RKI: „Wir können die COVID-19-Ausbreitung verlangsamen”

15 Empfehlungen und Einordnungen des Robert-Koch-Instituts nach dem Rekordanstieg der Infektionszahlen in Deutschland

Torsten Cordes
Torsten Cordes
32 min readOct 24, 2020

--

Der folgende, neue Coronavirus-Beitrag wurde von mir im deutschsprachigen Original verfasst. Übersetzungen sind gerne willkommen. Schreibe mich dafür gerne über meine Medium-Kontaktfunktion an.

Vielen Dank auch an meinen geschätzten Kollegen Tomas Pueyo, dass ich Teil seines internationalen Teams sein darf. Seine Coronavirus-Artikel wurden über 60 Millionen Mal angesehen und in über 40 Sprachen übersetzt. Ich bin dankbar für die zahlreichen Inspirationen und dafür, dass ich in den letzten Monaten mit diesen lektorierten Übersetzungen dazu beitragen durfte, das allgemeine Wissen über die Umgangsmöglichkeiten mit dem Coronavirus zu verbessern:

Der folgende, neue Beitrag informiert dich darüber,

  1. wie die Bewertung des Robert-Koch-Instituts (RKI) zur Pandemielage in Deutschland nach dem Rekordanstieg der Infektionszahlen ausfällt,
  2. wie und an welchen Orten wir uns mit dem Coronavirus anstecken,
  3. wie hilfreich ein Kontakttagebuch zur Nachverfolgung von Quell-Clustern ist,
  4. wie die neue Symptom-Funktion der Corona-Warn-App zu genaueren Warnungen führt,
  5. welche Meinung das RKI zu Änderungsvorschlägen zum Schutz von Risikogruppen hat,
  6. warum das RKI eine Ü50-Inzidenzkennzahl für sinnvoll und einen 100er-Inzidenzgrenzwert nicht für sinnvoll hält,
  7. ob Deutschland aktuell und vorausschauend eine ausreichend verfügbare Intensivbettenkapazität hat,
  8. was von Vermutungen zu halten ist, nach denen steigende Positivraten automatisch auf vermehrte Tests zurückzuführen sind und nach denen die Sterberate gesunken ist,
  9. welche noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten an Maßnahmen das RKI sieht, um Forderungen nach einem zweiten Lockdowns zuvorzukommen,
  10. welche Meinung das RKI zu einem sogenannten “Circuit-Breaker” hat,
  11. ob das RKI Schulen als Pandemietreiber sieht und wie das Institut die Nichtumsetzung mancher Maßnahmenempfehlungen an Schulen beurteilt,
  12. welche Ansicht das RKI zu Veranstaltungsöffnungen mit hohen Sicherheitsanforderungen hat,
  13. ob ein Kontrollverlust droht und was eine unkontrollierte Ausbreitung für Deutschland bedeuten könnte,
  14. ob extrem hohe Fallzahlen, wie sie aktuell in manch anderen europäischen Staaten zu sehen sind, nach Ansicht des RKI in Deutschland noch vermeidbar sind.
  15. warum die Impfstoffentwicklung so lange dauert und warum zeitliche Prognosen für einen Impfstart nicht verlässlich sind.

Falls dir dieser Artikel gefällt, registriere dich gerne hier, um die nächsten deutschsprachigen Beiträge zu erhalten.

Coronavirus: RKI wendet sich nach dem Rekordanstieg in Deutschland an die Öffentlichkeit

Berlin. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete für den 21. Oktober 2020 in Deutschland einen Rekordanstieg der täglichen Infektionszahlen auf über 11.000 Covid-19-Erkrankte. RKI-Präsident Lothar Wieler bewertete daraufhin am Donnerstag, 22. Oktober 2020, die Infektionslage in Deutschland in einer rund einstündigen Online-Live-Übertragung (Anm. d. Red.: Die Aufzeichnung ist am Ende dieses Artikels verlinkt).

Nach dem Lagebericht ordnete der RKI-Präsident außerdem weitere, aktuelle Themen rund um das Coronavirus für die anwesende Presse und die zuschauende Öffentlichkeit ein.

1. Bewertung der aktuellen Pandemielage in Deutschland

Lothar Wieler wandte sich in seinem Lagebericht mit einem Appell an die Bevölkerung: Es müssten sich noch mehr Menschen an die Regeln halten. Die Situation sei inzwischen „sehr ernst geworden“. Ebenso bedankte er sich bei der Bevölkerung für die bisherige Einhaltung der AHA- plus L-Regeln.

„Das Infektionsgeschehen nimmt vielerorts rasant zu“, so der Präsident des Robert-Koch-Instituts. „Derzeit haben wir noch die Chance, die weitere Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Jeder kann dazu beitragen. Wir sind nicht machtlos, sondern wir können etwas bewirken, indem wir alle die AHA- plus L-Regeln konsequent beherzigen.“

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Man müsse damit rechnen, so Wieler weiter, dass sich das Virus in Deutschland — zumindest in einigen Regionen — auch weiterhin stark ausbreiten werde und dass sich das Virus sogar unkontrolliert ausbreiten könne:

„Seit Beginn der Pandemie bis heute, 22. Oktober 2020, wurden dem Robert-Koch-Institut insgesamt 392.049 COVID-19-Fälle von den Gesundheitsämtern übermittelt — darunter auch 9905 Todesfälle. Wir schätzen, dass etwa 306.000 Menschen die akute Infektion inzwischen überstanden haben.

Die Fallzahlen sind seit Anfang September von Woche zu Woche gestiegen und sie steigen auch immer noch schnell an: Anfang Oktober wurden täglich zwischen 1.000 und 4.000 Fälle ans Robert-Koch-Institut übermittelt. Inzwischen sind es zwischen 4.000 und 11.000 Fälle.

Heute haben wir mit 11.287 Fällen die höchste bisherige Infektionszahl.*

(* Anm. d. Red.: Die am Morgen des 22. Oktober vom RKI veröffentliche Zahl beschreibt die Erkrankungen des Vortages)

In den letzten 7 Tagen sind etwa dreimal so viele Fälle übermittelt worden, als vor 2 Wochen.

Bundesweit liegt die 7-Tage-Inzidenz, also pro 100.000 Einwohner, derzeit bei 56,2 Fällen. Vor zwei Wochen lag sie noch bei 20,2 Fällen und Anfang Juni sogar nur bei 3 Fällen.

Wenn wir auf die vorliegende Grafik schauen, können Sie drei Aufbereitungen sehen, die ein wenig Einblick geben, wie sich das Infektionsgeschehen in den letzten Monaten entwickelt hat: Auf der linken Seite sehen Sie die Deutschlandkarte vom 22. August und auf der rechten Seite die Karte vom heutigen 22. Oktober.

Geografische Darstellung der labordiagnostisch bestätigten COVID-19-Fälle aus den RKI-Lageberichten vom 22. August (links), vom 22. September (Mitte) und vom 22. Oktober 2020. / Quelle: Robert-Koch-Institut

Man sieht sehr schön, wie sich die Farben verändern. Links sehen Sie noch einen großen Anteil von grauen und weißen Flächen. Das sind Landkreise, die entweder gar keine Fälle übermittelt hatten oder in denen die Inzidenzfallzahlen zwischen 0 und 5 lagen.

Sie sehen, dass sich am 22. September — also vor vier Wochen — bereits mehr gelbe Fläche und orange Flächen zeigen — also Kreise, in denen die Inzidenz 35 pro 100.000 überschritten wurde. Am 22. September gab es insgesamt nur zwei Bereiche, in denen es rot war — also über der Inzidenz von 50.

Ganz rechts, also am 22. Oktober sehen Sie, dass die Karte deutlich dunkler geworden ist. Das Geschehen steigert sich drastisch: Inzwischen haben wir viele Landkreise, die über 50 liegen.”

Es gebe somit nur noch wenige Landkreise, deren 7-Tages-Inzidenz unter 5 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt.

