Fiktion als erstes Prinzip

Fiktion ist ein erstes Prinzip aufgrund der sprachlichen und der Philosophie-Geschichte des Prinzips überhaupt. Wie kann das sein?

Jörg Ossenkopp
5 min readJul 10, 2022
Ausschnitt aus dem Titelbild der englischen Übersetzung von Jean-Pierre Vernant “Origins of Greek Thought”

Prinzip kommt vom lateinischen principium und das wiederum ist die lateinische Übersetzung des griechischen arché. Bei Anaximander von Milet kann man den Umschlagpunkt sehen, an dem arché nicht mehr nur Anfang bedeutet, sondern wo es die philosophische Bedeutung von Prinzip annimmt. Dies ist der historische Emergenzpunkt des philosophischen Prinzips. Genauer: es ist Anaximanders Prinzip des Unbegrenzten, apeiron, das an diesem Umschlagpunkt steht, das an diesem Emergenzpunkt hervorgeht.

Schaubild eines Gnomon, Quelle

Anaximanders geschichtliche Bedeutung liegt zunächst darin, dass er ein Vorläufer der Naturwissenschaft ist. Er entwickelte aus einem geometrischen Ansatz heraus eine Art Sonnenuhr, den Gnomon, der nicht nur die Uhrzeit sondern auch die Tag- und Nachtgleiche anzeigte, die im Frühling einen Orientierungspunkt für die Aussaat darstellt. Zudem war er der erste, der zu Navigationszwecken den Schritt über Reisebeschreibungen hinaus machte und eine graphische Karte des bekannten Erdkreises in seinen Größenverhältnissen erstellte, indem er die Land-und-Meer-Grenze aufzeichnete. Neben weiteren von ihm überlieferten Spekulationen zur Herkunft der Menschen von den Fischen und zur Existenz multipler Universen hielt Anaximander in seiner Suche nach Erklärungen hier jedoch nicht an.

Erste griechische Karte der bekannten Erde von Anaximander

Seine geometrischen, geographischen und astronomischen Arbeiten betrafen vor allem das Ziehen von Linien und das Aufzeichnen von Grenzen. Alle Dinge sind dadurch gekennzeichnet, dass man ihre Grenzen feststellen kann, darin liegt auch der Wortstamm von Empirie. Für Anaximander sind das aber nur Momentaufnahmen, und er stellt sich die Frage nach einer Beschreibungsmöglichkeit der Dynamik des Entstehens und Vergehens der Dinge. Und hier wählt er eine poetische Form, oder sogar die Form der Tragödie.

Ganz links unten auf Raffaels Fresko “Die Schule von Athen” (1510/11), an seiner physikalischen Grenze, findet sich der Milesier Anaximander, der Pythagoras von Samos über die Schulter schaut

Anaximander wird beschrieben als jemand, der einen künstlichen, der Tragödie entlehnten Habitus an den Tag legte, auch durch seine Kleidung, und auch dadurch spätere Philosophen beeinflusste:

Diodor von Ephesos, der über Anaximander schreibt, sagt, Empedokles habe Anaximander nachgeahmt, indem er seine tragische Aufgeblasenheit übernommen und seine feierliche Kleidung angelegt habe.

Diog. Laert. 8,70 (DK 12 A 8)

Laut Anaximander erfolgt alles Entstehen und alles Vergehen notwendig aus dem Prinzip des Unbegrenzten heraus und wieder in es hinein. Das Entstehen aus dem Unbegrenzten heraus nimmt solange zu, wird mehr und mehr, bis es zunächst einen stabilen Zustand erreicht und dann ein Übermaß, ein ungebührliches und wirres Zuviel, erreicht, adikia, was Heidegger mit „Unfug“ übersetzen möchte, und das dann durch eine gerechte Zerstörung wieder ins Unbegrenzte zurück überführt wird. Dies ist für Anaximander die Ordnung der Zeit. Anaximander geht hier nicht mehr geometrisch vor sondern erzählend, poetisch, tragödisch.

