SXSW 2021 | South by Southwest

XR — Headliner der SXSW 2021

Die virtuelle Realität ist der Corona-Gewinner

Eva Deinert
BR Next

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Die SXSW befasst sich seit Jahren mit VR, der virtuellen Realität, vor allem in den Ausstellungen rund um die Konferenz. Doch die können in diesem Jahr natürlich nicht stattfinden. Trotzdem ist das Thema omnipräsent: Zum einen, weil ein Teil der Konferenz in Social VR stattfindet, zum anderen, weil in vielen Sessions über XR gesprochen wird.

Illustration: BR

Virtuelles Austin: So ganz verzichten wollte man nicht auf das Vor-Ort-Erlebnis. Deshalb haben die Macher:innen auf der Plattform VR Chat einen Teil von Austin und der Venues nachgebaut. Darin finden Konzerte, Networking-Treffen, Talks und Film-Screenings statt.

Hier kann man andere Menschen von überall auf der Welt auch treffen. Verabredungen sind allerdings trotzdem schwierig: Denn aus Performance-Gründen passen nur 40 Menschen gleichzeitig in einen Eventspace. Dann wird automatisch ein neuer Server generiert. Im Zweifel befindet man sich also in einem anderen Austin als die Kolleg:innen.

Davon abgesehen vermittelt die SXSW in den verschiedensten Sessions den Eindruck: XR ist der große Pandemie-Gewinner. XR wird als Oberbegriff für Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) gebraucht.

Mein Eindruck ist, dass in den USA stärker als bei uns in Deutschland mit Beginn der Pandemie Workshops, Konferenzen, kollaboratives Arbeiten, Musik-Events und Sportveranstaltungen in die virtuelle Realität verlegt wurden. Ziel: das immersive, gemeinsame Erleben in Zeiten von Social Distancing irgendwie zu ersetzen.

XR im Sport

Ein gutes Beispiel dafür ist der Bereich Sport mit seiner großen Fangemeinde: Die NBA zum Beispiel gab sich mit der Aussicht auf Geisterspielen nicht zufrieden und suchte nach einer Lösung, die Fans zurück in die Arena zubringen.

Nicht nur der Fans wegen, auch den Basketballstars ging die Atmosphäre ab. Die Lösung: Leinwände projizieren eine Auswahl von Zuschauern auf die Ränge wie in einer großen Videokonferenz, ihre Reaktionen werden per Lautsprecher ins Stadion übertragen. Da kann dann auch ein Barack Obama in der ersten Reihe neben Shaquille O‘Neal auftauchen.

Andere Beispiele für XR im Sport sind 3-D-Aufnahmen von Stars, die dir als Hologramm den richtigen Abschlag beim Golf oder den perfekten Freistoß im Fußball beibringen. Oder auch Ergebnistabellen und Spielzüge aus der Lieblingssportart, die via AR auf dem Wohnzimmertisch erscheinen können.

Hologramme als 3-D-Erlebnis

Dank Holographie konnten im letzten Jahr auch einige Musiker in VR performen (z.B. beim Burning Man Festival) oder via Augmented-Reality-App bei ihren Fans erscheinen.

Die Metal-Band Palaye Royal hat zum Album-Release die AR-App “Curse of Calypso” für ihre Fans rausgebracht. Ob Konzert oder Sport — dahinter steht immer das Ziel, das gemeinsame Erlebnis, das Stadionerlebnis, das Konzertgefühl irgendwie durch die Pandemie zu retten.

HBO: Das große XR-Fanvergnügen

Dass Social VR da viele Möglichkeiten bietet, zeigt auch ein Beispiel von HBO, die gleich drei Events in VR-Chat veranstaltet haben, wie sie in ihrem sehr sehenswerten all female Panel erzählen.

Für die Experience „Lovecraft Country: Sanctum“ haben sie 100 VR-Brillen an Fans, Journalist:innen und Kulturkritiker:innen verschickt. Ein Wagnis, wie sie selber sagen. Denn noch ist das Onboarding in VR nicht intuitiv genug.

Also vertrauten sie darauf (und bauten ihr Support-Team aus), dass diese 100 Leute, ein starkes Wifi haben, das Headset laden, ihr Passwort nicht vergessen, mit der Technik zurechtkommen und am Ende tatsächlich bei den VR-Events (Kunstausstellung, Performance und großem Serienfinale mit Konzert) in Form von Avataren auftauchen. Das Ganze wurde live auf YouTube gestreamt für alle anderen Fans.

Screenshot aus der Präsenation von HBO zeigt Tiere in Augmented Reality
Screenshot von HBO

Die AR App „My Daemon“ zur HBO-Serie „His Dark Materials“ ist ebenfalls aus einem Fan-Bedürfnis entstanden. Social Listening ergab, dass sich die Fans einen eigenen Dämon wie in der Serie wünschen.

Das sind Tiere, die die Protagonisten der Serie begleiten und eine Art Seelenverwandte:r sind. Mit der AR-App können nun alle (in den USA) ein Krafttier haben, das einen begleitet und auf einen aufpasst.

“Aufpasst”, weil: Die App greift auf andere Apps wie „Health“ (auf iPhones) oder auch Spotify zu. So weiß dein Krafttier, in welcher Stimmung du gerade bist oder erinnert dich daran, dich mal wieder zu bewegen. Die Idee dahinter war, etwas für die körperliche und geistige Gesundheit während der Pandemie zu tun.

Weitere Gedanken zum HBO-Panel hat auch meine Kollegin Katie Nachbar in ihrem Überblicks-Artikel zu Trends, Innovationen und Future Panels einfließen lassen.