Weiterhin erklärte RKI-Präsident Lothar Wieler, dass im Moment immer noch vor allem jüngere Menschen betroffen seien.: „Wir sehen aktuell noch mehr leichte Erkrankungen. Der Grund ist das Alter der Betroffenen.”

Darstellung der übermittelten COVID-19-Fälle pro 100.000 Einwohner in Deutschland nach Altersgruppen und Meldewoche / Quelle: RKI-Lagebericht vom 20. Oktober 2020

Allerdings ergebe es Sinn, die Zahlen im Kontext einzuorden: „Auch der Anteil der erkrankten Menschen über 60 Jahren”, so Wieler weiter, „steigt bereits wieder. Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern nehmen ebenfalls wieder zu.”

Gleiches gelte auch für die Hospitalisierung: Es werden wieder mehr COVID-Patienten im Krankenhaus behandelt. Auch müssen immer mehr Menschen intensivmedizinisch behandelt werden. Aktuell sind es 1203 Patienten (Stand: 24. Oktober). Diese Zahl hat sich in den letzten beiden Wochen verdoppelt.

Des Weiteren versterben wieder mehr Menschen an COVID-19 als noch vor einigen Wochen. Lothar Wieler: “Wir müssen also davon ausgehen, dass die schweren Fälle zunehmen und dass auch die Zahl der Toten wieder steigen wird.”

An das RKI übermittelte COVID-19-Todesfälle nach Sterbewoche / Quelle: RKI-Lagebericht vom 20. Oktober 2020.

Weiterhin ging Wieler darauf ein, wo sich die Menschen mit Sars-CoV-2 anstecken: “Das Virus verbreitet sich naturgemäß überall dort, wo Menschen zusammenkommen — und zwar vor allem dort, wo sie gerne und intensiv zusammenkommen.

Es gibt viele COVID-19-Infizierte, die niemanden anstecken. Und es gibt einige Fälle, die besonders viele Menschen anstecken — und zwar in ganz bestimmten Situationen. Das sind die sogenannten Superspreading-Events — zum Beispiel bei großen Feiern im Freundes- und Familienkreis, bei privaten Geburtstagsfeiern, Hochzeitsfeiern oder ähnlichen Feiern.”

Ab zwei Fällen spreche man von einem Cluster oder einem Ausbruch. Die Gesundheitsämter versuchen, diese Cluster oder Ausbrüche möglichst schnell und vollständig nachzuvollziehen. Das sei aber nicht immer möglich — man könne nicht immer in jedem Fall einen Ausbruch zuordnen. Das gelinge nur bei einem Teil der Fälle.

“Ich zeige Ihnen eine Grafik, in der aufgeschlüsselt wird, wo Ausbrüche passieren”, erklärte der RKI-Präsident weiter. „Es handelt sich um Daten, die uns von den Gesundheitsämtern übermittelt werden. Sie sehen eine Grafik, in der Ausbrüche abgebildet sind, die größer als 5 Fälle sind:

Darstellung der gemeldeten COVID-19 Fälle nach Infektionsumfeld und Meldewoche, die vom jeweiligen Gesundheitsamt einem Ausbruch zugeordnet wurden. Abgebildet werden nur Ausbrüche, die 5 oder mehr Fälle enthalten. / Quelle: RKI-Lagebericht vom 20. Oktober 2020.

Auf der linken Seite sehen Sie die Fallzahlen. Jeder Balken in der Grafik steht für eine Woche — sie fassen also die Ergebnisse von einer Woche zusammen. Unten sehen Sie die Wochen im Kalenderjahr.

Der höchste Peak ist links — im April und März — dieses Jahres zu sehen. Dann gibt es einen kleinen Peak im Juni mit stark roten Farben. Und rechts sehen Sie die aktuellen Wochen.

Am Anfang der Pandemie — also im März und April — sind sehr viele blaue und dunkelblaue Farben zu sehen. Das sind Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen, in Flüchtlingsheimen und auch im privaten Haushalt.

Man sieht, dass die Anzahl der Ausbrüche im Sommer zunächst geringer war. Seit September nehmen sie wieder zu. Und Sie sehen vor allem auch, dass sich die Farben verändern. Die Anzahl der Ausbrüche in privaten Haushalten nimmt deutlich zu. Das ist eine wichtige Information.

Ausbrüche in Verkehrsmitteln spielen — nach den Daten, die wir von den Gesundheitsämtern übersendet bekommen — keine so große Rolle.

Im Juni steckten sich viele Menschen am Arbeitsplatz an. Das sind die roten Balken. Dabei handelte es sich vorwiegend um fleischverarbeitende Betriebe. Wir sehen auch, dass Ausbrüche nach Übernachtungen — beispielsweise in Hotels — eher selten vorkommen.”

Ansteckungen in Schulen, beziehungsweise Schulausbrüche, werden ebenfalls an das Robert-Koch-Institut übermittelt. Sie seien zwar bisher nicht sehr häufig, aber klar sei, betonte Wieler: Je stärker die Fallzahlen in Deutschland steigen würden, desto häufiger wären auch Schulen.

“Ein Großteil der Menschen steckt sich mittlerweile also im privaten Umfeld an”, fasste Wieler weiter zusammen. “Das ist das Wesentliche, was ich Ihnen mit dieser Grafik zeigen möchte.”

Diese vom RKI genannten Daten sind auch in täglichen Situationsberichten auf der Website des Instituts einsehbar.

„Was heißt das für uns? Welche Schlüsse ziehen wir daraus, die wir Ihnen vermitteln möchten? Es kommt im privaten Umfeld zu vielen Ansteckungen, weil wir dort sehr nahe beieinander leben.

Damit wir uns im Haushalt überhaupt anstecken können, muss das Virus allerdings erstmal in den Haushalt gelangen. Hier gibt es oft ein Zusammenhang mit privaten Feiern, mit Zusammenkünften von Freunden und Familien. Die Menschen stecken sich dort an und tragen das Virus in ihren Familien oder Wohngemeinschaften weiter.”

Laut der COSMO-Studie, die von der Universität Erfurt federführend geleitet wird und mit Beteiligung des Robert-Koch-Institut entstand, wissen 2 von 3 Menschen in Deutschland, dass das Ansteckungsrisiko bei privaten Treffen mit mehr als 10 Personen besonders hoch ist. „Wenn wir uns an die AHA- plus L-Regeln halten”, betonte Lothar Wieler, „wenn wir also auch in geschlossenen Räumen besonders umsichtig sind, dann stecken wir uns als auch unsere Familienmitglieder und Mitbewohner weniger an.

Ergebnisse aus dem COVID-19 Snapshot MOnitoring (COSMO-Studie) / Universität Erfurt

Das ist die gute Nachricht: Wir können viel selbst dazu beitragen, Ansteckungen zu verhindern. Und wenn wir uns doch angesteckt haben, dann können wir mit Quarantänemaßnahmen die Ansteckungsgefahr für unsere Familie und Freunde weiter verringern.

Daher meine Bitte an alle: Bitte nehmen Sie die Symptome und auch die Warnungen aus der Corona-Warn-App ernst und wenden Sie sich dann an ihr Gesundheitsamt.”

Symptome und Verlauf der Erkrankung COVID-19. / Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Deutschland sei in den vergangenen Monaten im Vergleich zu vielen anderen Ländern — auch in nächster Nachbarschaft — sehr gut durch die Pandemie gekommen. RKI-Präsident Lothar Wieler führt das unter anderem auf das überwiegende Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung zurück: „Das haben wir einerseits Ihnen allen zu verdanken, weil Sie sich an die AHA- und L-Regeln gehalten und dadurch Infektionen verhindert haben. Wir haben das aber auch der Tatsache zu verdanken, dass wir in Deutschland eine gute Strategie haben, die wir von Anbeginn verfolgen.

