried zieht seine Familie aus dem qualmenden Keller, zurück an die Oberfläche.
23:10
„Siegfried, ich weiß nicht, ob Elise noch atmet..:“, schluchzt Erna. „Elise, Elise“, rief er verzweifelt, „komm schon, wach doch auf, bitte!“ Er berührt ihr Gesicht und spürt die Hitze. Seine Hände zittern.
23:30
„Ist…es vorbei?“ hören Siegfried und Erna eine leise Stimme. Er will weinen, kann aber nicht mehr. Die Hitze hat alle Flüssigkeit verbraucht. Siegfried steht da, mit Schmerzen im Bein und mit seiner noch lebenden Tochter in den Armen, glücklich inmitten all der Zerstörung. Das Dach ihres Hauses bricht mit einem lauten Krachen zusammen. Der Ort, der jahrzehntelang seiner Familie gehört hatte, wird von den Flammen hinweggefegt. Egal — sie leben. „Ja, es ist vorbei.“, sagt Siegfried. Und damit meint er nicht nur den Luftangriff.
00:30
Wellington
Zurück in England — der Einsatz war ein Erfolg. Wellington ist zufrieden. Die Rüstungsfabriken der Nazis sind mit diesem Angriff fast vollständig zerstört. Doch er freut sich nicht. Er weiß, dass tausende Menschen in den Flammen den Tod gefunden haben.
01:00
Ein langer Tag geht zu Ende. Das Pochen hinter seinen Schläfen ist weg. Jetzt kann er etwas Ruhe finden, Ruhe vor den Geistern des Krieges. Ohne Eile zieht er seine Uniform aus und hängt sie in den Spind. Morgen ist ein neuer Tag, mit neuen Einsätzen. Kleine Schritte, denkt er, es sind kleine, grausame Schritte, bis dieser Krieg endlich vorbei sein wird, bis die nationalsozialistischen Verbrecher endlich aufgeben werden.