VR auf der Rücksitzbank

Trotz aller Innovationen gibt es nach wie vor ein Problem mit der virtuellen Realität. So manche:n ereilt beim ersten Mal in VR Übelkeit, weil das Bewegen im Virtuellen nicht zum physischen Erleben in der realen Welt passt.

Das Phänomen wird als „motion sickness“ bezeichnet und ist nichts anderes als Reiseübelkeit, die man vom Lesen im Auto kennt. Genau diesen Effekt macht sich das Startup Holoride (aus Deutschland übrigens) zunutze. Sie kreieren VR-Erlebnisse für die Rücksitzbank.

Die Bewegung des Autos — wie anfahren, bremsen, abbiegen — wird direkt in die Story übersetzt, sodass Sehen und Fühlen wieder zusammenpassen. Die drei Ingenieure benutzen dafür Technik aus dem Autonomen Fahren. Ihr Beispiel „Bride of Frankenstein“ ist eine Horror-Experience, die sie mit Universal umgesetzt haben.

XR und Barrierefreiheit

Die Möglichkeiten, die XR bieten — einfach unabhängig von Zeit und Raum gemeinsam oder allein immersives Erleben — bedeutet nicht, dass XR barrierefrei ist, wie das Panel „The Future is accessible: Accessibility in XR“ eindrücklich gezeigt hat.

Angefangen bei der Hardware: Einige Brillen können nicht gleichzeitig mit Hörimplantaten genutzt werden. Auch sind Hörgeschädigte auf Untertitel angewiesen. Wie diese in der VR-Anwendung platziert werden, sodass sie weder den Spielfluss stören noch Dinge überdecken, ist gar nicht einfach.

Zudem brauchen Hörgeschädigte eine Art Übersetzung für Soundeffekte, die als Touchstones durch die Story leiten oder den Blick lenken sollen, wie z.B. Klopfen an der Tür.

Hinzu kommt, dass viele VR-Games für Menschen programmiert sind, die stehen können. Eine simple wie effektive Art, solche Probleme beim Innovieren gar nicht erst aufkommen zu lassen: Teams diverser aufstellen und auch Feedback von Menschen mit körperlichen Einschränkungen einholen.

XR — das große Ding now and forever?

Was sind also die wichtigsten Learnings aus den Diskussionen und Projektvorstellungen und warum sollten wir im BR nach der Entwicklung der VR-Anwendung “Die Rettung” und der AR-App “Die Befreiung” dranbleiben?

„Virtual wont go away even post pandemic“

  • Neue Zielgruppen: Fans, sei es im Sport, Musik oder Film/Serien wollen ihrer Sache nah sein. Das treibt sie an. Nicht (unbedingt) der Wunsch, sich neue Technologien zu erschließen. Hier ist die Pandemie der Teilchenbeschleuniger, mit dem VR und AR in Zielgruppen vordringen, die sich vorher nicht damit beschäftigt hätten, vermutlich jahrelang nicht damit in Berührung gekommen wären.
  • Neues globales Erleben: Fans können ihrem Star so nah sein wie nie, sogar über Landesgrenzen und Zeitzonen hinweg. Plötzlich ist die räumliche Trennung kein Hindernis mehr. Die Frage für die Zukunft ist also: Wieso sollten Konzerte nur an einem Ort für ein lokales Publikum stattfinden und nicht als hybrides Erlebnis für alle zugänglich sein?
  • Neuer Mobilfunkstandard: 5G war in den Sessions, die ich gesehen habe, früher oder später immer ein Thema. Dann wird nicht nur alles schneller, sondern auch vieles viel leichter möglich, denn:
  • Neuer Zugang dank WebAR oder WebVR: Einmal im 5G-Netz muss sich niemand mehr eine App runterladen, die viel Datenvolumen frisst und Speicherplatz verbraucht. Der Zugang zu AR und VR Experiences ist dann nur einen Klick über den Browser entfernt.

Und was können wir im BR als Medienhaus aus den Vorträgen lernen?

  • Social-VR-Plattformen finden immer mehr Verbreitung — sei es durch Konferenzen wie die SXSW (in VR Chat) oder Festivals wie das Glastonbury Festival (in Sansar) oder Burning Man (in Altspace VR). Und die Möglichkeit, ein Event virtuell nachzubauen, ist spannend.
  • Es ist immer gut, seine Zielgruppe zu kennen. Mit Social Listening Tools, die wir im BR schon nutzen, um regionale Themen frühzeitig zu erkennen, können wir auch gut in Fangemeinden hineinhören, um Bedürfnisse zu identifizieren. Es muss also nicht immer die aufwändige quantitative Befragung oder das qualitative Interview sein.
  • Ein Hindernis bzw. eine Herausforderung kann sich im Innovationsprozess auch als USP entpuppen (siehe Holoride und motion sickness).
  • “Inclusion must be intentional.”: Barrierefreiheit ist kein Add-on. Wirklich barrierearm wird ein Produkt erst, wenn von Anfang an das Team divers aufgestellt ist oder man sich bei jedem Entwicklungsschritt (vom Prototyp über Piloten bis zum finalen Produkt, die idealerweise sowieso iterativ mit Nutzer:innen getestet werden) das Feedback von Menschen mit Beeinträchtigungen einholt.

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Eva Deinert
BR Next
Writer for

Creative Producerin, Innovationsmanagerin und Digitaljournalistin, Bayerischen Rundfunk @BR_NEXT