Wir haben 3 wesentliche Elemente der Pandemie-Bekämpfung, die parallel miteinander kombiniert werden. In der Fachsprache sind das

  • Containment
  • Protection
  • Mitigation.

Auf Deutsch: die Eindämmung, der Schutz und die Milderung.

Zusammenwirken von zentralen Komponenten der Strategie zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie. / Quelle: RKI-Lagebericht vom 19. März 2020.

Eindämmung bedeutet, neue Fälle zu verhindern. Das machen wir alle durch das Einhalten der AHA- plus L-Regeln und durch die Nutzung der Corona-Warn-App nutzen. Und vor allem machen das natürlich auch die Gesundheitsämter, indem sie zum Beispiel Infizierte isolieren, Kontakte nachverfolgen und unter Quarantäne stellen, sodass diese andere Menschen nicht infizieren können.

Schutz heißt, dass wir besonders gefährdete Gruppen schützen. Zum Beispiel gibt es in vielen Altenheimen inzwischen sehr gute Hygienekonzepte, um die Bewohner vor dem Eintrag des Virus zu schützen.

Milderung bedeutet, dass man die Auswirkungen der Pandemie abmildert. Ein Beispiel dafür ist, dass man Behandlungskapazitäten ausweitet. Ein anderes: Es stehen nun bessere Therapien zur Verfügung.

Diese drei Elemente — Eindämmung, Schutz und Milderung — greifen ineinander und wir müssen alles dafür tun, dass alle drei Elemente weiter bestehen bleiben.

Lassen Sie mich noch einmal das Wichtigste zusammenfassen:

  • SARS-CoV-2 verbreitet sich überall dort, wo Menschen zusammenkommen.
  • Unser Ziel ist es, die Infektionen auf ein Level zu bringen, mit dem die Gesundheitsämter, die Krankenhäuser und die Ärzte umgehen können.
  • Unser Ziel ist es, so wenig neue Infektionen wie möglich zu haben.
  • Nur so können wir schwere Verläufe und Todesfälle verhindern.
  • Nur so kann unser Alltag — ohne allzu große Einschränkungen — weitergehen.

Wir können die Ausbreitung von COVID-19 in Deutschland verlangsamen. Wir alle können dazu beitragen, indem wir die AHA- plus L-Regeln beherzigen, mindestens 1,50 m Abstand halten, die Hygieneregeln beachten, Alltagsmasken tragen — und zwar bitte korrekt über Mund und Nase — und lüften, wenn wir in geschlossenen Räumen zusammenkommen.

An dieser Stelle auch noch mal mein Appell an die Gesundheitsämter: Bitte ermitteln Sie weiterhin Infizierte und Kontaktpersonen. Mit jedem Fall, den sie erkennen und isolieren, verhindern Sie weitere Fälle. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesundheitsämter leisten großartige Arbeit und dafür möchte ich mich an dieser Stelle nochmal ausdrücklich bedanken. Machen Sie weiter so.

Wir alle sind von dieser Pandemie betroffen und wir alle können sie auch nur gemeinsam durchstehen. Und wir werden sie auch gemeinsam durchstehen.“

2. Wie und wo stecken wir uns mit dem Virus an?

Im Anschluss an sein eigenes Statement klärte Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, die zuschauende Öffentlichkeit mit der Beantwortung von Pressefragen über weitere Themen zum Pandemiegeschehen auf.

Im RKI-Lagebericht vom 20. Oktober 2020 heißt es zu den Ausbruchsgründen, dass nur rund ein Viertel der gemeldeten COVID-19-Fälle konkreten Ausbruchsgründen zugeordnet werden kann. Von allen Fällen in Ausbrüchen entfallen etwa 35 Prozent auf kleinere Ausbrüche mit einer Größe von 2 bis 4 Fällen pro Ausbruch, die in der oben gezeigten Grafik nicht dargestellt sind. Zusätzlich seien weitere Variablen dafür verantwortlich, die nicht oder nur schwer analysierbar seien, so der RKI-Präsident.

„Je mehr Fälle auftauchen”, so Wieler weiter, „desto schwieriger wird es für die Gesundheitsämter, das Geschehen nachzuvollziehen. Es gibt dabei immer Fälle, deren Quelle man nie nachvollziehen kann. Das liegt zum einen daran, dass sich die Menschen nicht erinnern. Es sind nicht immer so einfache Events, an die man sich erinnert — wie zum Beispiel an eine Party zu Hause. Alles, was wir nicht in den Gesundheitsämtern erfassen können, können wir auch nicht analysieren.“

Die Gesundheitsämter verwenden eine bestimmte Software, die vom RKI zur Verfügung gestellt wird. Aber sie werde nicht von allen Gesundheitsämtern genutzt, so Wieler weiter. Etwa 270 würden sie zurzeit nutzen. „In der Software kann man bestimmte Felder anklicken, deren Definitionen wir auch kontinuierlich überarbeiten. Sie wird also auch immer feinteiliger, sodass es über die Zeit auch immer wieder andere Angaben geben wird, die es im März und April vielleicht noch gar nicht gab.“ Gleichzeitig werde es aber auch immer einen nicht analysierbaren Graubereich geben.

Außerdem gäbe es auch viele Einzelfälle, die gar nicht unter Ausbrüchen zusammengefasst werden können. Diese Einzelfälle haben sich irgendwo im Rahmen von Ausbrüchen angesteckt, was aber oft nicht nachvollziehbar sei.

Dennoch seien die zumindest vorhandenen Daten ein wichtiger Einblick — auch wenn ein großer Teil ein Graubereich bleibe. Dieser werde übrigens mit der Zeit dadurch geschlossen, dass die Wissenschaft einzelne Ausbrüche nachvollzieht, darüber publiziert und im Idealfall herausfindet, wo sich die Menschen getroffen haben.

Der entscheidende Punkt bleibt für den Präsidenten des RKI die mittlerweile bekannte Art und Weise, auf die sich Menschen vor allem anstecken: „Dort, wo Menschen gerne zusammenkommen und sie sich kennenlernen wollen, ist die Interaktion natürlich viel intensiver. Es gibt inzwischen sehr schöne Grafiken und Simulationen dazu. Zum Beispiel vom Riken-Institut in Japan. Dort sehen Sie Menschen an einem Tisch. Wenn eine Person spricht, kommen Aerosole und Tröpfchen aus dem Mund dieser Person und werden auf die anderen übertragen.

Simulation von Aerosolen des RIKEN-Instituts, Japan / Link-Quelle: YouTube-Channel Reuters.

Wenn man intensiv zusammensitzt, intensiv diskutiert, lacht und fröhlich ist, dann ist die Chance viel größer, dass sich ein Virus ausbreitet, solange eine infizierte Person darunter ist.“

Es sei deshalb plausibel, dass es zum Beispiel im Bereich der öffentlichen Nahverkehrsmittel bislang wenig kritische Signale gebe. Wenn Menschen in der U- oder S-Bahn oder mit dem Zug unterwegs seien, dann würden sie dort in der Regel nicht interagieren. Sie würden sich mit sich selbst befassen, es werde nicht viel gesprochen, man lese vielleicht einen Text, träume durch die Gegend oder höre einen Podcast. Dort sei die Interaktion also vergleichsweise weniger intensiv.

Die privaten Umfelder seien diejenigen, in denen es am meisten Infektion gebe, gab Lothar Wieler zu bedenken: „Deshalb müssen wir wirklich sehr viel Energie darauf verwenden. Es gibt ja auch einige Maßnahmen von den Bundesländern, die in diese Richtung gehen — also die Beschränkung der Anzahl von Menschen, die sich im privaten Umfeld treffen dürfen, die Beschränkung von Veranstaltungen auf eine Höchstzahl an Teilnehmern. Das geht ja alles genau in diese Richtung.“

Das sei der Hintergrund für die Empfehlung des RKI, im privaten Bereich wirklich vorsichtig zu sein und Feiern — wenn es irgendwie geht — einfach zu vermeiden oder die Anzahl der Personen, die bei diesen Feiern sind, so gering wie möglich zu halten.