Er entwirft bildhaft eine Szene, eine Bühne der Weltvorgänge, auf der immer das gleiche Spiel aufgeführt wird. Die Dinge treten aus dem apeiron heraus auf, werden schuldlos schuldig durch das Übertriebene, das notwendigerweise nach dem Sich-Etablieren auftritt und die Schuld wird durch die gerechte Zerstörung gebüßt, die das Wiederaufgehen im Unbegrenzten bedeutet. Hier haben wir die wiederum erzählerische Struktur der Ordnung der Zeit: Anfang, Mitte, Ende. Das apeiron ist selbst nicht dinghaft, kann nicht mit Mitteln der Geometrie erfasst werden. Dennoch ist es das Prinzip aller Dinge, ta onta.

Aristoteles bringt in seiner Beschreibung von Anaximanders Gedanken einen Unterschied in Anschlag, der ins Deutsche als der von Prinzip und Prinzipiatum übersetzt wird, arché und ex archés. Das Unbegrenzte ist Prinzip und alles geometrisch Dinghafte und dessen Dynamik ist das Prinzipiatum. Das apeiron als Erklärung für die Dynamik des dynamisch Dinghaften ist eine Verneinung, a-peiron. Grenzenziehen und Geometrie ist ein Verifikationsstil im Bereich des Dinghaften. Der Verifikationsstil außerhalb des Dinghaften, dort, wo die Dynamik einsetzt und wohin die Dynamik geht, der Grund der Dynamik, ist ein tragisches Erzählen, eine klassische Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende, von antiken Kommentatoren Anaximanders schon als poetisch klassifiziert. Eine nicht mehr verneinende alternative Bezeichnung für das erste Prinzip apeiron, die nicht mehr auf die Nicht-Messbarkeit und Nicht-Geometrizität abzielt, sondern positiv auf die Form der Erklärung, wäre somit: das, was erzählt werden muss. Und das, was erzählt werden muss ist die Geschichte, oder aber mit einem Lehnwort aus dem Lateinischen: die Fiktion.

Mosaik aus der Johannisstraße in Trier (etwa 300 n.Chr.)

Das Erzählende der Fiktion baut auf auf den Leistungen der Geometrie, ist aber nicht mehr Teil von Geometrie sondern bereitet auf Geometrie vor. Insofern bestimmt auch hier das Prinzipiatum des geometrischen Dinghaften wiederum das Prinzip, negativ apeiron, oder eben nicht mehr negativ: Fiktion. Die Fiktion ist der messbaren Realität vorgängig, noch nicht Teil von ihr. Dennoch ist sie nicht konsequenzlos, sie ist nicht wirkungslos, die Fiktion generiert etwas. Aus der Fiktion heraus entsteht das Dinghafte, das geometrisch messbar ist, und in die Fiktion hinein wird es aufgelöst und verschwindet damit aus der messbaren Realität. Ganz zentral dabei ist, dass die Fiktion hier nicht beliebig ist. Wir sind vielleicht gewöhnt daran, Fiktion gegenüber dem empirisch Messbaren in der Art unseres vorherrschenden Verifikationsstiles abzuwerten, das ist bei Anaximander noch nicht so. Dem Prinzip apeiron, oder wie wir vorschlagen es zu nennen, Fiktion, ist ein eigener Verifikationsstil zugeordnet. Mehr noch, die Gerechtigkeit ist Teil der Fiktion, als Kombination von Erzählung und Maßnahmen, genauso wie die Ordnung der Zeit, als Kombination von einerseits Erzählweise und andererseits Geschehnissen oder Dynamik.

Zunächst scheint sich Anaximander bei dem Prinzipiierten des Prinzips apeiron auf das geometrisch Dinghafte einzuschränken. Schaut man genauer hin, so ergibt sich, dass auch dike und adikia, Recht und Unrecht, Teil des Prinzipiierten sind, und dass eben auch hier die Formgebung durch die Ordnung der Zeit entscheidend ist. Das Prinzipiierte des Prinzips Fiktion ist also nicht nur die Welt der messbaren und verifizierbaren Dinge, sondern auch Politik und vorher noch die Bildung von Gemeinschaften. Das gilt es weiter zu verfolgen.

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Jörg Ossenkopp

Philosopher and Techie, interested in values and leadership