3. Wie funktioniert die Nachverfolgung von Quell-Clustern? Wie hilfreich ist ein Kontakttagebuch?

Mit Sorge blickt Lothar Wieler darauf, dass einige Städte und Kreise den vollständigen Infektionsschutz kaum noch leisten können:

„Das ist ernst und besorgniserregend. Das ist gar keine Frage. Aber: Je stärker wir die Eindämmung einhalten können — sprich, je mehr die Gesundheitsämter leisten können –, desto besser.

Es gibt Länder, die vor einigen Monaten die Kontaktnachverfolgung eingestellt haben, weil sie es überhaupt nicht mehr geschafft haben. Die Quintessenz daraus ist: Jeden Kontakt, den man findet, jeden Ausbruch, den man immer noch nachvollziehen kann, vermindert weitere Ansteckungen — auch, wenn man nicht mehr alles schafft. Das ist nicht befriedigend. Aber: Jede Anstrengung, die man unternimmt, reduziert immer noch das Weitertragen der Infektionen.

Kontaktpersonennachverfolgung bei SARS-CoV-2-Infektionen. / Quelle: RKI.

Wir dürfen nicht aufgeben, sondern müssen stets nach bestem Wissen und Gewissen weitermachen. Für die Unterstützung der Gesundheitsämter haben unter anderem rund 500 Containment-Scouts, und wir werden auch noch mehr einstellen und so die Kapazität erweitern.”

In der Kontaktnachverfolgung seien die Gesundheitsämter vor allem darauf angewiesen, dass sich Infizierte erinnern, wo sie gewesen sind. Prof. Dr. Christian Drosten hatte dazu erstmals im August 2020 in einem Gastbeitrag für die Nachrichtenseite Die Zeit ein Kontakttagebuch vorgeschlagen.

„Ein Tagebuch”, so Wieler weiter, „das zeigt, wo Infizierte wann gewesen sind, ist natürlich eine große Hilfe. Die Suche der Gesundheitsämter geht ja immer nach hinten. Also ich versuche nachzuvollziehen, wo eine Person gewesen ist. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Aber jede Person, die sie dann in dem Raum identifizieren, ist auf jeden Fall eine, die nach vorne hin kein neues Quell-Cluster hervorrufen kann. Das ist ein sehr hoher Wert.

Bei der Ermittlung von Infektions-Clustern gebe es zwei Aspekte, die man stets im Auge behalten müsse, betonte Wieler: „Einerseits schaut man zeitlich nach hinten und man versucht, das Quell-Cluster zu finden. Wenn das gelingt, dann ist es gut. Wenn es nicht gelingt, ist es zwar weniger gut, aber man wird trotzdem immer noch bestimmte Kontaktpersonen in Quarantäne schicken können und damit verhindern, dass sie möglicherweise eine Infektion übertragen.

Der zweite Aspekt ist das Nachvorneschauen. Wenn wir davon ausgehen, dass es sogenannte Supersprading-Events gibt — also Events, bei denen eine Person oder wenige Personen sehr, sehr viele andere anstecken –, dann ist natürlich klar, dass wir diejenigen, die vielleicht ansteckend sind, in Quarantäne schicken. Diese Personen können dann nicht mehr Ausgangspunkt für ein neues Quell-Cluster sein und können dann auch nicht mehr größere Veranstaltungen besuchen, falls die überhaupt noch zulassen sind.

Grafische Darstellung der Cluster-Bildung. / Quelle: COVID-19-SG, UpCode Academy Pte. Ltd., Singapur

Der entscheidende Punkt ist, dass wir aufpassen müssen, dass wir gar nicht erst solche Situationen schaffen, in denen ein solches Quell-Cluster entstehen kann.

Es gibt Gesundheitsämter, die kommen an ihre Grenzen. Trotzdem werden sie immer noch Gutes leisten können — auch wenn sie nicht mehr alle Ausbrüche nachvollziehen können.“

4. Wie sieht die Zukunft der Corona-Warn-App? Wie hilfreich ist die neue Symptom-Funktion?

Die Corona-Warn-App bewertet das RKI als hilfreiches Werkzeug. Sie verzeichne inzwischen an die 20 Millionen Downloads und soll kontinuierlich weiterentwickelt werden.

„Die Corona-Warn-App bringt einen Mehrwert“, so Wieler weiter. „Je mehr Menschen sie nutzen, desto besser ist es. Sie können sicher sein, dass wir kontinuierlich über Weiterentwicklungen nachdenken. Wir haben dabei auch den Datenschutz zu beachten und sind dazu in einem sehr intensiven Austausch, unter anderem mit den Verantwortlichen des Bundesdatenschutzes.

Die Länder, in denen die App nutzbar ist, werden ebenfalls ausgeweitet. Die EU-Interoperabilität wird stärker vorangetrieben.

Wir haben jetzt auch die Möglichkeit, Symptome einzugeben. Das ist eine gute Weiterentwicklung: Die App warnt ja aufgrund eines komplizierten Algorithmus, der eine bestimmte Wahrscheinlichkeit einer Infektionsübertragung mit einberechnet. Je mehr Symptome wir also von den Menschen bekommen, die positiv getestet wurden, desto genauer können wir den Algorithmus einstellen.”

Download-Links der Corona-Warn-App (iOS, Android):

5. Sollte man die Strategie zum Schutz von Risikogruppen ändern?

Ein in der Öffentlichkeit ebenfalls viel diskutiertes Thema ist der Schutz der Risikogruppen. Wie viel Schutz ist möglich? Wie viel Schutz sollte verpflichtend verordnet werden? Ein Grenzbereich zwischen Infektionsschutz und Ethik.

Ein Vertreter des stärkeren Schutzes von Risikogruppen ist in Deutschland der Virologe Prof. Hendrik Streeck. In der ARD-Talkshow „Maischberger der Woche“ hat er kürzlich seine Strategieempfehlung betont, das es nun — vor dem Hintergrund von Gesundheitsämtern, die an ihre Grenzen kommen — Zeit sei, den Fokus stärker auf den Schutz von Risikogruppen zu legen. Er habe mehr Sorge davor, dass nach einem Corona-Ausbruch in einem Altersheim plötzlich 50 Menschen im Krankenhaus behandelt werden müssen, als dass sich 150 junge Raver infizieren und nur milde Symptome zeigen.

Eine Strategieänderung lehnte RKI-Präsident Lothar Wieler — ohne den Streeck-Vorschlag direkt zu nennen — in allgemeiner Form und deutlich ab:

„Ich denke jeder, der sich ein wenig weiterbildet und sich die Zahlen, Landkarten und Berichterstattungen anschaut, weiß, dass unser Land mit der bisherigen Strategie wirklich sehr, sehr gut gefahren ist. Das heißt, es gibt gar keinen Anlass, die Strategie zu wechseln. Der Schutz der vulnerablen Gruppen ist immer ein wichtiger Teil gewesen und er wird auch immer ein wichtiger Teil bleiben. Alle drei genannten Säulen müssen nach bestem Wissen und Gewissen weitergeführt werden. Von unserer Seite werden wir nicht dazu auffordern, dass eine der drei Säulen gegenüber anderen — weniger oder stärker — bearbeitet wird.

Warum sage ich das so klar? Ich möchte es noch mal sehr deutlich machen: Wir leben in einer demokratischen, offenen Gesellschaft. Darauf können wir sehr stolz darauf sein. In unserer Gesellschaft leben viele verschiedenen Altersgruppen in einem hohen Maße zusammenleben. Das bedeutet: Es kann ja gar nicht gelingen, dass man bestimmte Gruppierungen explizit von diesem gesellschaftlichen Leben konsequent über viele Monate ausblendet. Das geht nicht. Wir haben — auch im Frühjahr — genügend Diskussion gehabt, wie es ist, wenn die alten Menschen ihre Kinder und Enkel oder die Enkel ihre Großväter und Großmütter nicht mehr sehen.

Dieser Gedanke, der vielleicht rein theoretisch begründet ist, ist praktisch weder umsetzbar, noch vertretbar. Wir werden alle drei Pfeiler nach wie vor und nach bestem Wissen und Gewissen halten. Wenn sich Jungen dafür mit Verantwortung tragen, dass sich das Virus ausbreitet, wird natürlich auch die Ansteckungsgefahr für die Alten und Hochaltrigen steigen. Das ist doch klar

Wir machen keinen Strategiewechsel, sondern wir werden alles dafür tun, dass wir alle diese drei Pfeiler nach bestem Wissen und Gewissen weiterfahren.“

6. Wie sinnvoll sind eine Ü50-Inzidenzkennzahl oder ein Inzidenzgrenzwert von 100?

RKI-Präsident Lothar Wieler äußerte sich außerdem zu Vorschlägen weiterer Inzidenzkennzahlen.

Eine Ü50-Inzidenzkennzahl hatte Prof. Dr. Christian Drosten zwei Tage vor dem Presse-Briefing des RKI per Twitter weiter in den öffentlichen Fokus gerückt. Über diese Kennzahl könne die Infektionslage bei den Über-50-Jährigen abgebildet werden.

Diese Ü50-Kennzahl ist auch nach Ansicht des RKI-Präsidenten sinnvoll und sei bereits auf der RKI-Webseite vorhanden. Der Gedanke von Christian Drosten sei nach dem Verständnis des RKI-Präsidenten vor allem im Zusammenhang mit der Auslastung der Intensivbetten zu verstehen, da Über-50-Jährige ein höheres Risiko hätten, schwer zu erkranken: „Wir erleben leider immer wieder, dass es Leute gibt, die sagen ,Oh, wir haben noch so viele Intensivbetten frei. Da ist ja noch Kapazität. Und bis die ausgelastet ist, ist es nicht so schlimm’.

Das ist aus meiner Sicht aus zwei Gründen zynisch: Einerseits haben wir hier im Institut und sicher auch die Mehrheit der Deutschen das Ziel, dass natürlich möglichst wenig Menschen an der Krankheit versterben und schwer erkranken. Wenn wir nur auf die Zahlen der Intensivbetten schauen, dann schauen wir ja drei bis vier Wochen zurück. Das ist, glaube ich, auch der Gedanke von Herrn Drosten.

Wenn ich Ihnen heute sage ,Wir haben 11.000 Infizierte’, dann haben sich diese Menschen vor ungefähr 5, 6 oder 7 Tagen infiziert. Wir gucken mit den aktuellen Meldezahlen also immer nach hinten.

Wenn wir hingegen in die Betten gucken, in denen die Schwerkranken auf den Intensivstationen liegen, dann gucken wir sogar 3 bis 4 Wochen nach hinten. Wir sind dann also viel zu spät.

Das Virus ist ein biologisches Agens. Das kann man nicht einfach heute stoppen und dann hat man morgen einen Effekt. Den Effekt sehen wir erst in 2 bis 3 Wochen.“

Deshalb, betont der RKI-Präsident, könne sein Institut die Kennzahl der Über-50-jährigen durchaus noch besser ausarbeiten und darstellen. Sie gebe das aktuelle Bild etwas besser wieder, als die Zahlen der im Krankenhaus liegenden, schwer erkrankten Patienten — teilweise mit Beatmung.

Von einer in der Öffentlichkeit diskutierten Anpassung der Inzidenzwerte auf die Zahl 100 hält Lothar Wieler hingegen wenig. Die bayrische Landesregierung hatte am Donnerstag unter anderem diesen Wert zusätzlich in ihre Corona-Verordnung aufgenommen.

„Wenn Sie irgendwo Hochwasser haben“, erklärte Lothar Wieler, „dann legen Sie ja auch nicht plötzlich die Hochwassermarke höher. Ihre Dämme haben nur eine gewisse Höhe. Wir sollten uns schon weiter an die bisherigen Werte halten, weil sie unsere Maßnahmen wirklich stark beeinflussen. Wenn es dann drüber geht, müssen wir eben versuchen, stärker dagegen zu arbeiten. Aber dadurch, dass man Grenzwerte anpasst, vermindert man ja nicht die Problematik.

7. Hat Deutschland genug verfügbare Intensivbettenkapazitäten?

Bei der Auslastung der Intensivbetten sieht das RKI derzeit noch keine Warnsignale:

„Wir haben in Deutschland rund 30.000 Intensivbetten“, sagt Lothar Wieler zur Gesamtkapazität. „Wir haben dafür das Divi-Register — also das deutsche Intensivmedizin- und Internisten-Register. Diese Zahlen sind auf unserer Website in unserem Tagesbericht immer vorhanden.

Es sind im Moment noch einige tausend Betten frei. Etwa 1.000 Betten sind zurzeit mit COVID-Patienten belegt. Aber es gibt natürlich auch Intensivbetten, die mit anderen Patienten belegt sind. Man kann die 30.000 Betten also nicht nur auf die COVID-Patienten beziehen.”

Ein ähnliches Bild zeichnete der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Georg Baum, zwei Tage nach dem RKI-Presse-Briefing zur Intensivbetten-Auslastung in Deutschland. Über 8000 Intensivbetten seien noch frei — 10.000 weitere könnte frei gemacht werden:

8. Begründen sich steigende Positivraten automatisch auf vermehrten Tests? Ist die Sterberate wirklich gesunken?

Eine weltweit immer wieder diskutierte Frage: Wie beeinflussen steigende Testzahlen die Positivrate an Getesteten? Insbesondere im vergangenen Sommer gab es während des Anstiegs der täglichen Tests, mancherorts eine Verunsicherung in der Bevölkerung, ob dadurch nicht auch automatisch die Zahl der positiv Getesteten nach oben getrieben werde. Kurz: Mehr Test, mehr Positive. Man müsse sich deshalb über einen Infektionsanstieg vielleicht nicht wundern, weil die Zahlen wohl miteinander korrelieren sollten.

RKI-Präsident Lothar Wieler tritt diesen Aussagen deutlich entgegen. In Deutschland seien diese Aussagen nicht haltbar, da die Zahlenentwicklung mittlerweile eindeutig einen anderen Schluss zulassen:

„Es gibt immer wieder Einlassungen, es würden in Wirklichkeit gar nicht mehr Menschen erkranken oder positiv sein, sondern wir testen nur mehr. Das ist nicht korrekt.

Wir verzeichneten zu den Höchstzeiten im März und April rund 9 Prozent der positive Testungen. Inzwischen sieht es folgendermaßen aus: Wir hatten in der Woche 31 — also vor etwa 11 bis 12 Wochen — rund unter 1 Prozent der Getesteten, die positiv waren.“

Die Testanzahl sei über den Sommer zwar teilweise bis auf mehr als eine Million Mal in der Woche erhöht worden. Seit vielen Wochen bleibe die Testanzahl mittlerweile aber sehr konstant, während der Anteil der positiv Getesteten auf über 3 % angestiegen sei. „Das heißt also: Der Anteil der Positiven steigt“, so Lothar Wieler.

Anzahl der SARS-CoV-2- Testungen in Deutschland (Stand 20.10.2020, 12:00 Uhr). / Quelle: RKI

„Ganz interessant ist dabei: Der Anteil steigt auch in allen Altersgruppen. Wir hatten in der letzten Woche bei denen Altersgruppen zwischen 15 und 59 Jahren inzwischen Raten, die bis zu 4 Prozent positiv waren. Bei den Kleinsten — also den Kindern von 0 bis 4 Jahren — oder auch bei den Hochaltrigen über 80 sind es auch schon fast 2,5 Prozent. Die Raten steigen also. Das ist nicht bedingt durch die erhöhte Anzahl der Testungen, da wir in den letzten Wochen wöchentlich immer recht ähnlich in der Anzahl getestet haben. Trotzdem steigen die Raten.“

Außerdem unterscheide sich Pandemiesituation im Frühjahr dieses Jahres stark von der aktuellen Situation. Deshalb seien die Sterberaten gesunken, erklärt Lothar Wieler. Allerdings bedeute dies nicht, dass das Virus ungefährlicher werde.

„Im Frühjahr wurden wir von diesem Virus relativ schnell überrascht. Wir hatten zu dem Zeitpunkt zwar das Wissen, dass das Virus in unser Land kommt, aber insbesondere die Protektion war noch nicht so gut gegeben, wie das jetzt der Fall ist — also der Schutz derjenigen, die besonders empfänglich sind, wie zum Beispiel Alte, Hochaltrige und Menschen mit Vorerkrankungen.

Jetzt sei das Geschehen ganz anders: Inzwischen haben die Altenheime und Krankenhäuser ihre Hygienekonzepte verbessert. Auch sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wachsamer und achtsamer geworden. Dieses Virus wird also insgesamt nicht mehr so schnell in diese Institutionen hineingetragen. Dadurch werden die Alten, die Hochaltrigen und auch die Risikopatienten besser geschützt.

Man habe über den Sommer und — langsam ansteigend — bis in den Herbst gesehen, dass sehr viele junge Menschen das Virus in sich tragen und infiziert werden. Dadurch sei der Anteil der Alten vorübergehend geringer gewesen sei. Er steige jetzt aber wieder.

Im Umkehrschluss bedeute dies: Je weniger sich die Bevölkerung an die AHA- und L-Regeln halten würden, desto mehr Menschen würden sich trotzdem in den Altenheimen infizieren. Man könne diese Altersgruppen nicht komplett voneinander trennen.

Am Mittwoch habe man sich im Robert-Koch-Institut noch Zahlen über schwere, akute, respiratorische Infektionen in Krankenhäusern angeschaut. Die Zahlen seien relativ überschaubar gewesen, aber trotzdem sehr interessant: „Etwa 10 Prozent der Fälle innerhalb einer Woche, die wir mit Lungenentzündung betrachtet haben, sind Menschen zwischen 15 und 30 Jahren — also junge Menschen. Davon hatten 40 Prozent eine COVID-19-Infektion und waren mit diesem Virus erkrankt. Die Jungen sind zurzeit diejenigen, die diesem Virus am meisten ausgesetzt sind.

Wöchentliche Anzahl der akuten, respiratorischen Infektionen (SARI-Fälle, ICD-10-Codes J09 — J22) sowie Anteil der Fälle mit einer zusätzlichen COVID-19-Diagnose (ICD-10-Code U07.1!) unter allen SARI-Fällen mit einer Verweildauer, Daten aus 71 Sentinelkliniken. / Quelle: RKI-Lagebericht vom 22. Oktober 2020.

„Wir sehen jetzt also wieder ein langsames Eindriften dieses Virus in diese einzelnen Institutionen“, so Wieler weiter. „Aber wir können diesen Eintrag durch unser eigenes Verhalten reduzieren. Die Hospitäler, die Altenheime und die Pflegeheime sehen es heutzutage viel schneller, wenn das Virus reinkommt, da wir inzwischen deutlich mehr Testungen haben und die Teststrategien dort ebenfalls angepasst wurden. Wir können das Virus also effektiver aus den Altenheim raushalten. Aber: Die Zahlen werden zunehmen. Je mehr Menschen sich — vor allem im privaten Umfeld — anstecken, desto mehr tragen sie es natürlich auch in ihre Familien.“

Aktuelle Teststrategie in Deutschland (Stand: 14. Oktober 2020). / Quelle: Bundesministerium für Gesundheit

Das seien die beiden entscheidenden Unterschiede zum Frühjahr: ein mittlerweile langsameres Diffundieren in allen Schichten der Gesellschaft und eine bessere Vorbereitung der Institutionen auf das Virus.

„Wir müssen uns im Alltag einfach verantwortungsbewusst verhalten“, so Wieler.

9. Gibt es Möglichkeiten zur Eindämmung, die noch nicht ausgeschöpft wurden, um Forderungen nach einem zweiten Lockdowns zuvorzukommen?

Während der Fragerunde der Journalisten antwortete Lothar Wieler auch dazu, welche weiteren Stellschrauben es noch gäbe, die einen Lockdown verhindern könnten. Dabei ging es nicht um die Frage, ob das RKI einen Lockdown erwarte, sondern welche Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft seien.

„Wir haben eine Reihe von Werkzeugen, die sicherlich allen Entscheidungsträgern bekannt sind“, betonte Lothar Wieler die wichtige Nutzung der Maßnahmemöglichkeiten. „Diese Werkzeuge müssen alle konsequent eingesetzt werden. Dazu gehört natürlich auch ein bundeseinheitliches Vorgehen, ausgerichtet an bestimmten Kennzahlen. Ich denke, da ist immer noch Luft nach oben, das auch wirklich durchzuführen.

Wir haben den Werkzeugkasten und damit können wir das schaffen. Aber er muss eben auch konsequent angewendet werden, denn mehr als diesen Werkzeugkasten haben wir eben auch nicht. Wir müssen ihn so lange optimal ausnutzen, bis wir im nächsten Jahr irgendwann Impfstoffe haben.

Seit kurzem haben wir in unserem Werkzeugkasten auch ein weiteres Werkzeug — die Antigentests, die wir dafür einsetzen können, dass wir mehr Informationen bekommen und mit denen wir noch schneller reagieren können, wenn es darum geht, infizierte Patienten aus dem Verkehr zu ziehen und zu isolieren.

Antigentests (Schnelltests) als dritte Teststrategie neben PCR-Tests und Antikörpertests. / Link-Quelle: YouTube-Channel Die Welt.

Der Werkzeugkasten ist also kontinuierlich gewachsen. Deshalb haben wir eigentlich immer mehr die Chance, es zu schaffen, die Virusausbreitung zu verlangsamen. Wir müssen es eben nur wirklich konsequent anwenden. Dazu gehört auch, dass ich in den Bereichen, wo Menschen zusammen kommen, insbesondere in privaten und öffentlichen Innenräumen, ganz klar eine Maskenpflicht empfehle.

Sehr wichtig ist auch eine verbindliche Einheitlichkeit, weil wir die Menschen damit mitnehmen. Diese verbindliche Einheitlichkeit muss mit bestimmten Grenzen verbunden sein.

Der eine Aspekt ist dabei eine entsprechende Kontrolle, ein Nachgehen, dass diese Dinge auch eingehalten werden. Der andere Aspekt sollte sein, dass man bestimmte Obergrenzen für Zusammenkünfte wirklich definiert. Je einheitlicher die sind, desto besser ist es natürlich.

Es gibt zu diesem Thema die schon genannte COSMO-Studie. Das ist wirklich eine hervorragende Studie, die übrigens auch weltweit ziemlich einmalig ist. Es gibt meines Wissens kein anderes Land, dass so viele Datenpunkte über die ganzen Monate immer repräsentativ über die Bevölkerung erfasst hat und weiter erfassen wird. Wir wissen aus der Studie, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland die Maßnahmen nachvollziehen kann und trägt. Das ist nach wie vor der wichtigste Aspekt, weil wir ja diejenigen sind, die das Virus weitertragen.

Insofern denke ich, dass diese Verbindlichkeit zur Einhaltung und klare Grenzwerte Maßnahmen sind, die wir fahren müssen. Und es ist unheimlich wichtig, dass die Menschen verstehen, dass sie sich schützen können, wenn man sich an diese Regeln hält. Wenn dann trotzdem noch jemand im Bekanntenkreis infiziert wird, kann man sagen „Okay, ich habe den zwar getroffen, aber ich habe mich an die Regeln gehalten und deshalb ist mein Infektionsrisiko sehr, sehr stark verringert worden“.

Das Bewusstsein ist vorhanden — auch, wenn ich das persönliche Gefühl habe, dass es manchmal immer noch Missverständnisse dazu gibt, was genau diese AHA- und L-Regeln bedeuten. Wahrscheinlich können wir noch mehr aufklären und noch mehr tun.

Es gibt Menschen im beruflichen Umfeld, die können bestimmten Situation nicht entgehen. Trotzdem passen sie auf. Aber im privaten Umfeld kann man kritischen Situationen hingegen einfacher entgegen. Diese Verantwortung und Wachsamkeit müssen wir einfach alle mittragen.

Zu den einzelnen Maßnahmen, die zusätzlich empfehlenswert sind: Maskenpflicht in den Räumen, in denen man sich anstecken kann. Dazu gehört auch der öffentliche Personennahverkehr. Die Daten sprechen zwar dafür, dass dort nicht viel passiert, aber das heißt ja nicht, dass nicht trotzdem etwas Zusätzliches geschehen kann und muss. Verpflichtendes Maskentragen in Geschäften ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel ein wichtiger Punkt.”

Weiterhin solle man die Anzahl der Menschen begrenzen, die in bestimmten Räumen sein können. Vor allem Innenräume, in denen viele Menschen zusammenkommen.

Auch Maßnahmen im Thema Lüftung seien sinnvoll. Es sei eine gute Richtung, dass „Stellschrauben über Investitionsprogramme“ von der Politik gesetzt wurden, „sodass man bestimmte Räume — also zum Beispiel auch in Schule — besser lüften kann.“

10. Ergibt ein sogenannter “Circuit-Breaker” in Deutschland aktuell einen Sinn?

Die Idee von zeitlich begrenzten und starken Shutdowns, also von sogenannten „Circuit-Breakern“, wurde in Deutschland vor allem von Christian Drosten und dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach zur Diskussion gestellt. Hintergrund ist eine entsprechende Studie aus Großbritannien.

Das Robert-Koch-Institut empfehle solche Shutdowns zwar nicht, allerdings ließ Lothar Wieler diese Möglichkeit grundsätzlich in der Diskussion: „Das ist ganz abhängig von der lokalen Situation. Das müssen die Gesundheitsämter entscheiden, ob es in der jeweiligen epidemiologischen Situation Sinn ergibt.“

11. Sind Schulen Pandemietreiber? Wie ist die unterschiedliche Umsetzung mancher Empfehlungen an Schulen zu bewerten?

Dass manche Bundesländer oder Schulen die Empfehlungen des RKI zum Schulalltag nicht umsetzen, hält Lothar Wieler nicht für hilfreich.

„Ich bedauere es natürlich”, unterstrich der RKI-Präsident seine Enttäuschung. „Das ist ja gar keine Frage. Die Empfehlungen machen wir ja nach besten Wissen und Gewissen. Wir haben sie auch schon mehrfach angepasst, um sie auch lebbarer zu machen. Und natürlich machen wir die Empfehlungen in der Hoffnung, dass sie auch umgesetzt werden.”

Orientierende Schwellenwerte/Indikatoren für infektionspräventive Maßnahmen in Schulen in Deutschland. Die Tabelle entstammt der RKI-Empfehlung “Präventionsmaßnahmen in Schulen während der COVID-19-Pandemie” vom 12. Oktober 2020. / Quelle: RKI

Dem RKI seien Schulen bekannt, die diese Empfehlungen umsetzen. Detaillierte Zahlen seien im Robert-Koch-Institut allerdings nicht bekannt. Die Umsetzung der Maßnahmen hingen von dem Zusammenspiel zwischen Schulleitungen und Gesundheitsämtern ab.

Handreichung des Das Umweltbundesamt (UBA) für die Kultusministerkonferenz (KMK) am 23. September 2020 zum richtigen Lüften in Schulen. / Quelle: Umweltbundesamt (UBA).

„Wir haben mittlerweile schon mehrere 100 Ausbrüche in Schulen gesehen”, berichtete Wieler weiter. „Während die Schulen bei der Influenza wirklich ein richtiger Treiber von Grippewellen sind, ist das bei der COVID-19-Erkrankung nicht der Fall. Aber es ist natürlich auch klar: Je mehr Menschen sich in Deutschland infizieren, desto größer ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass Infektionen auch in Schulen auftreten. Wir wissen, dass es Ausbrüche in Schulen gibt. Deshalb ist es aus unserer Sicht sehr wichtig, dass die Empfehlungen eingehalten werden.”

12. Sind Veranstaltungsöffnungen unter hohen Sicherheitsanforderungen denkbar?

Indoor-Events mit hoher oder sogar voller Publikumsauslastung sind für den RKI-Präsidenten weiterhin kein Thema. In Deutschland gab es dazu im August die Studie „Restart19” des Universitätsklinikums Halle, deren Ergebnisse die Forscher am 29. Oktober ab 10 Uhr live auf dem YouTube-Channel der Universität präsentieren werden. 4.000 Freiwillige besuchten dazu ein Konzert von Tim Bendzko in der Quarterback Immobilien Arena in Leipzig. Unter anderem mussten die Fans während der ganzen Veranstaltung FFP2-Atemschutzmasken tragen.

Ebenfalls gibt es in Deutschland vereinzelt örtliche Veranstalter, die das Besuchen ihrer Indoor-Events — in Abstimmung mit den örtlichen Behörden — nur mit FFP2-Masken erlauben oder als Upgrade empfehlen, sofern eine Alltagsmaskenpflicht besteht.

„Unsere Empfehlungen sind ja ziemlich klar: Wir wünschen, dass die Menschen einen bestimmten Abstand halten, Hygieneregeln einhalten und Alltagsmasken tragen. Die angesprochenen Eventkonzepte (Anm. d. Red.: mit hoher oder voller Gästeauslastung und stark schützenden Masken) empfehlen wir so aber nicht.

Wenn das vor Ort teilweise erlaubt wird, dann ist das die Entscheidung der lokalen Behörden vor Ort, die es zulassen und auch entsprechend überprüfen müssen. Das ist eine Entscheidung, die das Robert-Koch-Institut nicht treffen kann.

Wir treffen Empfehlungen nach bestem Wissen und Gewissen, wie wir dafür Sorge tragen, dass sich ein Virus nicht von Mensch zu Mensch überträgt. Das ist unser Business. Wie das umgesetzt wird, ist dann eine Aufgabe für die Entscheider vor Ort.

13. Droht ein Kontrollverlust? Was bedeutet eine unkontrollierte Ausbreitung für Deutschland?

Weiter gab Lothar Wieler einen Überblick, mit wie vielen Infizierten man rechnen müsse, falls das Gesundheitssystem und der Politik das Infektionsgeschehen entgleiten sollte und das Virus nicht mehr zu kontrollieren sei:

„Es gibt verschiedene Modellierungen. Eine der Modellstudien haben wir auch selber im April publiziert. Das Konzept der Herdenimmunität ist in manchen Ländern — mal mehr, mal weniger — versucht worden und es ist gescheitert. Es gibt niemanden mehr, der sich ernsthaft damit befasst, der das Prinzip der Herdenimmunität weiter verfolgt. Also das Prinzip, man lässt es laufen, in der Hoffnung, dass soundso viele Menschen infiziert werden und dann eine Immunität ausbilden.

Erwartete Gesamtzahl von Infektionen (linke Achse) abhängig vom Typ der Saisonalität (von oben nach unten), dem Anteil der vorbestehenden Immunität (links/rechts) und dem Anteil erfolgreich isolierter Erkrankter (untere Achse). Dabei wurde zusätzlich angenommen, dass 60 Prozent der bereits infizierten Kontaktpersonen dieser Fälle erfolgreich quarantänisiert werden konnten. / Quelle: Studie “Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland”, RKI

Der Grund dafür ist, dass wir einfach viele Krankheitsverläufe haben, die schwer verlaufen. Wir sprächen von Hunderttausenden von Krankheitsverläufen. Millionen von Infizierte wären das dann hier. Das ist gar keine Frage, wenn man es laufen ließe. Darum ergibt das keinen Sinn.

Der zweite Punkt: In der Bevölkerung haben wir eben keine Immunität — ganz im Gegensatz zur Grippe, bei der viele Menschen eine Grundimmunität haben. Die Krankheitsverläufe wären also schwer. Bei 80 Millionen Deutschen wären 50 oder 60 Millionen Deutsche betroffen, wenn nur 75 Prozent infiziert wären. Wenn Sie dann dieselben Zahlen zugrunde legen, die wir zurzeit haben — ungefähr 380.000 Infizierte und etwa 10.000 Tote, dann kann man sich das ja ausrechnen. Die Zahlen der Infizierten und Toten wären sehr, sehr hoch.

Es gab im Frühjahr Staaten, die die Kontaktnachverfolgung aufgegeben haben. Dazu gehörte zum Beispiel Schweden. Dazu gehörte zum Beispiel Großbritannien. Das sind Länder, die so überwältigt wurden, dass sie das eingestellt haben. Das hat sich also nicht als der richtige Weg erwiesen.“

14. Sind extrem hohe Fallzahlen, wie aktuell in manch anderen europäischen Staaten, in Deutschland noch vermeidbar?

Verhaltenen Optimismus zeigte der RKI-Präsident zur Frage, ob es in Deutschland bald ebenfalls noch höhere, nicht wünschenswerte Fallzahlen, wie in anderen europäischen Staaten geben könnte:

„Es gibt zum einen Anzeichen, die dafür sprechen, dass wir das Virus aufhalten können. Wir können es schaffen, wenn wir uns an die Regeln halten. So wie den ganzen Sommer über und in den letzten Monaten.“

Europakarte mit kombinierten Werten aus 14-Tages-Inzidenz (Fallzahl pro 100.000 Einw.) und Positivrate vom 22. Oktober 2020. / Quelle: ECDC

Deutschland habe gerade im intensiv-medizinischen Bereich mehr Kapazitäten als viele europäische Nachbarn: „Wir können schon noch mehr Personen behandeln, wenn es denn sein müsste. Unser Bereich des öffentlichen Gesundheitsdienstes ist immer noch stark im Vergleich zu manch anderen Ländern — auch, wenn der Bereich in den letzten Jahrzehnten stiefmütterlich behandelt wurde und nicht genügend ausgestattet wurde — also so wie wir uns das beim RKI im Bereich des Public Health wünschen.

Es muss also nicht so sein, dass wir in fünf Wochen da stehen, wo jetzt die Nachbarstaaten stehen. Aber es kann sein.“

Damit das nicht geschehe, müsse sich die gesamte Bevölkerung verantwortlich verhalten. Dann könne Deutschland die hohen Zahlen, die man derzeit in vielen europäischen Staaten sieht, noch verhindern.

15. Warum dauert die Impfstoffentwicklung so lange? Wann ist ein Impfstart realistisch?

Zum Thema der Verfügbarkeit eines Impfstoffes gibt es zahlreiche Aussagen: Die EU-Kommission hat einen möglichen Start für Anfang 2021 verlauten lassen. Die WHO spricht von Mitte 2021. Die US-Regierung sagt, dass bis April alle Amerikaner geimpft sein könnten.

Wann ein Impfstart in Deutschland realistisch sein könnte und wie lange es dauern könnte, bis alle Menschen geimpft sind, die eine Impfung nachfragen, dazu äußerte sich der Präsident des Robert-Koch-Instituts sehr viel vorsichtiger:

„Das ist eine Frage, die immer wieder kommt, die wir alle wirklich nicht richtig beantworten können. Wir gehen alle davon aus, dass im nächsten Jahr Impfstoffe in Deutschland zugelassen werden und dass dann auch geimpft wird. Wann das genau sein wird, das können wir nicht wissen.

Es gibt eine Reihe von sehr vielversprechenden, klinischen Studien. Wenn man einen Impfstoff zulässt, gibt es zunächst drei Phasen. In der ersten Phase schaut man in sehr, sehr kleinen Patienten-/Probandengruppen, ob der Impfstoff Nebenwirkung hat. Das Prozedere läuft bis in die dritte klinische Phase. Dort werden mehrere 10.000 Menschen geimpft. Man beobachtet diese Menschen eine gewisse Zeit, um zu sehen, ob die Impfung wirkt, aber auch nochmal, ob es Nebenwirkungen gibt.

Wenn alles optimal läuft, dann laufen diese Studienphasen wie geplant in einem bestimmten Zeitraum gut durch. Anschließend werden sie ausgewertet. Wenn herauskommt, dass sie wirken und keine Nebenwirkung haben, dann erfolgt die Zulassung.

Die Phasen der Impfstoffentwicklung. / Quelle: YouTube-Channel youknow.

Sollten in diesen klinischen Studien aber Nebenwirkungen auftreten, dann werden sie angehalten. Das haben wir ja schon mehrfach gesehen. Bei zwei klinischen Studien gab es Ereignisse, bei denen geprüft werden musste, ob sie auf die Impfung zurückzuführen waren oder auf Ereignisse, die zeitlich parallel mit der Impfung zusammenhingen. Die Studien werden dann angehalten und sie erst später weitergeführt.

Ich bin aber sehr optimistisch, dass einige dieser Studien positiv verlaufen werden. Dann könnte es im nächsten Jahr zugelassene Impfstoffe geben. Manche Impfstoffhersteller produzieren jetzt bereits Impfstoffe — quasi im Vorgriff, mit der Hoffnung und mit dem Optimismus, dass sie später angewendet werden. Diese Impfstoffe werden ein Gamechanger sein. Damit können wir auf Dauer diese Pandemie kontrollieren.

Außerdem kommt es darauf an, wie viele Dosen dann wirklich zugelassen werden. Das sind so viele Unbekannte, dass ein Impfstart nicht genau vorhersagbar ist.

Wenn die Impfstoffe da sind, gibt es eine bestimmte Menge, die zum Beispiel für Deutschland zur Verfügung stehen. Es muss natürlich genau geschaut werden, wen man zuerst impft. Genau dazu gibt es gerade intensive Planungen von der ständigen Impfkommission. Das werden natürlich zum einen diejenigen sein, die ein hohes Risiko haben, angesteckt zu werden, und es sind zum andern diejenigen, die ein besonders hohes Risiko haben, dass sie schwer erkranken.

Je nachdem, wie viel Impfstoff wo vorhanden ist, wird er dann logistisch so verteilt, dass die Menschen so schnell wie möglich geimpft werden können.

Zusätzliche Informationen

Dieses Presse-Briefing des Robert-Koch-Instituts vom 22. Oktober 2020 wurde ebenfalls von zahlreichen Medien aufgezeichnet. Das RKI verweist auf seinem Twitter-Account auf die Aufzeichnung der ARD-Tagesschau:

Falls dir dieser Artikel gefallen hat, registriere dich gerne hier, um meine nächsten Beiträge zu erhalten.

In meinem Medium-Profil findest du weitere Artikel und Übersetzungen von mir.

Viele Informationen und Alltagsfragen rund um das Coronavirus bekommst du auch in der Facebook-Gruppe „Pro Team Dr. Drosten“, die ich als Moderator zusammen mit weiteren Gesundheitsexperten und Journalisten unterstütze.

Englischsprachige Coronavirus-Artikel meines geschätzten Kollegen Tomas Pueyo findest du hier. Weitere deutsche Übersetzungen seiner Artikel findest du im Medium-Profil von Christina Mueller.

--

--

Torsten Cordes
Torsten Cordes

German journalist, editor and author since 1991 /// Publishing, Selfpublishing, Coronavirus /// My Amazon author page: https://amzn.to/37T9bgv